Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 06.10.2019

(Axel Boer) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40 feuilleton 37


A


njenem Morgen, als wir nach
Åsgårdstrand fahren wollten,
war es kalt, fünf Grad unter
null, und der noch nacht-
schwarze Himmel war duns-
tig.“ Wer möchte wissen, wie es weitergeht
nach diesem ersten Satz eines Kapitels im
neuen Buch von Karl Ove Knausgård?
Ich.
Es ist einer dieser Sätze, mit denen
Knausgård mich fängt, die Lakonik, die
Sachlichkeit, die vorurteilsfreie Aneinan-
derreihung von Details, damit erzeugt sei-
ne Sprache diesen Sog, der mich ansaugt,
hinein in diesen Subjektivierungstunnel,
sie sagt „ich“ oder „wir“, und schon bin
ich drin, bin am Leben, ohne leben zu
müssen, und wenn ich am anderen Ende
herauskomme, sind drei Tage und sechs-
hundert Seiten um, und ich halte Aus-
schau nach dem nächsten Tunnel, wäh-
rend ich über mich lache und mich frage,
was macht Knausgård mit mir? Dass ich
ihnbingenmuss wie eine Netflix-Serie,
die mich hungrig empfängt und hungrig
entlässt? Warum lese ich in der Zeit nicht
Dostojewskij oder Homer?
Es ist etwas an Knausgårds Art zu
schreiben, „ich“ zu sagen, das wohl im
Rückblick als typisch für unsere Bekennt-
niskultur gelten wird. Knausgårds Prosa
ist wie ein Mantel, der sich tröstend um
mich schließt, während ich mich durch
diese fremde Subjektivität bewege, die
ihre Unzulänglichkeiten und die der ihm
nächststehenden Menschen scheinbar un-
gefiltert hintereinanderreiht, so dass ich
die eigenen Unzulänglichkeiten in ihnen
aufgehoben fühle. Es brennen einem ja
auch mitunter die Fleischbällchen an,
und es kommt vor, dass man vergisst, die
Mülltüte mit runterzunehmen, denke
ich, während ich an diesem Herbstnach-
mittag diese Sätze schreibe, auf der kla-
ckernden Tastatur, durch die halb geöffne-
te Bürotür weht das vertraute Trappeln
der anderen Tastaturen über den Flur, im
Glas vor mir platzen die feinen Bläschen
der Apfelsaftschorle. Man passt ganz hin-
ein in dieses fremde Leben, was doch im-
mer wieder erstaunlich ist; denn handelt
es sich bei Knausgårds Lesern nicht um
ganz unterschiedliche Menschen?
Nicht, wenn es nach Knausgård geht,
in „Kämpfen“ zum Beispiel schreibt er,
dass „wir eigentlich so gut wie alle gleich
sind“, und das findet man in seinen Tex-
ten immer wieder, diese Suche nach ei-
nem Nullpunkt, an dem alles erklärt ist,
die Kunst, das Leben, die Literatur, in-
dem es gleich ist, identisch.
In seinem neuen Buch zum Beispiel,
das davon handelt, wie er eine Ausstellung
mit Bildern von Edvard Munch kuratiert,
sucht er immer das Gewöhnliche hinter
dem Mythos des berühmtesten Malers
Norwegens, er, der berühmteste lebende
Schriftsteller Norwegens, und so schreibt
er an einer Stelle: „Entscheidend an
Munchs Kunst ist, dass wir sie wiederer-
kennen – also dass sie ist wie wir.“ Das
sind dann die Stellen, an denen der Sog
stoppte, ich am Text abglitt und aus dem
Fenster schaute, wo der Dom von Lim-
burg vorbeischoss an diesem Mittwoch,
auf diesem schnellsten Streckenabschnitt
der Deutschen Bahn zwischen Frankfurt
und Köln, ich war auf dem Weg nach Düs-
seldorf, wo nächste Woche Knausgårds
Munch-Ausstellung eröffnen wird, in mir


die seit Kindheitstagen nie abgeklungene
Freude über das Erhabene des Eisenbahn-
reisens, ich prüfte die Anzeige über der
Abteiltür, die aber nicht, wie es früher üb-
lich war, das Tempo anzeigte, sondern nur
den englischsprachigen Hinweis, alle Fern-
züge der Deutschen Bahn führen mit hun-
dert Prozent grüner Energie.
Da scheint mir Knausgård am weites-
ten entfernt von Munch und mir, seinem
Leser, wo er meint, bei einer Identität an-
gelangt zu sein, sich aber lediglich zwei
Dinge in einem Nullsummenspiel aufhe-
ben: Ah, das da, das bin ja ich.
Nachdem er sich am „Schrei“ abgear-
beitet hat und an der „Melancholie“, nach-
dem er Anselm Kiefer besucht hat in des-
sen fußballstadiongroßem Atelier und ge-
staunt hat, wie groß dort alles ist und wie
echt, nachdem er in seitenlangen Gesprä-
chen mit weiteren Künstlerinnen das Be-
sondere an Munch und am Kunstmachen
umkreist hat, ohne es zu fassen zu bekom-
men, wendet er sich am Ende einem Bild
zu, das er im Depot des Munch-Muse-
ums in Oslo entdeckt hat, wo all die Tau-
sende Gemälde und Drucke aufbewahrt
sind, die übrig blieben nach dem Tod die-
ses angeblich so menschenscheuen, aber
sehr geschäftstüchtigen Malers, der mit
Leuten in ganz Europa im Austausch
stand, wo also all die fertigen und unferti-
gen Bilder, die Munch nicht verkauft und
die er der Stadt Oslo vermacht hat, an her-
ausfahrbaren Gittern hängen. Es ist ein
spätes Bild, 1942 entstanden, zwei Jahre
vor Munchs Tod, es heißt „Maler an der
Hausfassade“, und Knausgård feiert es als
einfaches, alltägliches Gegenstück zum
monumentalen Symbolismus der 1890er
Jahre, für den Munch berühmt ist: „Der
Körper des Malers besteht aus kaum
mehr als ein paar Pinselstrichen und der
Hintergrund nur aus etwas zusammenge-
würfeltem Grün, das Gras und Büsche
darstellen soll, und aus ein paar gelben
und rotbraunen Formen, das sind Blu-
men. Im Hintergrund steht eine rote
Scheune, sie bringt Tiefe in das Bild und
verleiht ihm, auf simpelste Art, einen
Sog.“
Ähnlich hatte Knausgård das Bild vor
zwei Jahren schon in der „Zeit“ beschrie-
ben, als sein Buch auf Norwegisch er-
schien und seine Ausstellung in Oslo er-
öffnete. Es war im Mai, es war ein Regen-
tag wie dieser, und ich hielt mich für eine
Jurysitzung in Wien auf, die großen Bla-
sen meines Soda Zitron platzten im Glas,
als Heinrich Dunst das Café „Engländer“
mit seinen roten Polstern betrat, er zog
das Feuilleton der „Zeit“ aus der Tasche
und las Knausgårds Sätze vor, und er zeig-
te auf die Abbildung des „Malers an der
Hausfassade“ und sagte: „Das Bild hat
überhaupt nichts zu tun mit dem, was
Knausgård sagt.“
Das stimmte, man könnte sich auch
vorstellen, eine der Kunsthistorikerinnen,
die nach Munchs Tod das Freiluftatelier
in Ekely ausräumten, wo er von 1916 an
malte und seine Bilder oft monatelang im
Regen stehen ließ, hätte das Bild „Fenster-
putzer“ genannt. Denn die Figur hat kei-
nen Pinsel in der Hand und hat auch kei-
ne Hand, der Arm läuft in einem grünen
Fleck aus, in dem man genauso gut einen
Lappen sehen könnte, vor allem aber
steht sie nicht, wie Knausgård immer wie-
der behauptet, an der Hauswand, sondern

am Fenster. Die „rote Scheune“ im Hin-
tergrund? Könnte auch ein Mohnfeld
sein, und das, worin Knausgård wohl den
Giebel sieht, ein Heuhaufen. „Ich liebe
diese Anstrengungslosigkeit“, sagte
Knausgård der „Zeit“, „die Einfachheit
des Bildes.“
„Das hat nichts mit Anstrengungslosig-
keit zu tun“, sagte Heinrich Dunst. „Der
Kontrast von grünem Fleck und roter Flä-
che erzeugt ein aggressives und nervöses
Konstrukt, das zwischen Identität und
Auflösung changiert. Die Anstrengungslo-
sigkeit ist eine rein subjektive Leistung
des Schriftstellers, die Projektion einer
sentimentalen Sehnsucht.“
Ich kenne niemanden, der präziser be-
schreibt, welche Brüche das Digitale ein-
führt zwischen dem, was sich sagen, und
dem, was sich zeigen lässt, und wie der
herrschende Zuschreibungsfuror mit sei-
nen aggressiven Identitätsbehauptungen
über diese Brüche hinweggeht, als Hein-
rich Dunst es mit Worten und Installatio-
nen tut. Er ist es gewohnt, dass alle schon
wissen, was sie sehen, bevor sie es sehen,
und jetzt sah er den meist beachteten
Schriftsteller der Gegenwart in einer
hochbeachteten Zeitung den hochnervö-
sen Munch in einen Maler verwandeln,
der anstrengungslos unsere Projektionen
eines einfachen Lebens ins Bild setzt.
Auch die „Welt am Sonntag“ wusste
schon, dass Knausgårds Ausstellung „uns
zeigt“, „wie Munch wirklich war“, noch
bevor sie in Düsseldorf überhaupt die Bil-
der ausgepackt hatten. Am Mittwochnach-
mittag waren die Aufbauhelfer noch da-
mit beschäftigt, die letzten Holzkisten zu
öffnen, immer bewacht von zwei Restau-
ratoren des Munch-Museums. Der „Ma-
ler an der Hausfassade“ stand, wie die
meisten der 140 Gemälde, Skizzen und
Studien, aufgebockt auf Styroporklötzen,
und so konnte ich sehen, dass ich nicht
sah, was Knausgård sah. Ich sah die
Schneelandschaft in Thüringen, vor der
Knausgård die Tränen kamen, aber nicht
den sparsamen Farbauftrag, den Knaus-
gård beschreibt. Ich erfreute mich am in
vielen Schichten aufgetragenen Himmel,
dem in die Talsenke hinabstotternden,
trocken aufgetupften Braun und dem ro-
safarbenen Feldweg, der sich die gegen-
überliegende Böschung hinaufschlängel-
te. Ich sah Bilder, die offenbar nicht fer-
tig waren. Vor allem aber sah ich die Auf-
ladung des knorrigen, seine Subjektivität
gegen die Konventionen stellenden
Munch durch den knorrigen Knausgård.
„Überraschenderweise verbindet
Munch und Knausgård ein zu allen Zei-
ten relevantes Phänomen“, las ich im Ka-
talog. „Denn unsere Gesellschaft scheint
wie vor mehr als hundert Jahren von ei-
ner existenziellen Sinnkrise erfasst zu
sein, in der das Individuum nach Orientie-
rung sucht. Ein möglicher Ausweg
scheint – folgt man Edvard Munch wie
auch Karl Ove Knausgård – im Rückzug
ins Private zu liegen.“ Das sind erstaunli-
che Worte für ein öffentliches Haus.
Läge eine Möglichkeit der Orientierung
nicht auch, statt in der Wende nach in-
nen, in der auf das, was man sieht?
Ich glaube nicht, dass das Entscheiden-
de an Munchs Kunst ist, dass sie ist wie
wir. Ich glaube, das Entscheidende an
Munchs Kunst ist, dass sie ganz anders ist
als wir, wie wir auch alle anders sind, und

jedes Detail in jedem Bild von Munch an-
ders ist als die anderen, so wie auch jedes
Detail in Knausgårds Romanen anders ist
als alle anderen und für sich selbst steht,
autonom, befreit von der Last der Bedeu-
tung und Funktion im Aufbau erzähleri-
scher Spannung. Seine essayistischen Aus-

schweifungen sind dagegen austauschbar,
wie ihre Gegenstände. Man könnte sich
auch vorstellen, wie Knausgård ein Buch
darüber schreibt, wie er eine Nikolai-
Astrup-Ausstellung kuratiert, und be-
stimmt hätte ein deutsches Museum auch
diese Ausstellung übernommen, zur

Frankfurter Buchmesse, Gastland Norwe-
gen. KOLJA REICHERT
Karl Ove Knausgård: „So viel Sehnsucht auf so kleiner
Fläche.Edvard Munch und seine Bilder“. Übersetzt von
Paul Berf. Luchterhand, 288 Seiten, 24 Euro; „Edvard
Munch – gesehen von Karl Ove Knausgård“, K20, Düssel-
dorf, 10. Oktober 2019 bis 1. März 2020.

Karl Ove Knausgård hat eine Ausstellung


mit Bildern von Edvard Munch kuratiert.


Und ein Buch über ihn geschrieben.


Er sagt: Seine Kunst ist wie wir.


Sehen Aber stimmt das? Und wer ist wir?


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Sein Selbstbildnis
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Munch offenbar,
wie viele seiner
Bilder, im
Regen stehen.
Rechts: Karl Ove
Knausgård

„Maler an der Hausfassade“, 1942 „Eifersuchtsmotiv“, 1929/30


Foto André Løyning
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