CHEMIE • KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
I
n der obersten Schublade einer Tief-
kühltruhe am Instituto de Química
der Universität von São Paulo lagern
zahlreiche Knollen Rote Bete, von Eis-
kristallen überzogen. Sie gehören dem
Chemiker Erick Leite Bastos. Den
43-Jährigen interessieren jene Mole-
küle, die der Roten Bete ihre Farbe verleihen.
Betalaine heißen die Pigmente, die unter ande-
rem auch Fliegenpilze färben und zahlreiche
Blüten gelb, orange, rosa oder rot erscheinen
lassen. Bastos allerdings ist es gelungen, mit
ihnen eine Farbe zu erzeugen, die Betalaine in
der Natur nicht haben und der der Mensch seit
Jahrtausenden nachjagt: Blau.
Bastos ist einer von zahlreichen Wissenschaft-
lern, die auf der Suche nach einem natürlichen
blauen Lebensmittelfarbstoff sind. In Algen,
Blüten und Beeren, Bakterien und Pilzen suchen
sie nach einem blauen Pigment, das der Mensch
verzehren kann. Wer es findet, wird reich werden:
Ein solches Pigment wäre Hunderte Millionen
Euro wert. Denn Lebensmittelriesen wie Coca-
Cola, Mars oder Nestlé wollen auf natürliche
Farbstoffe umstellen. Und bislang gibt es keinen
guten natürlichen blauen Farbstoff, der sich für
Lebensmittel eignet.
Zwar existieren nicht viele Lebensmittel, die
der Mensch blau gefärbt isst. Doch es sind ge-
nug, damit sich die Jagd lohnt: Süßigkeiten wie
Kaugummis und Getränke etwa. Aber auch für
Kuchenglasuren, Joghurts, Puddings und man-
che Müslis wird Blau benötigt. Als er, erzählt
Bastos, das erste Mal eine wissenschaftliche
Veröffentlichung über die Suche nach einem
blauen Lebensmittelfarbstoff gelesen habe,
habe er gedacht: »Das ergibt keinen Sinn. Ich
würde nie etwas Blaues essen.« Einige Monate
später war er für eine Konferenz in den USA
und sah zufällig zwei Jugendliche, die ein knall-
blaues Eis aßen. Da änderte er seine Meinung.
Es gibt noch eine zweite Funktion, die blauer
Farbstoff für die Lebensmittelindustrie hat. »Wir
brauchen Blau, um alle anderen Farben des Spek-
trums zu machen«, sagt Richard van Breemen,
Chemiker an der Oregon State University in
Corvallis. »Wir können uns durchmogeln, indem
wir Grün mit Gelb oder Rot mischen, aber wenn
man Blau nutzt, gibt das ein viel kräftigeres und
breiteres Farbspektrum.«
Bisher muss all das mit künstlichen Stoffen
bewerkstelligt werden. Im Wesentlichen gibt es
drei Möglichkeiten: Der wohl am häufigsten
eingesetzte Farbstoff ist Brillantblau, E133.
Das Pigment steckt zum Beispiel in blauen
M&Ms oder der Potenzpille Viagra. Der zweite
Farbstoff ist E132 oder Indigotin, eng ver-
wandt mit dem Jeansfarbstoff Indigo. Und
dann gibt es noch Patentblau V, E131. Mit
dem Molekül werden Glasuren und zahlreiche
Lebensmittel gefärbt. Es ist das Blau des Blue-
Curaçao-Likörs. Und ein Problem für die Le-
bensmittelindustrie, denn Patentblau V ist in
der Europäischen Union zwar zugelassen, in
Norwegen und den USA aber nicht. Forscher
vermuten, dass es Allergien auslösen kann.
»Wir sind in der Blau-Ära«, sagt
ausgerechnet der Erfinder der lila Kuh
Ein solcher Verdacht ist ein Albtraum für die
Nahrungsmittelgiganten. Schließlich verhindert
er, dass sie eine Käuferschicht erreichen, die auf
Chemie, Gentechnik und Pestizide im Essen ganz
besonders sensibel reagiert: die Mütter und Väter,
die man in den Bio-Supermärkten der Groß-
städte trifft. Bürgertum, Akademiker – eine Ziel-
gruppe, die Geld hat und bereit ist, es auszugeben,
insbesondere, wenn es um den eigenen Nach-
wuchs geht. Eine Schicht, die auch keine Pro-
bleme mit exotischem Superfood hat. Man lebt
global und isst auch so, zumindest wenn die
Produkte mit dem Versprechen daherkommen,
natürlich und gesund zu sein. Nur das Beste für
das Kind.
Dass Blau bei der Nahrung Potenzial hat,
darauf deutet die Popularität der Farbe in anderen
Bereichen hin. Eine Online-Umfrage von YouGov
in Deutschland, China, Australien und sieben
anderen Ländern ergab 2015, dass Blau in allen
zehn Ländern die beliebteste Farbe ist, bei Män-
nern wie Frauen. Internetfirmen wie Face book,
Twitter oder Skype setzen auf die Trendfarbe. In
Kino spots verkündete dieses Jahr ein deutsches
Gebäude-Management-Unternehmen: »Blau ist
Wow.« Der Farbpsychologe Harald Braem, einer
der Erfinder der lila Milkakuh, sagt: »Wir sind
eindeutig in der Blau-Ära.«
Die Farbpsychologie ist zwar nicht gerade
eine exakte Wissenschaft, und viele Stu dien
sind mit Vorsicht zu genießen. Doch manche
Eigenschaften werden Blau seit je zugeschrie-
ben: Ruhe, Verlässlichkeit, Entspannung.
Durchaus attraktive Eigenschaften in einer
Fortsetzung auf S. 42
WISSEN
Artwork: Lydia Sperber und Maria Rohweder für DIE ZEIT
VON KAI KUPFERSCHMIDT
ist die beliebteste aller Farben. Doch gesundes blaues Essen gibt es noch nicht, weil der Farbstoff in der Natur
kaum vorkommt. Jetzt suchen Forscher eine natürliche Lösung und hoffen auf ein Milliardengeschäft
ANZEIGE
- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42 41
Unser
Hamburg
Eure
Zukunft
Unsere
Uni
Vielfältig,nachhaltig,exzellent.
Jetz tbewerben unter
http://www.uni-hamburg.de/stellenangebote
Exz
elle
nzu
nive
rsitätHamburg