Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 06.10.2019

(Axel Boer) #1

4 politik FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40


A


lle Fotos auf dieser Seite sind Stock-
fotos, also Bilder, die auf Vorrat
produziert wurden. Das funktio-
niert so: Ein Fotograf macht
Aufnahmen zu einem Thema, zum Bei-
spiel Wahlen, obwohl gerade gar keine
Wahl stattfindet. Er fotografiert ein Sym-
bol für Wahlen, etwa eine Wahlurne
oder ein Model, das so tut, als wählte es
gerade. Große Bildagenturen stellen die-
se Fotos ins Internet. Sie schreiben dazu,
was auf den Fotos zu sehen sein soll; wie
das klingt, zeigen die Bildtexte, die wir
hier zitieren. So entstehen riesige Daten-
banken mit Fotos zu nahezu jedem The-
ma. Sie funktionieren wie Supermärkte:
Die Regale sind voll, jeder nimmt, was er
haben will, und zahlt an der Kasse. Die
Kunden sind Buchverlage, Zeitschriften,
Internetseiten, Werbeagenturen, Firmen-
kataloge, Parteien, auch kleine Vereine
und Bürgerinitiativen, die professionelle
Bilder für ihre Flugblätter wollen. Das
funktioniert ganz gut, wenn jemand zum
Beispiel eine schöne Aufnahme eines grü-
nen Apfels sucht oder ein Foto von zwei
Eheringen als Symbol für ewige Liebe.
Beim Thema Politik sieht die Sache an-
ders aus. Nämlich geradezu grotesk.
Stockfotos zeigen Politik als einen Zir-
kus, in dem Clowns die Direktoren sind.
Politik ist immer schwierig zu fotogra-
fieren. Ihr Wesen ist es, dass Entschei-
dungen getroffen, Ziele durchgesetzt,
Kompromisse gefunden werden. Dafür
gibt es keine Bilder, die jeder auf den ers-
ten Blick versteht. Viele Fotos zum The-
ma Politik sind trotzdem sofort verständ-
lich: weil bekannte Politiker darauf zu se-
hen sind. Von ihnen weiß der Betrachter
oft schon, wofür sie stehen und wie sie
sich normalerweise verhalten. Wenn
Olaf Scholz und Klara Geywitz einander
anlächeln, bedeutet das etwas anderes,
als wenn Donald Trump und Hassan Ro-
hani dasselbe tun. Aber Stockfotos ver-
zichten ja gerade auf echte Akteure; sie
zeigen Models, die beispielhaft für alle
Politiker stehen sollen. Auch Raum und
Zeit spielen meist keine Rolle. Doch die
sind oft entscheidend, um ein Foto zu
verstehen: zum Beispiel bei der Wahl in
Moldau vor einem halben Jahr. Schon
vorher hatten Beobachter befürchtet, es
könnte Wahlbetrug geben. Nachdem die
Wahllokale geschlossen hatten, machten
Pressefotografen Bilder, auf denen Mol-
dauer mit besorgten Gesichtern um ei-
nen Haufen Stimmzettel herumstanden.
Jeder konnte sich denken: Es bestand wei-
terhin Verdacht auf Wahlbetrug.
Stockfotos müssen ohne Zusammen-
hänge auskommen. Sie funktionieren
wie Parolen: Nichts zur Sache sagen –
das aber drastisch. Was rüberkommt, ist
ein Gefühl. Ein Beispiel dafür ist das
Foto zum Thema Wahlbetrug, auf die-
ser Seite unten links. Der Betrüger ist
als Einbrecher kostümiert; eine Maskera-
de, die gerade nicht die Wirklichkeit ab-
bildet, sondern das Klischee eines Die-
bes. Er hantiert mit blütenweißem Dru-
ckerpapier; Wahlzettel sehen anders aus,
egal. Ist das bloß ein bisschen holz-
schnittartig, aber im Kern schon richtig
dargestellt? Nein. Das Bild legt nahe,
dass jeder Dahergelaufene Wahlen fäl-
schen kann – ohne Unterschied zwi-
schen einer Europa- und einer Klassen-
sprecherwahl. Es reicht schon, Papier in
eine Urne hineinzustopfen oder aus ihr
herauszuziehen, was anscheinend so

leicht ist, wie aus einer Gartenlaube ei-
nen Bierkasten zu klauen. Folgerichtig
gefällt das Foto jenen, die ohnehin den
Untergang des Abendlandes wittern. So
verwendet es der neurechte Blog „eigen-
tümlich frei“. Er illustriert damit einen
Bericht über Wahlbetrug in Branden-
burg. Genauer gesagt, über einen Fall.
Der sei aber „Symptom eines kränkeln-
den Systems“, nämlich des „links-grü-
nen Konsenstheaters“.
Ein beliebtes Motiv ist auch der Politi-
ker, der lügt. Eine Variante davon ist der
Politiker, der nach außen den Anständi-
gen spielt, während er heimlich Beste-
chungsgeld kassiert. Tatsächlich lügen
manche Politiker, und manche sind be-
stechlich. Aber die Stockfotos verallge-
meinern den Einzelfall zur Norm. Sie
finden vor allem dort Verwendung, wo
Politiker grundsätzlich zu Lügnern er-
klärt werden. Zum Beispiel das Foto un-
ten rechts auf dieser Seite. Es erscheint
auf der Internetseite „Anti-Spiegel“. Sie
versteht sich als Gegenstück zum „Spie-
gel“ – mit russischer Domain. Ein Text
dort heißt „Die Friedens-Lügen“, er han-
delt von angeblichen Lügen der „westli-
chen Politiker“, wenn es um Russland
geht. Dazu erscheint das Foto des lügen-
den Politikers. Doch es findet seinen
Weg auch auf bekanntere Seiten, etwa zu
Yahoo. Dort wird über eine Umfrage be-
richtet. Danach fürchten 64 Prozent der
amerikanischen Wähler, dass Politiker
Wahlkampfspenden veruntreuen könn-
ten, die in Kryptowährungen gezahlt wer-
den. Leute haben also Angst, dass sie be-
logen werden. Dazu das Bild eines lügen-
den Politikers. Als wäre die Angst schon
die Wirklichkeit.
Fast alle Stockfotos übersetzen Wör-
ter in Bilder, statt in Bildern die Welt zu
beschreiben. Das ist oft unfreiwillig ko-
misch. Wie stellt man einen Umweltpoli-
tiker dar? Ein Mann im Anzug hält in
der Hand ein grünes Zweiglein. Wie
sieht ein amerikanischer Gesundheitspo-
litiker aus? Er steht im Anzug vor einer
amerikanischen Flagge und hält ein Ste-
thoskop in die Kamera. Eine selbstbe-
wusste Politikerin? Eine Blondine be-
trachtet wohlwollend ihr Spiegelbild in
einer Fensterscheibe. Dazu kommt, dass
Politiker in Wirklichkeit selten aussehen
wie Models; auf Stockfotos dagegen im-
mer. Wer das Bild eines älteren Politi-
kers sucht, findet distinguierte Herren
mit Siegelring und Hipsterbart, wer eine
politische Debatte sucht, einen glatten
Jüngling im Bankberater-Look, der fünf-
mal in dasselbe Foto montiert wurde. Er
und seine Klone gestikulieren wild. Hin-
ter ihnen dräut eine Weltkarte. Anschei-
nend geht es um was. Auf einem anderen
Bild betont der Fotograf die Bedeutung
einer Wahl, indem er den Himmel über
dem Wähler dramatisch bewölkt und ein-
färbt. Es braut sich also was zusammen.
Einige Bilder zeigen aber auch be-
wusst Absurdes. Zum Beispiel zwei Politi-
ker, die sich einen Boxkampf liefern.
Selbst Stockfoto-Fotografen inszenieren
ein aggressives Duell normalerweise an-
ders: Da brüllen die Gegner theatralisch,
schütteln Fäuste in der Luft und ziehen
Grimassen. Die Prügelei ist fast allen
Kunden zu albern; das Box-Foto auf die-
ser Seite hat kaum prominente Verwen-
der gefunden. Einer ist eine Satire-Seite.
Zeichnungen dieser Art kursieren dage-
gen viel auf Facebook. Dann aber mit
den Gesichtern von echten Politikern.

Lügender Politiker macht Menschen unhaltbare
Versprechungen, während er seine Finger auf dem Rücken kreuzt.

Zwei gestandene Politiker (einer männlich, einer weiblich) liefern sich einen
Boxkampf auf offener Bühne, anstatt ihre Meinungsverschiedenheiten
friedlich zu klären. Die Frau landet einen gezielten Schlag auf den Kiefer des
Mannes, wobei sie auch seine Brille erwischt.

Schriftzug „US Election“ auf Laptop-Tastatur. Hacker nutzt einen Laptop,
um das Netz anzugreifen. Cyber-Attacke, Probleme bei modernen Wahlen,
Hacken von Profilen und Leaken von Informationen

Bitte recht


übertrieben!


Lustiger Politiker macht eine Geste, die besagt: „Kein Kommentar.“
Viele Mikrofone vor ihm

Politiker nehmen an einer politischen Debatte teil.

Wahl

Selbstbewusster, reifer Politiker in schwarzem Anzug mit Krawatte
bei der Arbeit, aufmerksam schauend

Mann im Anzug mit langer Nase. Thema Lügner. Stichwörter Verlogenheit,
Politiker, Rednerpult, Geschäft, Pinocchio

Glückliche weibliche Politikerin bewundert ihr Spiegelbild in der
Glasscheibe eines Bürogebäudes. Karriere

Eine bestimmte Sorte Fotos


zeigt Models, die Politiker spielen.


Was sind das für Bilder?


Von Friederike Haupt


Thema Wahlbetrug und
Manipulation von Abstimmungen:
Ein Dieb, der Kapuze, Ski-
Maske und Lederhandschuhe
trägt, begeht Wahlfälschung
an einer Wahlurne.

Foto Adobe Stock (2), Foto Dreamstime, Shutterstock (5), iStock (3)

Korrupter Politiker
kandidiert für ein Amt,
während er Bestechungsgelder
von Lobbyisten annimmt.
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