32 sport FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40
C
hristopher Hallmann hat ei-
nen besonderen Blick auf Ta-
lent und dessen Ausprägung.
„Niklas hat sich am zweiten
Tag die Schuhe angezogen“,
erzählt der Bundestrainer der Zehnkämp-
fer über den neuen Weltmeister, „und
ehrlich, da wusste ich, er ist heute da.“
Auch die besondere Begabung für den
Zehnkampf liegt im Auge des Betrach-
ters. „Sie bewegen sich wie Großkatzen,
wie Panther oder Tiger“, sagt Hallmann.
„Sie können sehr, sehr gut turnen. Frü-
her sind Zehnkämpfer eher mit der
Brechstange gekommen. Das hat sich
zum Eleganten verändert.“
Bei 1,90 Meter Größe fällt der 21 Jahre
alte Niklas Kaul nicht durch Muskelberge
auf. Im Gegenteil, er spricht, praktisch im
Moment seines Erfolges, seine Defizite in
den Schnellkraft-Disziplinen an. Beim
100-Meter-Lauf und im Weitsprung müs-
se er an Muskelkraft zulegen. „Wenn mir
vor zehn Jahren jemand gesagt hätte, dass
jemand mit 11,27 Sekunden im Sprint
Zehnkampf-Weltmeister werden kann“,
sagt Hallmann kopfschüttelnd, „ich hätte
es nicht für möglich gehalten.“ Von Platz
zwanzig aus ging Kaul ins Rennen, nach-
dem er die 100 Meter, die erste Disziplin,
hinter sich hatte. Wie er sich zwei Tage
lang nach vorn arbeitete, so bestritt Kaul
auch den Lauf über 1500 Meter zum
Schluss. Die Konkurrenz stürzte los, und
er schien am Ende des Feldes zu joggen.
Was aussah, als hole er seine Gegner ei-
nen nach dem anderen ein, ist Ergebnis
seiner Beständigkeit. Er hält sein Tempo,
während die anderen nach panischem
Start einbrechen. Erst zum Schluss setzte
Kaul sich, indem er forcierte, der lähmen-
den Laktat-Ausschüttung aus. 500 Meter
sind noch gut zu schaffen, wenn die Mus-
keln dann erst anfangen zu schreien.
Man sieht: Kaul hat eine Strategie.
Wie für den Wettkampf hat er vor allem
auch eine für die Karriere. Seine Trainer
und engsten Berater beim USC Mainz
sind Mutter Stefanie und Vater Michael,
ehemalige Mittelstreckenläufer, sie in der
österreichischen, er in der deutschen Na-
tionalmannschaft. „Sie werden glücklich
sein“, vermutete der Junior, als er in
Doha gekrönt von der Bahn kam. „Und
sie werden sagen, was sie immer sagen:
Solange ich Spaß habe an dem Ganzen
hier, stehen sie hinter mir.“ Der Spaß –
das ist für die Kauls kein Quatsch und
kein Laissez-faire. Als Kaul darauf ange-
sprochen wird, dass es mit dem Spaß nun
wohl vorbei sei, da er als Weltmeister und
Favorit in die Olympischen Spiele des
nächsten Jahres gehe, erwidert er: „Wenn
der Spaß vorbei wäre, würde ich keinen
Zehnkampf mehr machen.“ Auch wenn
seine Mutter sich als jemand beschreibt,
die klare, deutliche Ansagen mache und
über ihre Haltung beim Training sagt:
„Der Niklas ist in dem Moment eher Ath-
let als Sohn“, zeugt das vom professionel-
len Anspruch der Trainingsgruppe. Be-
sonderes Augenmerk gilt der Verletzungs-
prävention, dem Gesundheitsmanage-
ment. So stark die Könige der Athleten
wirken, so prekär ist ihr Treiben. Von
den Zehnkampf-Helden der jüngsten Ver-
gangenheit war nur Kai Kazmirek in
Doha am Start, der Dritte von London
2017, zurück von der Verletzung, die ihn
am Start bei der Europameisterschaft von
Berlin 2018 hinderte. Michael Schrader,
der Weltmeisterschafts-Zweite von Mos-
kau 2013, und Rico Freimuth, Dritter von
Peking 2015 und Zweiter von London, ste-
hen nach langen und schweren Verletzun-
gen am Ende ihrer Karrieren. Europa-
meister Arthur Abele fehlte in Doha, wie-
der einmal, verletzt. Weil sie keine der
zehn Disziplinen mit der Kraft und der
Beweglichkeit der Spezialisten betreiben,
sind Zehnkämpfer anfällig für Verletzun-
gen. Den steilen Aufstieg von Niklas
Kaul von der U-18- und der U-20-Welt-
meisterschaft über die U-23-Europameis-
terschaft zur Weltmeisterschaft von
Doha haben dessen Eltern deshalb nicht
mit Tempo erkauft. Fast im Gegenteil.
Seine Entwicklung ist auf den Leistungs-
höhepunkt bei den Olympischen Spielen
von Paris 2024 und Los Angeles 2028 aus-
gerichtet. Er habe keine Medaille im
Sinn gehabt, als er hier antrat, erzählt
Kaul. „Es war spannend am ersten Tag,
weil ich einfach die Disziplinen abarbei-
ten konnte und gemerkt habe: Okay, du
bist halbwegs im Soll, mal ein bisschen
drüber, mal ein bisschen drunter. Ich
habe einfach mein Ding gemacht.“
Niklas Kaul war, man glaubt es kaum,
sogar erleichtert im Vergleich zum Erwar-
tungsdruck bei den Titelkämpfen in der
Jugend. Da wusste er, am deutlichsten bei
der U-23-Europameisterschaft in Schwe-
den in diesem Sommer, dass er, wenn er
die Goldmedaille nicht mitnähme, ent-
täuscht sein würde. In Schweden forderte
der Este Johannes Erm ihn heraus und
trieb ihn zu 8572 Punkten; fast 240 mehr
als bei Platz vier von Götzis. Die Leis-
tungskurve des Jahre 2019 stieg in Doha
um weitere 120 Punkte auf 8691. Bei die-
sem, seinem bisher größten Sieg schaltete
Kaul erst am zweiten Tag auf Offensive.
Vom Stabhochsprung an aber, als die Fa-
voriten Kevin Meyer aus Frankreich und
Lindon Victor aus Grenada verletzt aus-
schieden, attackierte er in letzter Konse-
quenz. Den Speer warf er 79,05 Meter
weit, das hatte noch kein Zehnkämpfer
geschafft. „Bestleistung in der neunten
Disziplin, am Abend des zweiten Tages“,
sagt Bundestrainer Hallmann, „das ist ty-
pisch Zehnkämpfer.“ Über 1500 Meter
siegte Kaul in 4:15,70 Minuten mit knapp
16 Sekunden Vorsprung vor dem bis da-
hin führenden Esten Maicel Uibo.
Mit seinem Sieg tritt Kaul ein in eine
lange Geschichte des deutschen Zehn-
kampfs. Zwar ist er, 32 Jahre nach Torsten
Voss, erst der zweite Weltmeister dieser
Disziplin aus Deutschland. Doch seit Wil-
li Holdorf 1964 in Tokio den Olympiasieg
erkämpfte und in Ohnmacht sank, ist den
Decathleten im Herzen des deutschen
Publikums ein besonderer Schrein errich-
tet. Christian Schenk aus Rostock wurde
zweiter deutscher Olympiasieger, Kurt
Bendlin, Guido Kratschmer und Jürgen
Hingsen stellten Weltrekorde auf. Sie wie
Werner von Moltke, Hans-Joachim Wal-
de, Joachim Kirst, Siggi Wentz, Paul Mei-
er, Frank Busemann, André Niklaus und
Pascal Behrenbruch haben Zehnkampf-
Geschichte geschrieben. Er sei sich be-
wusst, dass seine Generation die Historie
fortschreibe, sagt Kaul. Die Ehemaligen
halten Verbindung bei den Wettkämpfen
in Deutschland. „Ich bin lieber Zehn-
kämpfer als Speerwerfer, weil wir zwei
Tage lang durch dick und dünn gehen,
durch Höhen und Tiefen“, sagt Kaul.
„Wir stehen am Ende gemeinsam im
Ziel, umarmen uns und fallen total ka-
putt auf die Bahn. Es gibt kein Gefühl,
das schöner ist.“
Zehnkampf-Weltmeister
Niklas Kaul fällt nicht
durch Muskelberge auf.
Er hat eine Strategie
- für den Wettkampf
und die Karriere. Seine
Eltern spielen dabei
eine wichtige Rolle.
Von Michael Reinsch, Doha
Mihambo und Vetter
souverän ins Finale
Malaika Mihambo hat bei der
Leichtathletik-WM in Doha die
Qualifikation für das Weitsprung-
Finale problemlos überstanden. Die
25 Jahre alte Europameisterin von
der LG Kurpfalz sprang am Sams-
tag im ersten Versuch 6,98 Meter
und übertraf damit die zum Einzug
in die Medaillenentscheidung am
Sonntag (18.15 Uhr MESZ) gefor-
derten 6,75 Meter deutlich. „Das
war optimal für die Qualifikation,
da geht es darum, sicher weiter zu
sein. Daher war der Anlauf auch
mit etwas Puffer angelegt“, sagte
Mihambo: „Das ist jetzt ein Niveau
von 7,20 Meter ohne Brett, mit
Brett geht es noch etwas weiter. Das
ist das Ziel für morgen.“ Härteste
Konkurrentin Mihambos dürfte die
Nigerianerin Ese Brume werden,
die im ersten Versuch 6,89 Meter er-
zielte. Die viermalige Weltmeiste-
rin Brittany Reese schied mit 6,52
Meter überraschend aus. Auch
Speerwurf-Weltmeister Johannes
Vetter ist mit einer souveränen Qua-
lifikation ins Unternehmen Titelver-
teidigung gestartet. Während Vet-
ter mit 89,65 Meter die Tagesbest-
weite erzielte, verpassten Olympia-
sieger Thomas Röhler (79,23) und
der deutsche Meister Andreas Hof-
mann (80,06) den Finaleinzug deut-
lich. „89 Meter dürften morgen
schon für die Top drei reichen“, sag-
te Vetter, der nur einen Wurf benö-
tigte, um die Vorgabe von 84,00 Me-
tern zu erfüllen. sid
DFB-Frauen
siegen wieder 8:0
Drittes Spiel, dritter Kantersieg:
Inder EM-Qualifikation dominie-
ren die deutschen Fußballfrauen
ihre zweitklassigen Gegner weiter
nach Belieben. Einen Monat nach
dem 8:0 im Hinspiel gegen die
Ukraine gewann der Rekordeuropa-
meister auch das Rückspiel in Aa-
chen 8:0 und führt die Gruppe I
mit der makellosen Bilanz von
neun Punkten und 26:0 Toren an.
Klara Bühl und Lina Magull mit je-
weils drei Toren sowie Giulia
Gwinn und Melanie Leupolz tra-
fen im letzten Heimspiel des WM-
Jahres für die deutsche Auswahl,
die ihre nächste Partie am Diens-
tag in Griechenland bestreitet. sid
Liverpool: Achter Sieg
imachten Spiel
Der frühere englische Fußballnatio-
nalspielerJames Milner hat mit ei-
nem Last-Minute-Tor die bislang
optimale Ausbeute von Jürgen
Klopps FC Liverpool in der Pre-
mier League ausgebaut. Der Mittel-
feldspieler sorgte am Samstag in der
fünften Minute der Nachspielzeit
mit einem Foulelfmeter für den
2:1-Erfolg im Topspiel gegen Leices-
ter City. Mit acht Siegen nach acht
Spielen steht Liverpool souverän an
der Tabellenspitze. sid
Japan hofft,
England weiter
Japan kann bei der Rugby-Weltmeis-
terschaft weiter auf den Einzug ins
Viertelfinale hoffen. Der WM-
Gastgeber gewann am Samstag ge-
gen Samoa 38:19 und übernahm mit
dem dritten Sieg in der Gruppe A
die Tabellenführung. Vor dem letz-
ten Gruppenspiel bereits im Viertel-
finale steht England, das gegen Ar-
gentinien 39:10 gewannen. dpa
W
as sich im deutschen Frauen-
turnen zuletzt zugetragen hat,
birgt durchaus Stoff für einen
Film, deren vorläufiger szenischer Höhe-
punkt die Balkenübung von Pauline
Schäfer beim Qualifikationswettkampf
der Weltmeisterschaft in Stuttgart am
Freitag war. Nach einem souveränen Be-
ginn gelingt vor heimischem Publikum
ihr eigenes, faszinierendes Element, der
Schäfer-Salto. Gleich beim nächsten Ele-
ment verliert sie fast das Gleichgewicht,
rettet sich und muss kurz darauf doch
das Gerät verlassen. Während des einzi-
gen Auftritts von Schäfer hatte Sophie
Scheder sie aus wenigen Metern Entfer-
nung angefeuert. Jene Turnerin, die bei
der Vorstellung der Deutschen noch auf
der riesigen Leinwand in Wort und Bild
angekündigt worden war, obschon im
Realbild darunter Pauline Schäfer stand.
Es war so schnell gegangen: Kaum 24
Stunden vor dem Wettbewerb hatte
man angesichts einer rätselhaften und
erst zwei Tage zuvor aufgetretenen Ma-
laise am Großen Rückenmuskel Sophie
Scheder aus dem Team genommen.
„Was hätte es gebracht, wenn ich am
Barren weggesackt wäre, weil mein Arm
mich nicht halten kann“, sagt Scheder,
„daher ist die Entscheidung so gefal-
len.“ Pauline Schäfer war keineswegs zu-
frieden, aber: „Das war auf jeden Fall
phänomenal, wenn man weiß, dass so
viele Zuschauer da sind, um einen zu un-
terstützen.“ Vor diesem Höhepunkt die
verschiedenen Stationen der internen
Qualifikation: Sophie Scheder, die bei
den deutschen Meisterschaften eine
großartige Barrenübung zeigt, dann
aber auf die erste Qualifikation wegen ei-
ner Verletzung verzichten muss, wäh-
rend Pauline Schäfer dort am Balken be-
geistert. Schließlich der zweite Test, bei
dem Scheder die zweitbeste deutsche
Mehrkampfleistung liefert und Pauline
Schäfer patzt. Letzten Endes ergeben
die Kriterien von Cheftrainerin Ulla
Koch: Sophie Scheder steht als fünfte
Turnerin im Team, Pauline Schäfer ist
Ersatzturnerin.
Eine Entscheidung, die angesichts
der Tatsache, dass beide in Chemnitz
trainieren, bereits ein Spannungsmo-
ment setzt. Doch die Situation ist viel
schwieriger: Pauline Schäfer und ihre
Trainerin Gabi Frehse hatten vor der
WM 2018 ihre Zusammenarbeit offiziell
„ausgesetzt“. Schäfer mag allerdings auf-
grund ihrer persönlichen Lebenssituati-
on die Stadt nicht verlassen. Die Stim-
mung in der Chemnitzer Halle ist ange-
spannt. Kommunikativ sei da „nichts
mehr los“ hatte Pauline Schäfer zuletzt
das Verhältnis zu Gabi Frehse beschrie-
ben, die ihrerseits die ehemalige Turne-
rin und die ebenfalls in Chemnitz trai-
nierende jüngere Schwester ignoriert.
Pauline Schäfer hat in Chemnitz mittler-
weile einen eigenen Balken, an dem sie
von Kerstin Vogel betreut wird. Weitest-
gehend trainiert sie in der Halle und
mit den Trainern der Chemnitzer Män-
ner: „Da fühle ich mich ganz wohl“, er-
klärt sie, „turbulent“ sei das alles aber
schon gewesen. Die Situation vor Ort
müsse unbedingt verbessert werden,
weiß Ulla Koch, die sich um Koordinati-
on des Trainings aus der Ferne bemüht.
„Ich habe da natürlich auch Empfindun-
gen, aber für die werde ich nicht be-
zahlt. Bezahlt werde ich dafür, dass ich
die beste deutsche Mannschaft auf die
Matte bringe.“
Dann die Rückblende: Bereits 2008
verlässt Sophie Scheder als Elfjährige
ihre Familie in Wolfsburg gen Chem-
nitz, 2012 kommt Pauline Schäfer aus
dem Saarland. Beide bringen aus ihren
Heimatvereinen eine gute turnerische
Grundschule und viel Talent mit und
sind doch völlig unterschiedliche Cha-
raktere. Sophie Scheder erfährt früh in-
ternationale Aufmerksamkeit für ihren
herausragenden Schwung am Stufenbar-
ren, Pauline Schäfer ihrerseits besticht
durch Eleganz auf dem Schwebebalken.
Unter Gabi Frehse erzielen sie die größ-
ten deutschen Erfolge seit der Wieder-
vereinigung: Olympische Bronze für So-
phie Scheder am Barren 2016 und der
WM-Titel am Balken für Pauline Schä-
fer 2017.
In den vergangenen Wochen haben
die beiden mittlerweile 22-jährigen Frau-
en nicht nur sportlich Reife bewiesen.
Es ist ja nur das Eine, rational zu begrei-
fen, dass es mit Blick auf die Olympia-
qualifikation darum geht, sich in den
Dienst der Gruppe zu stellen. Das ande-
re ist, dass es für beide um die einmali-
ge Chance ging, als Hochleistungssport-
lerin eine WM im eigenen Land zu be-
streiten. Als in der Teamsitzung die Ent-
scheidung für Pauline Schäfer und ge-
gen Sophie Scheder gefällt wurde, wa-
ren sie „die ersten beiden, die sich
umarmt haben, die eine hat getröstet,
die andere hat gratuliert“. So be-
schreibt Cheftrainerin Ulla Koch die Si-
tuation. Nach der WM, das bedeutet
für die deutschen Turnerinnen, das
steht bereits fest, vor den Olympischen
Spielen. Ein Film also, der zweifellos
eine Fortsetzung haben könnte.
SANDRA SCHMIDT
Erschöpft, aber
glücklich: Nach dem
1500-Meter-Lauf
nimmt Niklas Kaul erst
einmal Platz,
während seine Eltern
schwer begeistert sind.
Am Tag danach, die
Goldmedaille baumelt
am Hals, kann er es
offenbar immer noch
nicht fassen, was er da
geleistet hat.
Fotos Getty Images, AP,
Sven Simon
MELDUNGEN
Mehr als nur
sportliche Reife
Sophie Scheder und Pauline Schäferstellen
sich ganz in den Dienst der Gruppe
Springt ein für die Rivalin Sophie Scheder: Pauline Schäfer Foto Reuters
Wie
ein
Tiger