Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 06.10.2019

(Axel Boer) #1

42 technik&motor FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40


F


reiheit und Selbstbestimmung
drohen leicht unter die Räder zu
kommen, wenn sie selbstverständ-
lich sind. Doch auch 30 Jahre
nach dem Fall der Berliner Mauer ist es
wert, daran zu erinnern, dass sie eben kei-
ne Selbstverständlichkeit sind und es sich
lohnt, jeden Tag aufs Neue dafür einzutre-
ten. In der DDR mussten Erfindergeist,
handwerkliches Geschick und eine BMW
Isetta her, um der Unterdrückung entkom-
men zu können. Beginnend 1964, flohen
nacheinander neun Menschen in dem um-
gebauten Miniaturauto. Das Meisterstück
zeigt BMW nun zum Jahrestag in einem
emotional anrührenden Kurzfilm, online
zu finden auf faz.net, Technik.
Im Mauermuseum an der Berliner
Friedrichstraße mit Blick auf den Check-
point Charlie ist das kleinste jemals ge-
nutzte Fluchtfahrzeug ausgestellt. Klaus-
Günter Jacobi (79) begleitet als Touris-
tenführer regelmäßig Besucher durch die
Museumsräume. Jacobi kennt nicht nur
die Details zahlreicher Fluchtversuche,
von ihm stammt auch die Idee, einen
Menschen im Inneren des winzigen Mo-
tocoupés zu verstecken und mit ihm un-
erkannt über die Grenze zu gelangen.
Sein bester Kumpel schaffte so die
Flucht von Ost- nach West-Berlin.
Jacobis Familie hatte den Osten der
Stadt bereits 1958, drei Jahre vor dem
Mauerbau, verlassen. Als sein langjähri-
ger Freund Manfred Koster ihn um Hil-
fe bei der Flucht aus der DDR bat, er-
sann er einen kühnen Plan. Seine BMW
Isetta sollte als Fluchtfahrzeug dienen.
Das nur 2,30 Meter lange und 1,40 Meter
breite Fahrzeug würde wohl kaum den
Verdacht der Grenzsoldaten erregen. Es
scheint in der Tat kaum möglich, einen
Menschen im Inneren zu verstecken.
Schon auf den dafür vorgesehenen Sitz-
plätzen hinter der Fronttür ist kaum aus-
reichend Platz für zwei Insassen. Das Ver-

steck für den Freund aus dem Osten ent-
stand daher hinter der Sitzbank direkt
am Motor. In seiner einstigen Lehrwerk-
statt in Berlin-Reinickendorf konnte
Kfz-Mechaniker Jacobi den Umbau vor-
nehmen. Er schnitt eine Einstiegsöff-
nung in die Abdeckung hinter der Sitz-
bank, versetzte die Ablage nach oben
und entfernte Ersatzrad, Heizung und
Luftfilter. Zudem tauschte er den 13 Li-
ter fassenden Tank gegen einen Zwei-Li-
ter-Kanister, um Platz für den verborge-
nen Passagier zu schaffen.
„The Small Escape“ zeigt, wie aus der
BMW Isetta ein Fluchtwagen wurde
und wie die riskante Fahrt über den
Grenzübergang gelang. In Budapest ent-
stand mit Requisiten, Kostümen, Fahr-

zeugen und Straßenansichten ein origi-
nalgetreues Abbild Berlins der 1960er
Jahre. Dabei sorgt der Nachbau eines
Checkpoints samt Mauer und Grenz-
streifen für eine beklemmende Atmo-
sphäre, die sich im Film immer weiter
steigert und schließlich in einem Happy
End auflöst. „Autos haben den Men-
schen seit ihrer Erfindung Freiheit und
Selbstbestimmtheit gebracht. Autos brin-
gen Menschen zusammen. Die bewegen-
de Fluchtgeschichte mit Hilfe des Isetta
ist auch sinnbildlich dafür zu sehen,
welch unschätzbaren Wert Autos und
die Möglichkeit der individuellen Mobi-
lität haben können. Es geht um Freiheit,
Unabhängigkeit und Träume. Unser
Film würdigt den Antrieb und den Mut

der Menschen, die diese Flucht damals
ermöglicht haben“, sagt Jens Thiemer,
Leiter Markenführung BMW.
Am 23. Mai 1964, kurz vor Schließung
des Grenzübergangs um Mitternacht,
rollte die von Klaus-Günter Jacobi umge-
baute BMW Isetta unter dem geöffneten
Schlagbaum hindurch. Kurz darauf konn-
te Jacobi seinen Freund Manfred aus
dem Versteck hinter der Sitzbank befrei-
en. Für Jacobis Isetta war dies der einzi-
ge Einsatz als Fluchtfahrzeug, doch sein
Coup fand Nachahmer. Mit einer weite-
ren, ähnlich umgebauten Isetta gelang in
den folgenden Jahren acht weiteren
DDR-Bürgern die Flucht in den Wes-
ten. Dieses Fahrzeug ist heute im Muse-
um zu sehen.

Planwirtschaft: Raum für einen Menschen schaffen, wo keiner ist

D


as derzeit teuerste Motorrad
von Harley-Davidson – hat
drei Räder. Es ist also genauge-
nommen gar kein Motorrad,
sondern ein Trike. Beziehungsweise ein
Motorrad für all jene, die nicht Motor-
rad fahren wollen oder können oder dür-
fen.Es fällt nicht um, es fährt aufrecht
durch die Kurve, es heißt CVO Tri Glide
und kostet 53 495 Euro zuzüglich 1260
Euro Transport- und Aufbaupauschale,
summa summarum 54 755 Euro.
Zum ersten Mal in der Vereinsge-
schichte bietet Harley-Davidson ein
CVO-Sondermodell eines Trikes an. Bis-
her waren das immer nur Einspurfahr-
zeuge, seit dem Jahr 1999, als das Unter-
nehmen die Custom Vehicle Operations
in Dienst stellte. CVO nennt sich die
Spezialeinheit, die Jahr für Jahr beson-
ders aufwendig gestaltete, oft rasch aus-
verkaufte Maschinen in streng limitierter
Auflage fertigt. Räumlich vom Rest der
Produktion getrennt, montieren in den
Harley-Werken speziell geschulte Mitar-
beiter etwa zwei Motorräder am Tag. Je-
weils eine Person ist für ein Fahrzeug ver-
antwortlich, das an fünf Arbeitsstationen
entsteht und nicht an 15 bis 25 Stationen
wie im Fall der gewöhnlichen Modelle.
Vom Rest des Programms heben sich
CVO-Versionen durch besonders mehr-
farbige Effekt-Lackierungen, durch Ma-
terialien, technische Weiterentwicklun-
gen und Finessen in der Ausstattung ab,
die mit Zeitverzögerung manchmal den
Weg ins Serienportfolio finden. Diesmal
ist das beispielsweise eine Kurvenlicht-
funktion im Scheinwerfer. Stets werden
ausschließlich die CVO vom hubraum-
stärksten Motor angetrieben, den die
Amerikaner zu bieten haben. 2020 ist das
der 1923 Kubikzentimeter große Milwau-
kee-Eight 117 mit Vierventilköpfen, Dop-
pelzündung, „High-Performance-No-
ckenwelle und Screamin’-Eagle-Luftfil-
ter, der etwas mehr als hundert Pferde-
stärken sowie je nach Modell ein Dreh-
moment von rund 170 Nm lockermacht.
Zum Modelljahr 2020 rollen der Super-
tourer FLHTKSE CVO Limited für
43 155 Euro, der Hot-Rod-Bagger

FLHXSE CVO Street Glide für 40 555
Euro und ebendie CVO Tri Glide. Die
teuerste Harley hat auch den längsten
Modellcode von allen: FLHTCUTGSE.
Wem beim Anblick spontan ein Ken-
taur – vorne Mensch, hinten Pferd – in
den Sinn kommt, der liegt nicht ganz
falsch. Um ein Mischwesen handelt es
sich auch bei der FLHTCUTGSE, die
in einer limitierten Auflage produziert
wird. Vorne bis zum Sattel eindeutig ein
Motorrad im Stil eines Harley-Tourers
mit Batwing-Verkleidung, hinter dem Sat-
tel ein ausuferndes Hinterteil mit 215er
Reifen an der Starrachse. In Deutschland
erlaubt das Straßenverkehrsreglement,
dergleichen mit dem Autoführerschein
zu bewegen. Nicht aber in Amerika. Dort
wird die Motorradlizenz verlangt. Den-
noch sind Dreirädrige dort viel beliebter
als hierzulande.
In den Vereinigten Staaten rangieren
Trikes unter den Top 10 der meistver-
kauften Harleys. Dort mischen sich de-
ren Fahrerinnen und Fahrer wie selbst-
verständlich unter die Motorräder, ohne
das Gefühl zu haben, sich genieren zu

müssen, weil sie sich ein Motorrad viel-
leicht nicht (mehr) zutrauen. In Deutsch-
land scheinen echte „Biker“ beim An-
blick eines Trikes zu verkrampfen und
sich schwerzutun, ein Dreirad als Teil ih-
rer Welt zu akzeptieren.
Sollte die CVO Tri Glide, selten, wie
sie ist, irgendwann irgendwo mal auftau-
chen, wird sie Eindruck hinterlassen.
Das pompöseste Trike seit der Antike
wird in zwei Farbkompositionen angebo-
ten. Eine davon heißt „Blizzard White
Pearl with Lightning Silver & Storm-
cloud“, die andere „Black Stardust with
Magnetic Gray & Wicked Red“. Man
hat also die Wahl zwischen Weiß und
Schwarz. Die Weiße zeichnet sich durch
Tomahawk-Räder mit „Gray Contrast
Cut und Applikationen in Bright
Chrome“ aus. Die Schwarze hat Toma-
hawk-Räder mit „Gloss Black Contrast
Cut“. Feinheiten, die zählen.
Zwischen den Tomahawk-Hinterrä-
dern findet sich ein 125-Liter-Stauraum
mit Funkfernentriegelung und Innenbe-
leuchtung, darüber noch ein 65-Liter-
Topcase und obendrauf ein Gepäckträ-

ger. Für Boston–San Diego reicht das
ebenso wie für den Ritt von Neapel zum
Nordkap. Navi und Farbbildschirm wei-
sen den Weg. Die Lenkerarmaturen sind
beleuchtet, Griffe und Sitze beheizbar,
Rückenlehnen vorhanden, Das „Boom!
Box GTS Infotainmentsystem“ tönt mit
300 Watt aus vier Lautsprechern, ein ka-
belloses Headset zählt zum Lieferum-
fang, „H-D Connect“ vernetzt Trike
und Smartphone. Der elektrisch betrie-
bene Rückwärtsgang verhindert, dass die
Besatzung mit ihrem 580-Kilo-Trumm
strandet, das gekürzte Frontschutzblech
gewährt „einen freien Blick auf das Cus-
tom-Vorderrad“. Pedale, Fahrer- und Bei-
fahrertrittbretter sowie die Schalldämpfer-
endkappen entstammen der „Kahuna-
Kollektion“, wie Harley-Davidson her-
vorhebt.
Etwas Besonderes ist in jedem Fall der
Motor vom Typ Milwaukee-Eight 117,
mit 117 Kubikzoll Hubraum – 1923 Kubik-
zentimeter – das mächtigste ab Werk ver-
baute Triebwerk der Amerikaner. 168
Newtonmeter setzt es frei, schon bei
3500 Umdrehungen. Die Spitzenleistung

beträgt laut Datenblatt 109 PS (80 kW)
bei 5450/min, das ruhige Bollern treibt
keine Bürgerinitiative auf die Barrika-
den. Angetrieben werden beide Hinterrä-
der, die Übertragung der Kraft erfolgt
über Zahnriemen und Differential. Die
Verwaltung der Kraft wird durch Har-
ley-Davidsons auch in den Touring-Zwei-
rädern neu eingeführtes RDRS-System
vereinfacht: Kombi-Bremssystem, Kur-
ven-ABS und Traktionskontrolle sind
hier speziell aufs Dreirad ausgelegt.
Und wie fährt sich das? Von früheren
Versuchen mit Harley-Trikes wissen wir:
Sperrig. Unhandlich. Gewöhnungsbe-
dürftig. Für Schräglagen liebende Motor-
radfahrer auf der Höhe ihrer Schaffens-
kraft keine Option. Man legt sich nicht
mit dem Fahrzeug in die Kurve, sondern
nur mit dem Oberkörper. Verglichen mit
der Eleganz des Dahingleitens auf einem
Zweirad ist es ein Gewürge. Abbiegen be-
deutet einen ausholenden Kraftakt am
Lenker, wobei darauf zu achten ist, mit
dem Heck nicht irgendwo hängen zu
bleiben. Andererseits zählt aber nur dies:
Das Trike gibt manch einem die Mög-

lichkeit, dabei zu sein, statt zu Hause zu
bleiben, weiterhin mit den Freunden auf
Tour zu gehen, beim Harley-Treffen die
Parade mitzufahren, statt nur vom Stra-
ßenrand aus zuzuschauen. Im Fall der
CVO Tri Glide können wir leider keine
Fahreindrücke schildern. Am Tag vor un-
serer geplanten Proberunde kam ein Kol-
lege aus Indien vom rechten Weg ab,
nutzte die Testmaschine für Rodungsar-
beiten und schlug eine 50 Meter lange,
54 755 Euro teure Schneise ins Unter-
holz. Merke: Auch mit einem Trike muss
man umgehen können. Der Inder kam
zum Glück glimpflich davon.
In der Beurteilung kommt es auf den
Blickwinkel an. Aus Sicht des Motorrad-
fahrers: Na ja. Aus der Perspektive des
Autofahrers: Lässig! 600 Kilo ohne Um-
fallgefahr! Stabil, gar nicht mal so un-
handlich. Und beinahe so komfortabel
wie ein gut ausgestattetes Audi A4 Ca-
briolet, das man etwa zum gleichen Preis
bekäme, das aber weder Kahuna-Pedale
noch Dreifach-Zierlinien zu bieten hat
und schon gar keinen freien Blick aufs
Custom-Vorderrad.

30 Jahre nach dem Mauerfall: BMW zeigt


dieSehnsucht nach Freiheit und


Selbstbestimmung in einem bewegenden


Film.


Von Holger Appel


Im Grenzbereich: Mit der Isetta das Unmögliche möglich gemacht Fotos BMW

Wir hatten eine


Verabredung mit der


Teuersten aller


Harleys. Doch dann


kam etwas dazwischen.


Von Walter Wille


Kleine Flucht


Au


dreia


Wirft so schnell nichts um: Die CVO Tri Glide sieht von vorn aus wie ein Motorrad von Harley-Davidson und wirkt von hinten mit dem dritten Radetwas adipös. Foto Hersteller
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