Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

New York steht still, übervoll sind die
U-Bahnen. Es ist jener Montag, an dem Greta
Thunberg vor den Vereinten Nationen redet;
auch Angela Merkel und Donald Trump sind
in der Stadt. In der 57. Straße führt Andrew
Wylie die berühmteste Literatur-Agentur der
Welt. In seinen Räumen soll das Treffen mit
Salman Rushdie stattfinden. Aber der Autor
steht im Stau. Kommt etwas später. Ruft: »Ach,
ich liebe diese Stadt.«


DIE ZEIT: Herr Rushdie, ist dies ein ungewöhn­
licher New Yorker Tag?
Salman Rushdie: Sehr. Mein neues Buch behaup­
tet: Alles kann passieren. Und das stimmt. Ich
staune heute über dieses junge Mädchen, das noch
vor einem Jahr allein auf kalten Stufen saß ...
ZEIT: ... Greta Thunberg, die in Schweden ihren
Schulstreik fürs Klima begann ...
Rushdie: ... und nun die Welt aufrüttelt. Sie ist
meine Heldin. Sie ist angstfrei, und jedes Wort,
das sie sagt, ist korrekt, sie übertreibt ja nicht. Wir
müssen über mein Buch reden.
ZEIT: Machen wir gleich. Während der Rest der
Welt über die Klimakrise und Greta spricht, reden
die USA über Donald Trump. Heute wegen der
Ukraine.
Rushdie: Das ist sein Geheimnis, darum ist er an
der Macht, das ist das Einzige, was er kann: Er
sorgt dafür, dass er im Zentrum jedes Gesprächs
steht. Er bestimmt die Nachrichtenzyklen und
unser Denken, wo er ist, ist kein Raum für andere.
Das Trump­Spiel spielt keiner besser als Trump.
ZEIT: Ist das Land hypnotisiert? Oder hysterisch?
Rushdie: Beides. Aber ich lese das alles nur, sehe
nicht mehr fern, ich kann sein Gesicht und seine
Stimme physisch nicht ertragen.
ZEIT: Was hat er in den bisherigen drei Jahren aus
den USA gemacht?
Rushdie: Das werden wir 2020 sehen, wenn ge­
wählt wird. Ist die Trump­Gesellschaft nun Ame­
rika? Oder ist das, was wir gerade erleben, eine
Verwirrung, und wir können auch wieder welt­
offen und human sein? Worum es geht, ist ganz
klar: Ruth Bader Ginsburg ...
ZEIT: ... jene legendäre Richterin am Supreme
Court, die 86 Jahre alt ist und krebskrank war ...
Rushdie: ... wird nicht ewig leben. Wenn sie stirbt
und Trump die Zeit bekommt, einen konservati­
ven Nachfolger zu benennen, sind wir alle ver­
dammt: Dann werden die Bürgerrechte, die Frau­
enrechte, der Naturschutz endgültig zurück­
gedreht sein. Dann sind wir in den Fünfzigerjah­
ren. Was vielleicht die Zeit war, als Amerika »great«
war.
ZEIT: Wissen Sie eigentlich, welches Amerika Do­
nald Trump meint, wenn er »Make America great
again« sagt?
Rushdie: Jenes der Sklaverei? Das des Bürger­
kriegs? Das Amerika, in dem Frauen nicht wählen
durften? War es ... vor Bob Dylan (lacht)? Alle
Geschichten von goldenen Zeitaltern sind Mär­
chen. Es ist in Großbritannien und Indien genau­
so: In England geht es um die goldene Zeit vor
den Ausländern und um maritimen Ruhm; in In­
dien um die glorreiche Ära der Hindus, ohne die
vielen Muslime.
ZEIT: Wir reden über die drei Länder Ihres Lebens.
Rushdie: Drei Städte meines Lebens eher: New
York, Bombay, London. Alle in Großbritannien
wissen, dass die Abkoppelung von Europa eine ka­
tastrophale Schwächung bedeuten wird, und sie
machen es dennoch. Während in Indien Narendra
Modi die Säkularisierung rückgängig macht und
den Hindus sagt, dass sie den Muslimen überlegen
seien. Von diesen dreien werden am ehesten die
USA ihren Weg korrigieren.
ZEIT: Ist Trump schlagbar?
Rushdie: Oh ja, sehr schlagbar. Das heißt nicht,
dass er verliert, denn die Demokraten sind gut
darin, sich selbst zu schlagen. Aber ich glaube,
dass die linken, jungen, progressiven Wähler von
Bernie Sanders zu Elizabeth Warren überlaufen
werden und dass sie die Kandidatin wird. Sie
macht das gut: Sie redet nicht über Trump. Sie
hat ihren Slogan: »Ich habe einen Plan.« Weil sie,
ganz nüchtern, wirklich für alles einen Plan hat.
Trump hasst das. Aber wir sollten über das Buch
reden.
ZEIT: Machen wir gleich, wirklich. Haben Sie mal
eine Trump­Veranstaltung besucht?
Rushdie: Nein, er macht mich ja krank.
ZEIT: Er redet viel zu lang, geradezu sowjetisch,
wiederholt sich, verspricht sich. Die Leute stehen
auf, gehen raus, trinken ein Bier, trinken noch ein
Bier, und nach einer halben Stunde ist die Halle
halb leer. Hinterher aber bleiben einige Slogans
hängen.
Rushdie: Trump ist das Werk der Medien – sie ver­
dichten, was eigentlich wirr ist. Die Medien haben
Trump erschaffen und ermöglicht, er ist der erste
Reality­TV­Präsident.
ZEIT: Herr Rushdie, Ihr neuer Roman Qui-
chotte ...
Rushdie: (lacht)
ZEIT: ... ist ein Buch über die Gegenwart, über
Drogen­Epidemien, Migration, Einsamkeit, Pa rallel­
universen und auch über das Ende unserer Zeit;
wie kamen Sie darauf?
Rushdie: Ich habe ein Buch über das Ende jener
Welt geschrieben, in der ich mein ganzes Leben
lang gelebt habe; der Welt, die mit dem Ende des
Zweiten Weltkriegs begann. Diese Welt war sieben


»Aufgeben ist Faulheit«


Der Schriftsteller Salman Rushdie spricht über seinen neuen Roman »Quichotte«,


die Wut seines Vaters und die Bedrohung, die sein Leben überschattet


Salman Rushdie, 72, wurde in Bombay geboren. Er lebt in New York; dort fand auch dieses Gespräch statt

Foto: Mike McGregor/Contour/Getty Images

Jahrzehnte lang stabil. Jetzt ist unser Bild dieser
Welt zu Scherben zerschlagen, und wir wissen
nicht, was kommt.
ZEIT: Sie proklamieren nicht das Ende der Welt ...
Rushdie: ... nein, ich sage nur, diese Welt endet ...
ZEIT: ... doch bei der Lektüre erscheint es mög­
lich, dass wir tatsächlich vor einer Apokalypse
stehen.
Rushdie: Wenn wir den Klimawandel zu meinem
Szenario addieren: Ja, natürlich kann es dann
auch das Ende der Welt sein. Was früher in 50
Jahren geschah, passiert heute in fünf Minuten.
Vielleicht können wir uns aber auch durch ein
Portal retten und in eine andere, rettende Dimen­
sion der Erde treten.
ZEIT: Hm. Vielleicht.
Rushdie: Heute ist das ein Märchen, morgen wird
es einen British­Airways­Service in eine Parallel­
welt geben. Na ja, nicht British Airways, eher
Lufthansa.
ZEIT: Warum Quichotte, warum die Verneigung
vor dieser literarischen Figur?
Rushdie: Ich wollte aus meiner vertrauten Welt
heraustreten, etwas Neues machen, auch aus New
York herausgehen, wo meine letzten Bücher spiel­

ten. Ich habe Don Quichotte 2015 wiederentdeckt,
und sofort fielen mir eine ganz eigene Reise und
eine eigene Hauptfigur ein, nicht so melancholisch
wie Cervantes’ Don Quichotte, optimistischer,
fröhlicher.
ZEIT: Ihr Protagonist ist ein Vertreter, der fernseh­
süchtig ist und sich in einen TV­Star verliebt. Eine
Liebesreise beginnt. Sie schreiben über die Ab­
gründe der Popkultur.
Rushdie: Junk­Kultur, Müll, ja, all das, was unsere
Köpfe verklebt.
ZEIT: Wie gehen Sie einen umfangreichen Roman
an? Bauen Sie ihn wie ein Haus?
Rushdie: Es hat nichts mit Hausbau zu tun, es gibt
kein Fundament und kein Dach. Es ist eher wie
eine riesige Wollkugel, aus der drei Fäden heraus­
gucken; und an denen ziehst und ziehst du, und
erst am Ende siehst du, was das ist. Als ich jünger
war, habe ich viel mehr Architektur gebraucht,
Zeichnungen, Pläne. Heute möchte ich manchmal
keine Ahnung haben, was passiert. Toni Morrison
sagte mir einst, dass sie dem Moment der Schöp­
fung vertrauen wolle; Miles Davis wusste auch
nicht, wohin es ihn führte, wenn er die Trompete
an die Lippen setzte. Der Autor, der das am extrems­

ten macht, ist Michael Ondaatje: Er beginnt mit
ganz wenig, manchmal nur einem Gedanken, und
dann führt es ihn über viele mühsame Jahre
irgendwohin.
ZEIT: Das kann zu Trägheit führen, dem Gedan­
ken: Ach, das passt schon.
Rushdie: Darf es nicht. Hemingway sagte mal: Du
musst einen guten Bullshit­Detektor haben. Das
heißt: Du musst selbst dein skeptischster Leser sein.
Und konstant korrigieren und wegwerfen. Ich habe
dann ja auch noch eine Erzählerfigur entwickelt,
und eigentlich mochte ich das nie: ein Buch über
einen Autor, der das Buch schreibt, das wir gerade
lesen. Aber jetzt wollte ich es testen, und ich glaube,
es macht das Buch besser: Diese Reise zwischen Le­
ben und Kunst verändert den Autor, und das wollte
ich erzählen. Dieser imaginative Akt erfasst das
wahre Leben, die eine Story verwandelt die andere.
ZEIT: Sie schreiben über Medikamentenmiss­
brauch.
Rushdie: Fentanyl ist wuchtiger als Heroin; es ist
das Schmerzmittel, das Prince umgebracht hat.
ZEIT: Das Thema kennen Sie gut.
Rushdie: Ja, meine kleine Schwester ist vor zwölf
Jahren gestorben. Sie war 14 Jahre jünger als ich,

erst 45. Sie lebte in Karatschi, Pakistan. Ein plötz­
licher Herzinfarkt, und dann war sie tot. Als wir es
zu verstehen versuchten, fanden wir heraus, dass
sie abhängig von Schmerzmitteln gewesen war, ihr
Badezimmer war eine regelrechte Apotheke. Wir
haben uns unfassbar dumm gefühlt; es ist deine
Schwester, du solltest es wissen und sie retten.
Aber das taten wir nicht ... konnten wir nicht ...
ach, verdammt, taten wir nicht. Distanz macht so
etwas mit Migrantenfamilien.
ZEIT: Distanz gefährdet Familien?
Rushdie: Manchmal, ja. Meine Familie litt unter
Trennungen – und früher unter meinem Vater.
ZEIT: Mögen Sie erzählen?
Rushdie: Oh, zweierlei war schlimm: der Alkohol,
der seine Persönlichkeit veränderte. Jede Nacht
wurde er wütend. Und außerdem wusste er nicht,
wie er damit umgehen sollte, dass seine Kinder
größer wurden und eigene Wünsche hatten.
ZEIT: Er schickte Sie von Indien nach England.
Rushdie: Und nach meinem Abschluss in Cam­
bridge bin ich nicht zurückgekehrt, weil ich die
Distanz zu ihm wahren wollte. Das ging so bis zu
seinem letzten Monat, bis zur Krebsdiagnose. Da
erst bin ich heimgefahren, und in diesen letzten
Wochen konnten wir einige unserer komplizierten
Gefühle überwinden und etwas ganz Einfaches
wiederentdecken: Liebe. Für diese Phase des Hei­
lens bin ich dankbar.
ZEIT: Sie sind 72 Jahre alt. In welchem Stadium
Ihrer Karriere sehen Sie sich selbst?
Rushdie: Selbstbewusster als zu Beginn: In Panik
verfalle ich nicht mehr, ich weiß inzwischen, dass
am Ende ein Buch herauskommen wird, wenn ich
hart arbeite. Was schwieriger geworden ist: etwas
zu schreiben, das ich noch nie geschrieben habe,
denn Kopien sind nie gut – selbst Hemingway
konnte Hemingway nicht kopieren. Ich habe 19
Bücher veröffentlicht, davon 14 Romane, und ich
weiß, dass ich vermutlich keine weiteren 19 Bü­
cher schaffen werde. Ich sollte also etwas tun, das
wirklich, wirklich wichtig ist. Keine Zeit ver­
schwenden, wachsam sein.
ZEIT: Heißt das, dass Sie ständig schreiben,
täglich?
Rushdie: Na ja, ich habe zuletzt im Rhythmus von
zwei Jahren meine Bücher veröffentlicht, schnel­
ler als früher. Ich kann nicht schreiben, wenn ich
auf Lesereise bin, morgens um fünf aufstehen
muss. Ansonsten aber konzentriere ich mich, ja.
Ein Buch mit Essays wird wohl dann erscheinen,
wenn Quichotte die Luft ausgeht, vermutlich
nächstes Jahr.
ZEIT: 20 Bücher sind eine runde Zahl, ein Lebens­
werk.
Rushdie: In Indien rundet man nicht auf, Zahlen
müssen ungerade sein: darum 1001 Nacht, 1000
Nächte wären absurd.
ZEIT: Also kommt mindestens noch ein Roman,
mindestens 21 Bücher.
Rushdie: Ich schreibe, solange ich etwas zu sagen
habe und mich nicht selbst langweile. Ich denke
jedenfalls nicht an Rücktritt, wenn Sie das meinen


  • nur Philip Roth ist zurückgetreten, erstaunlich,
    nicht wahr?
    ZEIT: Er hatte das Gefühl, dass er nie wieder so
    gut sein würde, wie er mal gewesen war. Und dann
    las er einfach und genoss es.
    Rushdie: Ja, er genoss es, und dann starb er. An
    seinem Computer klebte ein Zettel: »Die Qual ist
    vorbei.«
    ZEIT: Lesen Sie Kritiken?
    Rushdie: Quer und in Eile. Daumen hoch, Dau­
    men runter, das möchte ich wissen.
    ZEIT: Für Quichotte gab es bislang viele sehr gute
    und einige scharfe Kritiken sowie eine Vernichtung:
    In der New York Times Book Review stand »ein Autor
    im freien Fall«. Was dachten Sie da?
    Rushdie: Ich dachte: »Fuck you.«
    ZEIT: Schmerzhaft?
    Rushdie: Für drei Sekunden, ja. Warum so bösar­
    tig? Zum Glück gab es ein paar Tage später eine
    lobende Titelgeschichte im selben Blatt. Damit
    hatte ich gewonnen.
    ZEIT: Wir haben noch nicht über die Fatwa ge redet.
    Rushdie: Gut.
    ZEIT: Ich habe auch nur eine Frage: Wie blicken
    Sie heute auf die Jahre der ständigen Todes­
    drohung, dieses Lebens unter Personenschutz
    zurück?
    Rushdie: Ich denke nicht viel daran, das ist wie
    bei einer Krankheit, wenn sie vorbei ist. Ich habe
    jene Jahre durchgestanden, weil ich optimistisch
    war; ich habe immer geglaubt, dass ich da he­
    rauskomme. Aufgeben ist Faulheit. Diesen Glau­
    ben habe ich immer: Die Geschichte verläuft
    nicht auf Schienen, sie macht dramatische
    Sprünge. Die Geschichte bleibt niemals, wie sie
    jetzt ist.
    ZEIT: Die Geschichte lehrt, dass es allerdings auch
    schlechter werden kann.
    Rushdie: Oh ja, schlechter kann es zweifellos im­
    mer werden.


Das Gespräch führte Klaus Brinkbäumer

Salman Rushdie: Quichotte.
Roman; aus dem Englischen
von Sabine Herting;
C. Bertelsmann Verlag,
München 2019; S. 464, 25,– €,
als E­Book 19,99 €


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42 FEUILLETON 57

Free download pdf