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ehäbig wie eine Schäfchen-
wolke breitet sich die Sah-
ne in der Teetasse aus.
Nicht umrühren, sagt Frau
Dresen vom Heimatver-
ein, »wir wollen die Zeit
stillhalten«. Gemeinsam
mit zwanzig anderen Urlaubern hebe ich
meine Tasse und nippe an dem Gebräu. Ein
bisschen herb für mein Empfinden und
entschieden zu süß. »Bitte nachschenken«,
bestimmt Frau Dresen. Drei Tassen sollen
wir mindestens trinken, das gebiete die
Höflichkeit. Die Zeit verstreicht wirklich
langsam, bis das ostfriesische Teeritual
glücklich vollzogen ist. Ist das jetzt, frage ich
mich, der Geschmack von Norderney?
Die zweitgrößte ostfriesische Insel hat
eine lange und stolze touristische Geschich-
te: das älteste Seebad an der Nordsee. Kur-
haus, Theater und Spielcasino verbreiten
Gründerzeit-Glamour. Statuen in den Parks
erinnern an Kaiser Wilhelm und Heinrich
Heine, zwei der illustren Gäste. Millionen
Besucher kommen alljährlich zum Heil-
baden, Schwimmen oder Wandern. Doch
ich bin wohl der Erste, der vor allem hier ist,
um die örtliche Küche kennenzulernen.
Für Gourmets ist der Nordwesten
Deutschlands ein weißer Fleck. Man denkt
an Kohl und fette Würste, an Kaffee mit
Rum darin und eben an den Tee. Über ihn
sagte schon Heine, dass er sich »von gekoch-
tem Seewasser nur durch den Namen unter-
scheidet«. Das Essen fand der Dichter nicht
einmal der Rede wert. Auch Frau Dresen im
Heimatmuseum kann da nicht viel anprei-
sen. Sie weist in einen Raum, der eine Koch-
nische von anno dazumal zeigt. Bitte schön,
»upgedrögt Bohnen!«. Über dem Herd hängt
eine Schnur, an der eingeschrumpelte Scho-
ten aufgefädelt sind. »Die weichte man im
Winter ein und hatte einen Eintopf.«
Das Kontrastprogramm erlebe ich am
selben Abend. Erster Gang: Melone mit
Schinken, aber nicht so, wie man das kennt.
Wassermelone liegt geräuchert und de-
hydriert wie ein blutrotes Carpaccio auf
dem Teller. Der lokale Seeluftschinken in
strohhalmdünnen Röllchen steuert einen
Salzhauch bei, zusammen mit Bergkäsespä-
nen und Taggiasca-Olive. So geht es durch
das Menü – große Kochkunst auf der klei-
nen Insel. Das Restaurant hat diesen Som-
mer eröffnet, als Teil eines Hotels mit dem
sprechenden Namen New Wave. Sascha
Lissowksy, der Geschäftsführer und Küchen-
chef, war mal Sous-Chef im La Vie, einem
Weltklasserestaurant im beschau lichen
Osnabrück. Norderney hatte er sich noch
ruhiger vorgestellt. »Aber wir haben hier im
Haus einen ziemlichen Menschenauflauf.«
Und was noch erstaunlicher ist: Mit seinem
Anspruch steht Lissowsky nicht allein. Alle
paar Monate eröffnet ein neues Gourmet-
lokal oder eine spannende Bar. »Man
könnte fast meinen«, sagt der Koch, »Nor-
derney will das neue Sylt werden.«
Den Mann, der das ins Rollen brachte,
treffe ich am Oststrand, eine halbe Stunde
mit dem Rad von Norderney-Stadt. Klaus
Aldegarmann wollte surfen gehen; doch sein
Kumpel hat ihn versetzt. Darum hat er Zeit,
mich herumzuführen. Ich erkenne ihn
leicht: ein energischer Typ – und dreimal so
alt, wie Surfer es üblicherweise sind.
»Hier«, sagt er, »wird die Insel erst so
richtig schön.« Wir spazieren vom Sand-
strand über ein hölzernes Treppchen zum
Gasthaus Weiße Düne. Ein munteres Lokal
mit Hüttencharme. Auf der Karte stehen
Herings-Burger und Hummer vom Grill.
Aldegarmann läuft in die Küche, als wäre er
der Chef. In gewissem Sinne war er das auch
mal. Er regierte die Insel als Bürgermeister in
den frühen 2000er-Jahren. Damals wurde
Norderney touristisch unabhängig vom Land
Niedersachsen. Und musste schmerzlich er-
fahren: Der Kurbetrieb machte Verluste.
Schuld daran war der »Pommestourismus«,
wie der Altbürgermeister das nennt. Am Ost-
strand, erfahre ich, haben sich Cluburlauber
im Ballermann-Stil besoffen. Der Gasthof
war eine üble Kaschemme mit tabak-
verfärbten Gardinen. »Da wurde Bier von
Aldi als Fassbier verkauft.«
Aldegarmann warb um Pächter, die
höhere Ziele hatten. Er sah gutes Essen als
Mittel, um manierlichere und kaufkräfti-
gere Gäste anzulocken. »Die Gastrono-
mie«, sagt er heute, »hat uns geholfen, die
Insel zu retten.« Wird Norderney wirklich
das neue Sylt? Die Frage hört er wohl öf-
ter; ich komme kaum bis zum »-t«. Nein,
wird es nicht, auf keinen Fall. »Die Quali-
tät da ist ein Vorbild, aber wir haben eine
völlig andere Insel.«
Eine etwas karge Insel, denke ich auf
dem Heimweg. Bunt für den Spaziergän-
ger, der immer neue Varianten von Gelb
und Grün, von Sand und Gräsern ent-
deckt. Blass für den Koch, der hier drau-
ßen nach Inspiration sucht. Kochkunst,
das heißt ja auch, Geschmacksbilder von
dem zu zeichnen, was einem Heimat ist.
Aber woraus? Ich sehe keine Felder, keine
Weiden. Hier wird nichts angebaut.
Ich denke daran, als ich in der Stadt zu
Abend esse. Das Hotel Seesteg ist der ex-
klusivste Teil des erneuerten Norderney: einst
nur eine Lagerhalle, jetzt ein Luxushotel am
Wasser mit dem einzigen Sternerestaurant
der ostfriesischen Inseln. Ich koste Zucchini-
blüte mit Lachsforellen-Farce, dekonstruier-
ten Matjes Hausfrauenart, Taube mit Stein-
pilzen und Topinambur, geschmorte Apri-
kose mit Graupen und Sanddorn. Eindrucks-
voll, das alles. Aber stammt auch nur eine der
vielen Zutaten von hier?
Nein, sagt Markus Kebschull, der Kü-
chenchef. Nicht mal der Sanddorn, der zwar
hier wächst, »doch da pflückt man stunden-
lang und holt sich blutige Finger«. Auch
nicht der Queller vorhin am Matjes. Der
kommt aus Frankreich, obwohl das Watten-
meer voll davon ist. Aber im Nationalpark
wildern – was gäbe man da für ein Beispiel?
Am schlimmsten, erzählt Kebschull, ist es
beim Fisch. »Ich sehe die Kutter aus meinem
Fenster, und keiner von ihnen legt an.« Die
Boote beliefern die Niederlande. Die Insel
hat schon lange keine Berufsfischer mehr.
Das Küchenwunder von Norderney
kommt mir wie ein Gastspiel vor: zugezoge-
ne Köche verarbeiten eingeführte Produkte.
Ab und an hat Kebschull Glück. Dann ver-
kauft ihm jemand hiesiges Reh oder ein paar
Hagebutten. Ansonsten behilft er sich. »Das
Deichlamm kommt immerhin aus der Nähe.
Da kann ich den Gästen erzählen, es hat die
Insel gesehen.« Wenn es an heimischer Ware
fehlt, warum nimmt er nicht wenigstens hei-
mische Rezepte? Kebschull, ein Franke, atmet
durch. Wie sagt man das diplomatisch? »Im
Norden betrachten sie Essen als Nahrungs-
aufnahme, um die Arbeitskraft zu erhalten.«
Die echte Inselküche, er habe sie in seinen
sieben Jahren hier nicht gefunden. Einen
Tipp gibt er mir dann doch. Die Gaststätte
Schmuggler – »da essen die Norderneyer«.
Ich finde sie am Stadtrand beim alten
Fischereihafen. Auf der Fahrt dahin: Hotel
Garni, Pension Deichblick, »Zimmer frei«-
Schilder. Der Schmuggler ist ein düsteres
Lokal mit getönten Scheiben. Ich setze mich
unter einen der Afri-Cola-Schirme auf der
Terrasse. »Wat gibbet?«, fragt der Kellner.
»Labskaus«, sage ich. Die Gäste sind fast alle
betagt. Aber die Liebe zur Nahrungsauf-
nahme scheint ungebrochen. Ich staune,
welche Mengen Scholle mit Speck in zierli-
chen Damen verschwinden. Ich selbst schaf-
fe vom Labskaus kaum die Hälfte, obwohl er
viel besser schmeckt, als ich gedacht hatte.
Kein Brei, wie man ihn meist bekommt,
sondern beinahe bissfest. »Musste stampfen«,
sagt der Koch, als ich ihn lobe. Nicht nur die
Kartoffeln und die roten Bete, auch das
Pökelfleisch – alles per Hand zerdrückt. Er
zeigt auf seinen Oberarm mit dem tätowier-
ten Anker. »Da kommen die Muckis her.«
Es ist schwer, sich auf diese Insel einen
Reim zu machen. Sie hat Orte wie die Milch-
bar, wo schicke Leute sich abends drängen,
um bei Weißwein und Gourmet-Milchreis
den Sonnenuntergang zu sehen. Schlangen
stehen aber auch vor der Metzgerei neben
dem Haus Marlies, wenn es als Mittagstisch
Rouladen mit Rotkraut gibt. Und die Sphä-
ren berühren sich. Selbst in den besten Res-
taurants wird zweigleisig gekocht. Im Seesteg
hob ich gerade das Blattgold vom Hummer-
tatar, als die Kellnerin zwei Riesenteller auf
dem Nebentisch ablud: Lammhüftsteak und
Fritten, dazu ein schönes Glas Kiba.
Wie das alles zusammenpasst, verstehe
ich erst, als Felix Wessler es mir erklärt, der
Küchenchef im Bistro Esszimmer. Er ist seit
zwölf Jahren auf der Insel, was ihn trotz
seiner Jugend zum Veteranen der Norder-
neyer Nouvelle Cuisine macht. »Als ich kam,
haben die Pensionen noch mit Farb-TV
geworben. Und die Cluburlauber sind in
pinken Bademänteln durch die Straßen ge-
schlappt.« Viel davon sei schon verschwun-
den – aber ein Rest muss bleiben. Die nicht
ganz so schicken, nicht ganz so reichen Ur-
lauber, die aus alter Treue seit Jahrzehnten
kommen, erfüllen eine Funktion. Sie bewah-
ren Norderney vor der Versyltung.
Wessler richtet sich darauf ein. Den einen
Gästen sucht er kundig den passenden Wein
zum Kaninchen. Den anderen bringt er
launig die Grundlagen nahe: Ja, Kaninchen-
fleisch kann man essen. Nein, das da sind
ganz sicher keine Reifenabdrücke. »Ich mag
diese Mischung«, sagt er.
Norderney ist auf manche Art geteilt –
in eine wuselige Stadt und eine einsame
Dünenlandschaft. In wilhelminischen Prunk
und friesische Robustheit. Vielleicht braucht
es zwei grundverschiedene Küchen, um den
Geschmack dieser Insel zu finden. Heute
Hummer, morgen Labskaus. Ich denke an
Frau Dresen und ihren Ostfriesentee: zwei
Extreme in einer Tasse. Der Trick ist, sie
nicht zu verrühren.
REISE
Oktopussy
Das Gourmetrestaurant bietet
zurzeit die ideenreichste
Küche auf Norderney.
Luisenstraße 13,
oktopussy-norderney.de
Seesteg
Im einzigen Sternerestaurant der
Insel kocht Markus Kebschull
akkurat mit hervorragenden
Produkten. Romantiktauglich
mit schönem Blick aufs Meer.
Damenpfad 36a,
seesteg-norderney.de
Strandpieper
Brandneues Gourmetrestaurant
im Naturschutzgebiet. Dem
Chef Patrick Voeltz gehört auch
das Weiße Haus in Hamburg.
Günstige Snacks kommen aus
der hauseigenen Räucherei.
Am Leuchtturm 12,
strandpieper-restaurant.de
Weiße Düne
Sympathisches Ausflugslokal im
ruhigen Osten der Insel, nur ein
paar Schritte zum Badestrand.
Weiße Düne 1,
weisseduene.com/restaurant
Milchbar
Die Terrasse ist der angesagte
Platz für einen Sundowner.
Im Sommer spielen Bands.
Damenpfad 33,
milchbar-norderney.de
Auch nett
Der Norderneyer Fischmann,
die Instanz für Fischbrötchen
und Backfisch. Die Fleischerei
Deckena mit inselveredelten
Würsten und Schinken. Der
urtümliche Rumclub im Hotel
Friese. Das Sanddornstübchen
mit einer gewaltigen Auswahl
an Sanddorn-Produkten.
Das Bistro Esszimmer im
Hotel Inselloft. Das Gasthaus
Schmuggler bzw. Old Smuggler
für Freunde der liebevollen
Retro-Gastronomie
NORDERNEY FÜR
GOURMETS
Eine Insel mit
zwei Küchen
Hummer und Labskaus – wie auf Norderney Nouvelle Cuisine
und Tradition friedlich koexistieren VON MICHAEL ALLMAIER
Ochsenbäckchen aus dem Restaurant Oktopussy
Fotos: Oktopussy/New Wave; Malte Jäger/laif
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