Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 06.10.2019

(Axel Boer) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40 medien 39


D

ass der Fall Relotius nur ein
bedauerlicher Fehler war,
eine Panne in einem ansons-
ten perfekt funktionierenden Sys-
tem, ein Unfall, dessen Ursache die
kriminelle Energie und das Talent
zum Lügen eines Einzelnen gewe-
sen sei: Das glaubt anscheinend
auch beim „Spiegel“, wo Relotius’
größte Hits erschienen sind, keiner
mehr. Der Ressortchef und Richt-
linienverantwortliche Matthias Gey-
er hat das Blatt verlassen, das ganze
Ressort wird umbenannt – und es
war nicht zuletzt das Entsetzen
über „Stella“, den Roman des „Spie-
gel“-Reporters Takis Würger, wel-
cher, ganz ohne dass dafür ein Fak-
tencheck notwendig gewesen wäre,
noch einmal perfekt die entschlosse-
ne Harmlosigkeit, die verweigerte
Selbstreflexion und die ganzen
Schöner-schreiben-Floskeln vorführ-
te, was diese Art des Erzählens als
großes Missverständnis sichtbar ge-
macht hat: Nein, Literatur ist das
nicht, nur deren Simulation für Leu-
te, die nicht genauer darüber nach-
denken wollen.
Dass diese Missverständnisse et-
was mit demReporterpreiszu tun
haben könnten, den Relotius vier-
mal gewann; der für Geyer der
wichtigste Maßstab für den Erfolg
seiner Ressorts war; dass, beim dazu-
gehörigen Reporterforum, Kolle-
gen wie der Relotius-Entdecker
Ulrich Fichtner genau diese Erzähl-
techniken lehrten – daraus hat der
Reporterpreis jetzt den einzig richti-
gen Schluss gezogen: Wer einen Ar-
tikel einreicht (Einsendeschluss war
am Dienstag), muss ein „Making-
of“ beilegen sowie „die Telefon-
nummern von wichtigen Protagonis-
ten“. Nein, das ist nicht Über-
wachung, das ist, wie man in Ham-
burg wohl sagt: „großes Kino“.Wo-
bei man ein Making-of von Reloti-
usbesonders gern gelesen hätte.

Simon, als ich kürzlich einen Stapel
alter Zeitschriften zu verschenken
hatte, hast du dich gemeldet. Du
schriebst, dass du die Hefte alle bei
Erscheinen gelesen hättest – und
jetzt, 25 Jahre später, noch mal lesen
wolltest. Warum?
Da muss man einen Blick in die Vergan-
genheit werfen. Neunziger Jahre, Mün-
chen, ich ging in die Oberstufe. Mon-
tags sind wir immer zum Kiosk gerannt
und haben dieses Heft geholt.
Das „jetzt“-Heft. Es lag montags in
der „Süddeutschen Zeitung“ drin
und war für junge Leute, denen Hef-
te für junge Leute eigentlich zu blöd
sind. So jedenfalls sah ich das damals.
Ja. Wir haben die Zeitung meist gleich
weggeworfen, es ging nur ums Heft.
Das war was Besonderes. Es gab zwar
„Bravo“ und „Popcorn“, diese recht
kommerzialisierten Sachen. Die „jetzt“-
Hefte haben unser Leben beleuchtet, ab-
seits von Stars und Sternchen. Was da
stand, war ein großer Bestandteil unse-
rer Gespräche. Als ich las, dass du die
Hefte verschenkst, hatte ich ein kleines
nostalgisches Gefühl. Ich wollte nachle-
sen, wie wir damals gedacht haben, wie
wir gelebt haben.
Kann ich verstehen. Ich habe die Hef-
te genau aus dem Grund aufbewahrt:
damit ich später wieder reinschauen
kann. Das habe ich dann aber nie ge-
macht. Ich glaube, viele haben so ei-
nen Papierstapel von früher: Magazi-
ne, die für irgendeine Zeit im Leben
stehen, die vergangen ist, aber nicht
vergessen werden soll. Was ist damals
mit deinen Heften passiert, hast du sie
gesammelt, aber irgendwann entsorgt?
Nein, ich habe sie nach dem Lesen im-
mer gleich weitergegeben. Dann lasen
meine Freunde sie. Und die haben sie
wohl irgendwann weggeworfen.
Ich habe die Erfahrung gemacht,
dass man die alten Hefte dann auch
gar nicht vermisst – bis man sie auf
irgendeinem Flohmarkt, in einem
Antiquariat wiedersieht.
Ja.

Aber warum will man die dann ha-
ben? Man könnte ja auch einfach sa-
gen: Was soll’s, früher war früher. An
das Wesentliche erinnert man sich ja
noch. Ein Kollege von mir, der alle
F.A.S.-Ausgaben aufbewahrt und
auch alte Magazine nachkauft, wun-
dert sich über sich selbst. Er meint:
Die Jahre bringt mir das auch nicht
zurück.
Ich glaube nicht, dass es darum geht,
die Zeit zurückzudrehen. Sondern sich
einfach vor Augen zu führen, wie wir ge-
dacht haben, wie wir selbst und wie
Journalisten unser Leben interpretiert
haben. Da gibt es viele Parallelen zu
heute – manche Sachen sind aber auch
total überholt. Ich habe jetzt sieben
oder acht von den Heften, die du mir
geschickt hast, gelesen und manchmal la-
chen müssen, weil die Dinge schon so
weit weg sind.

Was zum Beispiel?
Der Discman. Die Probleme, die man
hatte, wenn man den irgendwohin mit-
nehmen wollte. Man durfte nicht zu
schnell gehen, auch nicht springen. An-
derer Fall: die Anfänge des Internets.
Wie wir da damals rangegangen sind,
finde ich unglaublich interessant.

Was hast du jetzt vor mit den Hef-
ten? Liest du sie alle und wirfst sie
dann wieder weg? Oder hebst du sie
auf für deine Kinder?
Ich habe ein besonderes Regal für sol-
che Dinge. Da stehen Bücher drin, die
ich gelesen habe, die ich vielleicht noch
mal lesen werde, aber auf jeden Fall be-
halten will. Und da haben auch die Hef-
te einen Platz gefunden. Ich habe dafür
zwar was umsortieren müssen, aber
nichts weggeworfen. Die Hefte werden
nach Lust und Laune rausgeholt. Wenn
ich mal zehn Minuten Zeit habe, kann
ich mein Handy nehmen, oder ich kann
so ein Heft nehmen und darin schmö-
kern. Dafür sind sie da. Und ich hab’
sie auch schon mit anderen geteilt.
Ach so?

Ich bin noch in Kontakt mit ein paar
Leuten, die damals im „jetzt“-Kosmos
unterwegs waren, also auf der Internet-
seite zum Heft. Und mit einer Person
habe ich mich kürzlich getroffen, und
als ich der von meinen wiedererlangten
Heften erzählte, wollte sie gleich rein-
schauen. Also habe ich ihr fünf Hefte
geliehen. Die ich wiederhaben möchte!
Bewahrst du insgesamt viele Sachen
von früher auf?
Nur, wenn sie einen besonderen Wert
für mich haben. Ich habe auch viel weg-
geworfen. Aber bei mir gibt es eine
Holzkiste, wo Sachen drin sind, mit de-
nen ich was verbinde: Briefe von den
ersten Freundinnen, aber auch banale
Dinge, zum Beispiel Kronkorken von
Flaschen, die wir an irgendeinem beson-
deren Abend vor Jahren mal getrunken
haben. Da habe ich das Datum draufge-
schrieben und sie in die Holzkiste ge-
tan.
Und dann? Guckst du da manchmal
rein?
Alle paar Jahre wird diese Kiste mal auf-
gemacht. Auch mein Sohn – der ist sie-
ben – ist dann immer ganz neugierig.
Zu jedem Teil gibt’s eine Geschichte.
Plötzlich schaue ich hoch und habe zwei
Stunden Geschichten erzählt. Und er
sitzt mit großen Augen da und findet
das alles ganz toll. Mittlerweile hat er
seine eigene Kiste mit solchen Dingen.
Und wenn ich einen Freund treffen wür-
de, den ich seit fünfzehn Jahren nicht
gesehen habe, würde ich tatsächlich
noch mal nachschauen, ob ich dieses
oder jenes Teil noch habe, um dann zu
sagen: Weißt du noch?
Also sind diese Dinge, so wie auch
die alten Hefte, so was wie eine exter-
ne Festplatte deines Gedächtnisses.
Ein Tagebuch aus Dingen.
Ganz genau, so ist es.
Schmeißt du hin und wieder Dinge
weg, die du viele Jahre lang aufbe-
wahrt hast?
Nein. Ich bin kein Messie, ich werfe
schon viel weg – aber wenn ich in die

Kiste etwas hineinlege, ist klar, dass ich
das behalten möchte. Ich frage mich
aber vorher, ob die Geschichte, die ich
mit dem Gegenstand verbinde, gut ge-
nug ist und ob die Größe des Objektes
irgendwie passt. Kronkorken sind ja
zum Glück klein. Aber dann ist die Ent-
scheidung für die Ewigkeit.
Ich hatte mich gefragt, ob die Jugend
so lange dauert, wie man solche Sa-
chen wegwirft, und das Alter damit
anfängt, dass man sie zurückhaben
will. Aber das ist wohl gar nicht so.
Zumindest bei mir nicht, glaube ich.
Ich erinnere mich gern, aber ohne die
Zeit festhalten zu wollen.
Ich führe Tagebuch, da habe ich das-
selbe Gefühl. Wahrscheinlich will
man einfach gerne wissen, wer man
ist. Und das ergibt sich auch aus
dem, wer man war. Fast jeder besitzt
alte Fotos von sich. Und so etwas
Ähnliches sind vielleicht auch alte
Hefte: Schnappschüsse der Themen,
die einem mal wichtig waren.
Für mich ist immer wieder interessant,
was mir beim Lesen in den alten Hef-
ten einfällt. Neulich zum Beispiel las
ich eine Geschichte über einen jungen
Skater. Und mir fiel ein: Wir hatten ei-
nen in der Klasse, den hatte ich völlig
vergessen, aber mit dem hatte ich mich
über diesen Skater unterhalten. Viel-
leicht ist das tatsächlich meine Metho-
de, Tagebuch zu führen; das habe ich
dreimal angefangen – und nie durchge-
halten.
Kürzlich hast du auch noch „Pu-
muckl“-Schallplatten zurückgekauft,
die du als Kind gehört hast.
Ja. Ich habe den alten Plattenspieler mei-
nes Vaters vom Dachboden geholt und
mit meinem Sohn Pumuckl gehört, im
Wohnzimmer auf dem Boden sitzend.
Und mir ging das Herz auf, weil ich als
Kind selbst vor genau diesem Platten-
spieler im Wohnzimmer meines Eltern-
hauses gesessen und diese Pumuckl-Plat-
ten gehört habe.

Mit Simon Reisinger
sprach Friederike Haupt.

Ich wollte sie loswerden.


Er wollte sie haben.


Warum bloß? Ein Gespräch


über einen Stapel vergilbter


„jetzt“-Hefte und


die Liebe zum Altpapier


E


in Film stimmt, wenn seine Fi-
guren richtig rauchen. Beispiels-
weise. Wenn sie also nicht nur
paffen oder so tun, als ob. Rau-
chen ist eine Kulturtechnik zum An-
schauen und Gesehenwerden, weswegen
es auch viele Nichtraucher geben dürfte,
die erkennen, ob da jemand rauchen
kann. Im deutschen Fernsehfilm, der be-
kannt ist für seine Rücksichtslosigkeit ge-
gen das entscheidende Detail (auch
wenn die meist einfach am knappen Bud-
get liegt), ist es also ein schönes Indiz,
wenn jemand gut raucht. Wie Harald
Schrott im deutsch-deutschen Spionage-
film „Wendezeit“, der jetzt am Vorabend
des Einheitsfeiertags in der ARD lief
und in dem Schrott ein einziges Mal rau-
chen muss. Das aber richtig.
Es ist Nacht, das Leben jenes Mannes,
den Schrott spielt, ist soeben auseinan-
dergeflogen, also raucht er eine, die erste
seit langer Zeit. Dann kommt seine Frau
(Petra Schmidt-Schaller) nach Hause,
die sich als Agentin der DDR mit ihm
verkuppelt hat, um als verheiratete West-
deutsche für die Stasi bei der CIA zu
spionieren. Was er jetzt, irgendwann im
November 1989, herausfindet.
Und wie er ihr jetzt die Packung gibt
und sie stehen lässt und weiterraucht und
die beiden dann mit seiner Verzweiflung
und ihrem Betrug hadern, rauchend, ge-
hört zu den starken Momenten dieses
Films, „Wendezeit“ setzt sich deutlich ab
von den Ritualen des Fernseh-Events
zum Mauerfall – das in den vergangenen
Jahren entweder unter zottelbärtigen Dis-
sidenten aus der Umweltbibliothek spiel-
te, bei der NVA oder im Politbüro. Die
Andacht der historischen Aufklärung
fehlt hier, stattdessen ballert der Synthe-
sizer im Soundtrack, es sind ja die späten
Achtziger, ungefähr die Hälfte der zwei
Stunden wird englisch gesprochen, weil
die CIA ermittelt, amerikanische Autos
fahren durchs herbstliche Villen-Berlin –
und die vielen kleinen Augenblicke stim-
men. Wie das Rauchen, beispielsweise.
„Natürlich inhaliere ich“, sagt Harald
Schrott, der seit Jahren nicht mehr
raucht, aber man verlernt das ja trotz-
dem nie. „Deswegen fühle ich mich nach
einem Tag, an dem ich beim Dreh ge-


raucht habe, auch so elend.“ Schrott, ge-
boren 1967 auf dem Dorf im Innsbrucker
Land, ist seit Jahren einer der gefragten
Schauspieler im deutschen Fernsehen –
auch wenn man eher den Typus Mann
wiedererkennt, den er spielt, als sich an
die Filmtitel zu erinnern. Meist spielt
Schrott nämlich Figuren aus der Katego-
rie Ehemann unter Druck oder Verbre-
cher mit Dachschaden, oder den Ver-
dächtigen aus besseren Kreisen, oder
den Offizier. Er passt halt auch gut in
Kostüme (Stauffenberg, Sigmund Freud)
mit historischem Seitenscheitel.
Wie das Business der Fernsehredaktio-
nen funktioniert, wo man auf Erprobtes
setzt, weil sie beim Publikum die wohli-
ge Sicherheit des Altbekannten erzeugt,
kann man an Harald Schrotts zwanzigjäh-
riger Karriere vor der Kamera gut able-
sen. Schrott lacht, wenn man ihm seine
Stereotypen so aufzählt, ihm ist dieses
type casting natürlich bewusst – aber
auch, dass es ein Privileg ist, so oft auf be-
stimmte Rollen gebucht zu werden – wie
viele Leute in diesem Beruf kämpfen um
ihr Auskommen. „Klar hab ich das Ge-
fühl, ich saß schon zu oft im Verhörraum
vor einem Polizisten“, sagt er dann, „und
bin zu oft gejagt worden. Ich würde defi-
nitiv gern weniger Krimis drehen.“ Der
Beruf des Schauspielers sei aber „wie ein
Marathon. Es ist kein Sprint. Es gibt
Phasen, da muss man einfach durchhal-
ten, bis wieder das nächste Herzenspro-
jekt auf den Tisch kommt.“
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass
Harald Schrott in seinen Schubladen oft
sehr gut aufgehoben gewesen ist. Etwa
im Thriller „Allein gegen die Angst“ von
2006, in dem er einen Kronzeugen gegen
die Zigarettenmafia spielte, der mit sei-
ner Familie untertauchen muss. Dreizehn
Jahre ist das her, trotzdem bleibt in Erin-
nerung, wie Schrott in der letzten Szene
des Films doch noch von der Mafia er-
schossen wird. Noch so ein seltenes Erleb-
nis im konventionsverliebten deutschen
Fernsehfilm: Der Held, und ist er noch
so fragwürdig, stirbt ja nicht. Hier aber
schon. Schrott lacht, wenn er daran
denkt, was für ein Schock diese Szene
war, gedreht auf der Leipziger Straße,
nicht weit von dem Café, wo wir jetzt re-

den. „Allein gegen die Angst“ brachte
ihm eine Nominierung als bester Schau-
spieler beim Deutschen Fernsehpreis ein.
In „Wendezeit“ hätte man sich ihn des-
wegen auch gut in der Rolle des Agenten
vorstellen können, einer, der über Lei-
chen oder durch die Betten geht, aber
dann auffliegt und sich retten muss. Die-
se Rolle, geformt nach der wahren Ge-
schichte jener DDR-Agenten aus der so-
genannten „Rosenholz“-Kartei, spielt
jetzt allerdings die herausragende Petra
Schmidt-Schaller. Und Schrott also de-

ren Ehemann, einen Professor und Fami-
lienmenschen, der feststellen muss, dass
sein Leben auf den Lügen seiner Frau
aufgebaut ist. Während alle jubeln, weil
die Mauer fällt, bringt Saskia genau das
in Gefahr – und ihre Ehe mit dazu. Am
Ende arrangieren sich Saskia und Ri-
chard mit der Wahrheit eines Betrugs,
aus dem Liebe wurde. In „Wendezeit“
gibt es keinen moralischen Triumph.
Richard Starke, ein ganz normaler
Mann und die Weltgeschichte: „Es hat
Spaß gemacht, diese Freiheit und die All-

täglichkeiten zu spielen“, sagt Schrott.
Dank des allmächtigen Zufalls der Pro-
grammgestaltung ist er aber parallel jetzt
auch in seinen eher typischen Rollen zu
sehen, etwa als erfolgsgestresster, geschie-
dener Vater einer Tochter („Nachts ba-
den“, ARD) – oder, Kategorie böser Typ
in Nadelstreifen, als rechtsradikaler Ban-
kier in „Wiener Blut“. Ein Thriller, der
am heutigen Sonntag im ORF ausge-
strahlt wird und bald auch im ZDF, die-
ser Termin steht aber noch nicht fest.
„Wiener Blut“ spielt im Österreich
von heute. Und erzählt von einer Ver-
schwörung zwischen rechtsradikalen Poli-
tikern und islamistischen Terroristen, die
gemeinsam einen Anschlag am Wiener
Hauptbahnhof fingieren, um jenen End-
kampf der Kulturen zu beschleunigen,
den sich beide Extreme wünschen. „Eine
kühne, kluge Konstruktion“, sagt
Schrott über das Drehbuch von Martin
Ambrosch – tatsächlich setzt dieser atmo-
sphärische, aber letztlich plakative Film
eine Erkenntnis dieser Tage in Szene: Po-
pulisten, egal welcher Coleur, eint der ge-
meinsame Feind – die liberalen Eliten.
Gegen deren Zuversicht und Kompro-
missbereitschaft bauen die Extremisten
auf die Härte der letzten Entscheidung.
Dass es in „Wiener Blut“ um Ver-
schwörung und Korruption unter öster-
reichischen Staatsbeamten geht, wirkt,
nach dem Skandal um den FPÖ-Politi-
ker Strache und das sogenannte Ibiza-Vi-

deo, gleich gar nicht mehr ganz so fiktio-
nal. Der Film läuft eine Woche nach der
österreichischen Nationalratswahl – bei
der Harald Schrott mit abgestimmt hat.
Er lebt zwar seit Jahren mit seiner Fami-
lie in Berlin (verheiratet ist er mit der
Schauspielerin Regine Zimmermann),
aber wählen darf Schrott in Deutschland
bislang nur im Bezirk. Was er bedauert.
Auch wenn ihn noch immer beschäftigt,
was in seinem Geburtsland vorgeht.
Großgeworden ist Schrott also auf
dem Land, in Mutters bei Innbsruck,
sein Vater war Finanzbeamter, seine Mut-
ter Buchhalterin. Und wenn der Vater
einmal im Jahr auf der Dorfbühne im
Feuerwehrhaus stand, die er auch gelei-
tet hat, um in Schwänken wie „Das
Glöcklein unter dem Himmelbett“ zu
spielen, saß die Mutter im Souffleurkas-
ten. So hat es, irgendwie, angefangen mit
Schrott und der Schauspielerei: Mit dem
Anblick des Vaters auf der Bühne, den er
großartig fand, mit den Lesungen aus
der Bibel in der Kirche, die Harald als
Ministrant vom asthmatischen Pfarrer
übernahm („das hatte noch nichts mit
Schauspielerei zu tun, aber die katholi-
sche Kirche hat ja auch etwas Theatrali-
sches und Sinnliches“), mit der Theater-
gruppe in der Oberstufe: „Warten auf
Godot“, „Andorra“, „Draußen vor der
Tür“, und dann aber „Faust“, beide Teile
in drei Stunden. Schrott war Faust, sein
bester Freund Mephisto. „Größenwahn-
sinnig“, sagt Schrott und freut sich.
Dieser Freund stiftete Schrott dann je-
denfalls an, auf die Schauspielschule Inns-
bruck zu gehen, fünf Stunden pro Wo-
che, auch dann noch, als Schrott schon
Medizin studierte. Schließlich wollte er
wissen, wo er steht – und die Schule ent-
ließ ihn ein Jahr früher als vorgesehen.
Da war Schrott ausgebildeter Schauspie-
ler und keine zwanzig Jahre alt. Ging ans
Tiroler Landestheater, nach Mainz und
Ulm und ans Berliner „Gorki“, spielte
Schiller, Shakespeare, den Romeo, er
wollte zum Film und wusste nicht, wie,
und landete am Ende in Schlöndorffs
wahrem Terroristendrama „Die Stille
nach dem Schuss“. Das war im Jahr


  1. Seitdem folgte Film um Film, in
    denen Schrott Männer brüchiger Männ-
    lichkeit spielte, keine Helden, eher leise
    Kaputte, leise Zweifler, fiese Leise.
    Nicht die Helden, die den Laden schmei-
    ßen, wie er es nennt, auch wenn ihn sol-
    che Rollen reizen würden.
    „Die Sehnsucht geht immer dahin,
    dass man sich mit dem Existentiellen und
    dem Menschsein auseinandersetzt“, sagt
    Harald Schrott. „Natürlich ist oft nicht
    der Platz dafür, oder der Stoff gibt es
    nicht her. Das frustriert einen letztlich.
    Aber es ist immer dann beglückend, wenn
    man eine Wahrhaftigkeit erreicht. Und
    der renne ich natürlich hinterher.“ Und
    findet sie dann in einer kleinen Einstel-
    lung, nachts, Balkon: Einer raucht, weil es
    anders nicht mehr auszuhalten ist, und al-
    les stimmt. TOBIAS RÜTHER
    „Wendezeit“, in der ARD-Mediathek; „Wiener Blut“,
    baldim ZDF


DIE LIEBEN KOLLEGEN


VON CLAUDIUS SEIDL

Harald Schrott ist ein Mann für verspannte


Typen: Jetzt ist der österreichische


Schauspieler in gleich zwei


politisch-historischen Filmen zu sehen


Zeitschriften


zu verschenken


Der Stille nach


dem Schuss


Harald Schrott, am Mittwoch vergangener Woche in Berlin Foto Andreas Pein

Der Bankier der Verschwörung: In „Wiener Blut“ (ORF/ZDF) spielt Schrott einen rechtsradi-
kalen Strippenzieher im Österreich der Gegenwart. Foto ORF
Free download pdf