34 feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40
D
ie Herbstspinne, wissenschaftlich
Metellina oder Meta segmentata,
verdankt ihren Namen der Tatsa-
che, dass geschlechtsreife Weibchen und
Männchen ab Ende August bis Oktober
außerordentlich zahlreich auftreten kön-
nen. Vor allem in offenem Gelände, an
Waldrändern, auf sonnigen Brachen und
in Gärten, aber auch in dunklen Fichten-
forsten sind sie die wahrscheinlich häu-
figste radnetzbauende Spinne überhaupt.
Die Spinnen sind im Herbst aber nicht
nur häufig, sondern auch leicht zu erken-
nen – und mit Geduld auch sehr gut zu
beobachten.
Erkennen kann man die Herbstspinne
an ihrem eigenartigen Radnetz. Große
Spinnenautoren wie Horst Stern und
Heiko Bellmann halten das Radnetz für
die vollkommenste Form der Spinnennet-
ze überhaupt. Typisch für ein Radnetz ist
die Nabe, der zentrale Bereich des Net-
zes, von dem aus strahlenförmig die 20
bis 25 Speichen nach außen ziehen. Be-
grenzt wird das Netz durch einen Rah-
menfaden; zur Falle wird es durch die auf
den Speichen perlschnurartig angeordne-
ten feinen Klebtröpfchen. Nur an den
Klebtröpfchenspeichen bleibt die Beute
der Spinne hängen, die anderen Fäden
kleben nicht. Und die Herbstspinne
kennzeichnet ihre offene oder leere
Nabe, die sie sozusagen freigebissen hat,
nachdem sie ihr Netz fertiggestellt hat.
Weil der Klebstoff aber nur wenige Tage
hält, frisst die Spinne nicht nur jedes Mal
das Zentrum des Netzes frei, sondern
das ganze Netz auf, um die eiweißhalti-
gen Spinnfäden zu verdauen und der
nächsten Nutzung, dem nächsten Netz-
bau zuzuführen.
Spinnen weben allgemein ihre Netze
lieber im Dunkeln als am helllichten Tag,
werden gerade jetzt dabei aber von Taubil-
dung behindert. So können sie oft ihre
Netze erst vollenden, wenn der Tau mit
dem wärmer werdenden Tag wieder ver-
schwunden ist. Mit, wie gesagt, Geduld
ist es deshalb im Herbst gut möglich,
Spinnen beim Weben zu beobachten.
Die Herbstspinne bietet zu diesem an
sich schon bemerkenswerten Vorgang
aber noch ein besonderes Spektakel.
Ab September versammeln sich näm-
lich ein oder mehrere Männchen an den
Rändern der Netze reifer Weibchen. Da
sitzen sie dann, oft mit scheinbar genau
bemessenem Abstand zueinander, und
warten. Worauf sie warten, merkt man
erst richtig, wenn sich eine Beute, etwa
eine kleine Fliege, im Netz verklebt hat.
Dann rennen die Männchen in Rich-
tung der Fliege, und dasjenige, das zu-
erst da ist, beginnt sofort die Beute in
Seide einzuwickeln. Die erfolglosen
Männchen ziehen sich sehr ruhig und
ohne äußerlich erkennbaren Frust fried-
lich zurück.
Der erfolgreiche Spinnenmann be-
ginnt dann, nachdem er sein Werbe-
oder Brautgeschenk in Seide verpackt
hat, im Schutz der Beute, also hinter der
eingewickelten Fliege sitzend, um das
Weibchen zu werben. Dazu sendet er
über das Netz Zupfsignale, die entweder
„erhört“ werden oder auch nicht, was im-
mer möglich bleibt. Wenn das Weibchen
aber „gehört“ hat, begibt es sich von der
Beute weg und legt sich an einem vom
Männchen gespannten Begattungsfaden
auf den Rücken. Und da liegt sie dann
mit dem Bauch nach oben so passiv wie
starr. Worauf das Männchen von vorn
auf das Weibchen zugeht, einen Taster
auf ihrem Bauch befestigt und sich – ja,
doch – artistisch irgendwie um sich
selbst dreht und dann, Bauch an Bauch,
auf dem Weibchen zum Liegen kommt.
Etwa drei Minuten liegen sie dann so da,
schauen in die gleiche Richtung und be-
wegen sich sichtbar nicht. Danach tren-
nen sie sich und gehen friedlich auseinan-
der und getrennter Wege.
Was entgegen der weit verbreiteten
Ansicht, nach der das Spinnenweibchen
nach vollzogener Paarung das Männchen
fressen soll, unter Spinnen der Normal-
fall ist. Nur bei wenigen Arten fressen
die Weibchen regelmäßig ihre Männ-
chen. Dabei handelt es sich in der Mehr-
zahl um Arten, bei denen die Männchen
wesentlich kleiner als die Weibchen sind
und merkwürdigerweise auch ohne Zu-
tun der Weibchen nach der Paarung ster-
ben. Die Weibchen tun in diesen Fällen
also nichts anderes, als die Leiche ihres
Partners von sich abzulösen, sie einzu-
spinnen und anschließend zu verzehren.
Gefährlich bleibt die Paarung aber
auch unter solchen Spinnen, die sich nor-
malerweise danach friedlich trennen. Es
kommt im Einzelfall immer wieder vor,
dass ein Weibchen „sein“ Männchen
frisst. In der Regel liegen diesem Vor-
gang dann aber Verfahrensfehler des
Männchens zugrunde. Entweder hat es
das Werbungs- und Paarungsritual dann
nicht in der oft artspezifisch sehr streng
choreographierten Form ausgeführt.
Oder das Männchen hat nicht abgewar-
tet, bis das Weibchen sein Einverständ-
nis zur Paarung signalisiert hat. Dann
wird es wie eine fremde Beute behandelt
und aufgefressen.
Aber wie dem auch sei, die weiblichen
Herbstspinnen legen in jedem Fall nach
der Paarung noch im gleichen Herbst im
Abstand von jeweils einigen Tagen meh-
rere Kokons an einem Zweig oder an ei-
ner Baumrinde ab. Die Kokons enthal-
ten etwa 80 bis 140 Eier, aus denen sich
im nächsten Frühjahr die neuen Spinnen
entwickeln. Das Weibchen aber stirbt
nach der Herstellung des letzten Ei-
gespinstes.
Am 11. September 2001
wurden die Zwillings-
türme des World
Trade Centers getrof-
fen. Zwölf Jahre zuvor,
am 9. November 1989,
fiel die Berliner Mau-
er. Der 9. November
1989 läutete die soge-
nannten „glücklichen Neunziger“ ein,
Francis Fukuyamas Traum vom „Ende
der Geschichte“. Da war der Glaube,
die liberale Demokratie habe im Prinzip
gewonnen, die Suche sei vorbei, eine glo-
bale liberale Weltgemeinschaft stehe
kurz bevor und die Hindernisse für die-
ses Ultra-Hollywood Happy End seien
bloß empirisch und kontingent (lokale
Widerstandsnester zum Beispiel, deren
Anführer noch nicht begriffen hatten,
dass ihre Zeit vorbei war).
Im Gegensatz dazu ist 9/11 das defini-
tive Symbol für das Ende von Clintons
„glücklichen Neunzigern“. Es ist die
Ära, in der überall neue Mauern errich-
tet werden, rund um die Europäische
Union oder an der amerikanisch-mexika-
nischen Grenze. Der Aufstieg der popu-
listischen Neuen Rechten ist nur das pro-
minenteste Beispiel des Bedürfnisses,
neue Mauern zu errichten. Wer soll da
heute noch unser Held sein, wenn wir
die Grenzen der „glücklichen Neunzi-
ger“ so deutlich sehen?
Mein Held ist, mehr denn je zuvor,
Wiktor Krawtschenko, der sowjetische Di-
plomat, der 1944, als er in New York war,
überlief und dann seinen berühmten Best-
seller „Ich wählte die Freiheit“ schrieb.
Sein Buch ist der erste substantielle Be-
richt über das Grauen des Stalinismus. Es
beginnt mit der detaillierten Schilderung
der Zwangskollektivierung und der Hun-
gersnöte in der Ukraine, wo Krawtschen-
ko selbst, in den dreißiger Jahren noch ein
gläubiger Anhänger des Systems, an der
Zwangskollektivierung teilnahm.
Die öffentlich bekannte Story über
ihn endet 1949, als er in Paris einen Pro-
zess gegen seine sowjetischen Ankläger
triumphal gewann, die sogar seine Ex-
Frau in den Gerichtssaal gebracht hat-
ten, die seine Korruptheit, seinen Alko-
holismus und seine Neigung zu häusli-
cher Gewalt bezeugen sollte.
Weniger bekannt ist dagegen, dass
Wiktor Krawtschenko, der direkt nach
diesem Sieg vor Gericht überall als
Held des Kalten Krieges gefeiert wurde,
sehr besorgt über McCarthys antikom-
munistische Hexenjagd in den Vereinig-
ten Staaten war und davor warnte. Diese
Art, den Stalinismus zu bekämpfen, ber-
ge die Gefahr, dem Gegner ähnlich zu
werden. Krawtschenko wurde sich mehr
und mehr der Ungerechtigkeiten in der
westlichen Welt bewusst und entwickel-
te fast eine Obsession, die westlichen de-
mokratischen Gesellschaften durch Kri-
tik verändern zu wollen.
Nachdem er 1950 einen weniger be-
kannten Folgeband zu „Ich wählte die
Freiheit“ geschrieben hatte, mit dem Ti-
tel „I chose justice“ (deutsch: „Schwert
und Schlange“), begab er sich auf eine
Art Kreuzzug, um neue, weniger ausbeu-
terische Formen der Arbeitsorganisation
Produktion zu finden. Das führte ihn
nach Bolivien, wo er Geld investierte
(und verlor), um arme Bauern in neuen
Kollektiven zu organisieren. Demorali-
siert vom Scheitern seiner Pläne zog er
sich ins Privatleben zurück und erschoss
sich in seiner Wohnung in New York.
Sein Selbstmord war ein Ausdruck der
Verzweiflung und nicht Folge einer Er-
pressung durch den KGB – ein Beweis,
dass Krawtschenkos Anprangerung der
Sowjetunion ein genuiner Akt des Pro-
tests gegen Ungerechtigkeit war.
Heute tauchen überall neue
Krawtschenkos auf, in den Vereinigten
Staaten, Indien, China oder Japan, in La-
teinamerika und Afrika, im Nahen Os-
ten, in West- und Osteuropa. Sie sind
sehr verschieden und sprechen verschie-
dene Sprachen, aber sie sind nicht so we-
nige, wie es den Anschein haben mag.
Und die größte Furcht jener, die noch
immer an der Macht sind, ist, dass diese
neuen Stimmen nachhallen und einan-
der in ihrer Solidarität stärken werden.
Der Tatsache bewusst, dass die Zei-
chen auf eine Katastrophe deuten, sind
sie bereit, gegen alle Schwierigkeiten zu
handeln. Vom Kommunismus des
- Jahrhunderts enttäuscht, sind sie be-
reit, noch einmal von vorne zu beginnen
und ihn auf einer neuen Basis neu zu er-
finden. Von ihren Feinden als gefährli-
che Utopisten in Verruf gebracht, sind
sie die Einzigen, die wirklich aus dem
utopischen Traum erwacht sind, der die
meisten von uns in seiner Macht hat. Sie
und nicht jene, die nostalgisch auf den
„realexistierenden Sozialismus“ des 20.
Jahrhunderts zurückschauen, sind unse-
re Hoffnung. Und sie sind längst mitten
unter uns aktiv. Man braucht nur vier
Namen zu nennen: Julian Assange, Chel-
sea Manning, Edward Snowden, Greta
Thunberg.
Diese neuen Helden zu feiern ist der
einzige Weg, all denen wirklichen Re-
spekt zu erweisen, die gegen die Berli-
ner Mauer gekämpft haben.
ZEHN KRIMINALROMANE FÜR DEN MONAT OKTOBER 2019
Die Krimibestenliste
Präsentiert von der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung und Deutschlandfunk Kultur
Herbstspinne
Von Cord Riechelmann
An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus
Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben.
Sprecher der Jury: Tobias Gohlis
LEBEWESEN DER WOCHE
FRAGEN SIE SLAVOJ ŽIŽEK
Gibt es heute überhaupt noch Helden?
1 (8)
Garry Disher
Hitze
Aus dem Englischen von
Ango Laina und Angelika
Müller.
Pulp Master, 278 Seiten,
14,80 Euro
Queensland. Wyatt soll ein
Gemälde stehlen. Nazi-Raub-
kunst, die wieder aufgetaucht
ist. Ob die Story stimmt? Wyatt
ist nicht der einzige Dieb an der
Goldküste. Und hat zudem
abgehängte Komplizen auf den
Fersen. Da passt es prima, dass
seine Auftraggeberin Ex-Solda-
tin ist. Cool, cooler, Wyatt.
2 (2)
Tawni O’Dell
Wenn Engel brennen
Aus dem Englischen von
Daisy Dunkel.
Ariadne im Argument-Verlag,
350 Seiten, 21 Euro
Pennsylvania. Leicht mit
Problemen umgehen kann
Chief Carnahan. Seien es
verschreckte Mütter, renitente
Redneckfamilien oder
Mädchen, die in brennenden
Minen stecken. Hat sie doch
selbst ihr Gewaltpotential nicht
immer kontrolliert.
Feministisch, realistisch:
Matriarchat kann Elend
verschärfen.
3 (3)
Denise Mina
Klare Sache
Aus dem Englischen von
Zoë Beck.
Ariadne im Argument-Verlag,
352 Seiten, 21 Euro
Schottland, Île de Ré. Als sich
Annas Gatte mit Töchtern und
neuer Frau davonmacht, hört
sie gerade im geliebten
True-Crime-Podcast vom Tod
eines alten Bekannten. Anlass,
mit einem magersüchtigen
Popstar die wahren Verbrechen
ihrer Vergangenheit zu
durchforsten. Scharfer
Glamour-Cocktail, geschüttelt.
4 (1)
Garry Disher
Kaltes Licht
Aus dem Englischen von
Peter Torberg.
Unionsverlag, 314 Seiten,
22 Euro
Melbourne. Nach fünf Jahren
Langeweile als Pensionär ist
Alan Auhl zurück im
Polizeidienst. Mit der
Lässigkeit der Erfahrung lotet
er die Grenzen des Gesetzes
aus, packt zu, wo Solidarität
fehlt. Heiteres Lob eines
coolen Alten, der menschliche
Bosheit stellt, wie immer sie
getarnt ist. Brillant.
5 (5)
Dror Mishani
Drei
Aus dem Hebräischen von
Markus Lemke.
Diogenes, 336 Seiten, 24 Euro
Tel Aviv, Bukarest. Drei
Frauen – immer derselbe
Mann. Über ein Dating-Portal
für Geschiedene kommen
Orna und Gil zusammen. Bis
sie mitkriegt, dass er sie
getäuscht hat. Emilia und Ella
queren auch seinen Weg. Der
Rest ist Kritikers Schweigen
und Bewunderung. Vivisektion
der Alltagsbösartigkeit.
6 (4)
Max Annas
Morduntersuchungskommission
Rowohlt, 346 Seiten, 20 Euro
DDR, 1983. Ermittlungen im
geschlossenen System. An der
Bahnstrecke zwischen Jena und
Saalfeld liegt der Leichnam
eines afrikanischen
Vertragsarbeiters, zerfetzt,
geköpft. Otto Castorp, MUK
Gera, lässt nicht los, trotz
politischen Ermittlungsverbots.
Und entdeckt, was es in der
DDR nicht geben kann: Nazis.
7 (–)
Adam Brookes
Der chinesische Verräter
Aus dem Englischen von
Andreas Heckmann.
Suhrkamp, 402 Seiten,
15,95 Euro
Peking, London. Nach zwanzig
Jahren gelingt Peanut die
Flucht aus dem Arbeitslager.
MI6 soll ihn rausholen, als
Gegenleistung für Raketen-
geheimnisse. Korrespondent
Philip Mangan wird wider-
willig seine Kontaktperson.
Die Gier der Geheimdienste
bringt sie beinahe um. Pikanter
Politthriller, China heute.
8 (–)
William Boyle
Einsame Zeugin
Aus dem Englischen von
Andrea Stumpf.
Polar, 300 Seiten, 20 Euro
Brooklyn. Amy bringt alten
Menschen die Kommunion.
Als sie Zeugin eines Mordes
wird, verbirgt sie die Waffe.
Halt die Klappe! Ihre Lektion
von Kind auf. Doch der
Mörder ist hinter ihr her und
hinter der Beute, um die es bei
dem Mord ging. Skrupulös
erzählt Boyle vom Sehnen
kleiner Leute, mit ihnen.
9 (–)
Harry Bingham
Fiona – Das tiefste Grab
Aus dem Englischen von
Kristof Kurz und
Andrea O’Brien.
Rowohlt, 542 Seiten, 10 Euro
Wales. Archäologin Gaynor
Charteris grub nach Relikten
von König Artus. Jetzt liegt sie
enthauptet in ihrem Studio,
drei Speerspitzen in der Brust.
Wer killt harmlose Artus-
Forscher? Fiona Griffiths,
Freundin aller Ermordeten,
muss den Artus-Mythos
knacken, Schwert Excalibur an
der Seite. Abgefahren.
10 (–)
Hideo Yokoyama 2
Aus dem Englischen von
Sabine Roth.
Atrium, 152 Seiten, 16 Euro
„Präfektur D“, Japan.
Verwaltungsinspektor
Futawatari ist zuständig für
Personalwesen, ein
Hintergrund-Polizist. Zweimal
lotst er durch Ermittlungen im
Apparat: Ein Großer der Kripo
will seinen Posten nicht
räumen, eine Technikerin ist
verschwunden. Leises Lob
kriminalbürokratischer
japanischer List.
Derzeit mit etwas Geduld zu beobachten: die Herbstspinne (Metellina segmentata), die ihr Radnetz spinnt Foto F1Online
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