Süddeutsche Zeitung - 07.10.2019

(Michael S) #1
Die Mehrheit der Weltbevölkerung arbei-
tet inSchattenmärkten. Mit zunehmender
Tendenz. Die Märkte sind geprägt durch
Selbst- und Fremdausbeutung, die Armut
vieler und den Wohlstand vieler, findige
Unternehmer und skrupellose Kriminelle.
Aber illegale Marktteilnehmer agieren oft
auch überraschend friedlich, kooperativ
und kreativ, um Geschäfte im rechtsfreien
Raum zu ermöglichen. Bisweilen entsteht
neben der Schattenwirtschaft sogar ein
soziales Schattensystem. Das Buch ist ein
Gemeinschaftswerk der drei Forscher
Matías Dewey, Nina Engwicht und Annette
Hübschle und des Wirtschaftsjournalisten
Caspar Dohmen. sz

Matías Dewey, Caspar Dohmen, Nina Engwicht, An-
nette Hübschle: Schattenwirtschaft. Die Macht der
illegalen Märkte. Wagenbach Verlag, Berlin 2019,
176 Seiten, 20 Euro.

Kleine Zeitungen machen auch einen groß-
artigen Fotografen kleiner: Nicola Scafidi,
geboren im Jahr 1925, gestorben im Jahr
2004, arbeitete hauptsächlich für eine
Zeitung namens L’Ora, die in Palermo
erschien und nach dem Zweiten Weltkrieg
der Kommunistischen Partei gehörte.
Überregionale Bedeutung besaß das Blatt
vor allem seiner unerschrockenen Bericht-
erstattung über die Mafia wegen. Daher
gibt es etliche Fotografien Nicola Scafidis,
die Opfer der Bandenkriege zeigen. Andere
dokumentieren die Auftritte der nationa-
len Politik in Palermo, Sportereignisse,
bäuerliches und städtisches Leben, kurz:
Er machte alles, was zur Arbeit eines
Zeitungsfotografen in der Provinz gehörte.


Einige seiner Werke indessen, seine Foto-
grafie Pier Paolo Pasolinis zum Beispiel,
vor Eisenbahnwaggons stehend, oder die
Fotografie eines Jugendlichen, der in ei-
nem Weinberg von der Mafia hingerichtet
worden war, sind in das kollektive Bild-
gedächtnis Italiens eingegangen.
In der „Casa del Cinema“ in Rom, einem
kommunalen Programmkino, das über
einige Ausstellungsräume verfügt und im
Park der Villa Borghese liegt, ist gegen-
wärtig und für kurze Zeit (bis 13. Oktober)
eine Schau mit bislang unveröffentlichten
Arbeiten Nicola Scalfidis zu sehen: fünfzig
Schwarz-Weiß-Bilder, die er im Sommer
1962 aufnahm, als ihn der Regisseur Luchi-
no Visconti engagiert hatte, um die Aufnah-

men für den „Leoparden“ zu dokumentie-
ren, die Verfilmung des Romans von Giu-
seppe Tomasi di Lampedusa. Gewiss, der
Besucher sieht wieder einmal das Bild, in
dem Burt Lancaster in der Rolle des altern-
den Don Fabrizio mit Claudia Cardinale
tanzt, der Tochter des neureichen Bürger-
meisters. Aber es gibt auch anderes, in die-
ser Form nie Gesehenes zu betrachten: die
Herrichtung des Fürstenpalastes für die
Dreharbeiten, die Vorbereitungen für die
erste Szene, ein heldenhafter Sprung eines
jugendlichen Alain Delon über die Barrika-
den bei der Eroberung der Kalsa durch die
Truppen Garibaldis (unser Bild). Die Szene
kommt im Buch gar nicht vor, aber sie ist
beinahe so großartig wie diese Fotografie.

Der Anlass der Ausstellung ist ein Jubilä-
um: Es ist sechzig Jahre her, dass Giuseppe
Tomasi di Lampedusa für „Il Gattopardo“
posthum den „Premio Strega“ erhielt, die
höchste Auszeichnung, die es in Italien für
ein italienisches literarisches Werk gibt. Es
gibt rundere Jubiläen, und dieser Jahres-
tag ist erkennbar nur ein Anlass, um an ei-
nen sizilianischen Fotografen zu erinnern,
der bei einer zu kleinen Zeitung arbeitete,
als dass er berühmt hätte werden können.
Sie ist aber auch, nicht zuletzt im Bild des
springenden Alain Delon, eine Reminis-
zenz an heroische, sich aber letztlich in der
Geschichte verlaufende Auftritte: im Buch,
im Film und zuletzt in der Fotografie.
thomas steinfeld

von maike albath

E


s ist ein großer Moment: Don Fabri-
zio Salina führt Angelica, die strah-
lende Verlobte seines Neffen Tancre-
di, in die palermitanische Gesellschaft ein.
In den prachtvollen Sälen des Palazzo Pon-
teleone wird das Familienoberhaupt plötz-
lich von Schwermut ergriffen. Das alte
Sizilien? Verloren! Die glanzvolle Haus-
haltsführung? Nichts als Theater! Seit der
nationalen Einigung 1861 im Vorjahr ver-
sinkt die Welt, der er sich zugehörig fühlte,
und der Fürst spürt Todesnähe. Doch als
ihn seine zukünftige Nichte zum Walzer
auffordert und er mit ihr das Parkett be-
tritt, fallen mit jeder Drehung Jahrzehnte
von seinen Schultern. Don Fabrizio sticht
noch einmal seinen Neffen aus, umfasst
mit seinen „Pranken“ die Taille Angelicas
und bewegt seinen mächtigen Körper,
ganz wie der stolze Leopard auf seinem
Wappen, mit kraftvoller Eleganz. Die Gäs-
te weichen bewundernd zur Seite.

Es ist dieser weit ausgreifende Walzer-
takt, den auch die Neuübersetzung von
Burkhart Kroeber in sich trägt. Zum ersten
Mal entfaltet Tomasi di Lampedusas Ro-
man „Der Leopard“ über den Epochen-
bruch nach Garibaldis Eroberung der Insel
den Schwung des Originals und die vibrie-
rende untergründige Ironie. Das liegt an
der Präzision auf lexikalischer Ebene, dem
Sensorium für Soziolekte und vor allem an
der Sorgfalt im Satzbau. Kroeber setzt
Akzente, variiert die Verbstellung, arbeitet
mit Inversionen, retardiert oder rafft,
wodurch das Gefüge einen eigenen Rhyth-
mus gewinnt. Denn die großartigen Ta-
bleaus Tomasis, die auf acht Kapitel ver-
teilt sind und die Zeit zwischen 1860 und
1910 umfassen, werden mit dem erzähleri-
schen Gestus des 19. Jahrhunderts ent-
worfen. Zugleich durchlöchern innere
Monologe immer wieder die Allwissenheit
des Erzählers. Manchmal sind es Nuancen.
Der näselnde Tancredi, der sich Garibaldi
anschließen will, besäße eben einen ju-
gendlichen Elan, heißt es, „überrascht zu
sein war jedoch wohl erlaubt“ endet der
Satz, und urplötzlich landen wir im Kopf
Don Fabrizios. Kroeber arbeitet das Form-
vollendete an Tomasis Schreibweise her-
aus: „Um vier Uhr nachmittags ließ der
Fürst Chevalley ausrichten, er erwarte ihn
nun im Arbeitszimmer. Es war dies ein
vergleichsweise kleiner Raum...“ Ungleich
hölzerner die Version von Giò Waeckerlin
Induni, die 2004 erschienen war: „Um vier
Uhr nachmittags ließ der Fürst Chevalley
bestellen, dass er ihn im Arbeitszimmer
erwarte. Es war ein kleiner Raum...“
Bei der Unterredung wird Don Fabrizio
dem piemontesischen Abgesandten Che-
valley, der ihm ein Amt anträgt und den
Fürsten für den Wandel Italiens gewinnen
will, eine Absage erteilen. Sizilien sei nicht
zu retten, stellt er fest und empfiehlt ausge-

rechnet Angelicas Vater für den neuen
Senat. Dieser Mann, ein Emporkömmling
und Prototyp eines Mafioso, soll das Vaku-
um füllen, das seine eigene, passive Gesell-
schaftsklasse hinterlassen hat. Obwohl
„Der Leopard“ mit Tancredis sprichwörtli-
chem Ausruf „Wenn wir wollen, dass alles
so bleibt, wie es ist, muss alles sich ändern“
beginnt, erzählt Tomasi di Lampedusa vor
allem vom Wandel. Der Opportunist Tan-
credi heiratet die schwerreiche Angelica
mit ihrer appetitlichen Sahnehaut und
sichert sich dadurch seine Position. Don Fa-
brizios eigene Tochter Concetta, die sehr
viel standesgemäßer gewesen wäre, endet
als alte Jungfer und Reliquiensammlerin.
Liebesgeschichte, ätzendes Gesell-
schaftsporträt, eine politische Analyse mit
Anklängen an Machiavelli – Tomasi di
Lampedusa, der seinen Roman kurz vor
seinem Tod 1957 beendete und die Ver-
öffentlichung im Jahr darauf nicht mehr
erlebte, hat viel zu bieten. Dass sein Haupt-
werk nun zum dritten Mal auf Deutsch er-
scheint, ist mehr als gerechtfertigt. Die ers-
te, durchaus angemessene Übersetzung
von Charlotte Birnbaum aus dem Jahr
1959 ist in die Jahre gekommen. Wer sie
liest, fühlt sich wie in der staubigen, über-
ladenen Wohnstube einer Großtante. Bei
Birnbaum heißt es „Gesumm“, wenn von
mehreren Stimmen die Rede ist, was bei
Kroeber zu „Gemurmel“ wird. Frauen sind
„füllig“ statt „üppig“, die Sonne „beglänzt“
den Fürsten, statt einfach nur zu scheinen.
Bei Waeckerlin Induni „leuchtet“ sie gar.
Während Don Fabrizio bei Kroeber sich
die Wange anschaulich „schabt“, „rasiert“
er sich bei Birnbaum nur. Waeckerlin Indu-
ni, deren Syntax insgesamt ungeordneter
wirkt, verfehlt häufig das Register. Bei ihr
ist anbiedernd von „Nackedeis“ oder von
„Gspusi“ die Rede, dann aber bei schlich-
ten Eukalyptusbäumen steif von „Euka-
lypten“ und von „Gestade“, wenn „Küste“
gereicht hätte.
Besonders schön sind bei Kroeber die
Wechsel zwischen wohlerzogenem Geplau-
der, den frivolen Bemerkungen Tancredis,
den salbungsvollen Formeln des Paters
und dem politischen Pathos der Einheit.
Wie Walter Benjamin in seinem Aufsatz
„Die Aufgabe des Übersetzers“ feststellte,
altert die Sprache einer Übersetzung
anders und schneller als die des Originals.
Mit beeindruckender philologischer Ge-
nauigkeit bildet Burkhart Kroeber Tomasi
di Lampedusas sinnliche Schilderungen
und kraftvollen Bilder im Deutschen nach.
Er legt dem Klassiker einen neuen Königs-
mantel aus Sprache um, ganz wie es einem
Leoparden gebührt.

Die Flucht über die Mauer zählt zu den
heroischen Erzählungen des geteilten
Deutschlands. Ein typischer Weg aus der
DDR war sie nicht. Die meisten Ausreise-
willigen kämpften sich vielmehr mit Anträ-
gen durch den bürokratischen Dschungel
der SED. Auch dies war ein Wagnis mit un-
gewissem Ausgang, das oft Repressionen
bescherte. Immerhin 570 000 DDR-Bürger
gelangten so nach dem Mauerbau in die
Bundesrepublik. Wie die Regeln für eine
derartige Ausreise ausgehandelt wurden,
zeigt Frank Wolff in seinem neuen Buch.
Die fast tausendseitige Habilitations-
schrift ist über weite Strecken sicher kein
Lesevergnügen. Allein neunzig Seiten be-
nötigt die Einleitung, um das Thema zu um-
reißen, und die Kapitel verlieren sich oft in
den Details bürokratischer Ränkespiele.
Dennoch liest man vieles mit Gewinn. Weg-
weisend ist bereits der Ansatz, die inner-
deutschen Übersiedlungen als Teil der Mi-
grationsgeschichte zu fassen.


Konzeptionell spürt Wolff Migrations-
regimen nach, also grenzübergreifenden
Aushandlungsprozessen zwischen Flucht-
willigen, Politikern und medialer Öffent-
lichkeit über Ausreiseformen. Dieses hart-
näckige Ringen um Regeln setzte gleich
nach dem Mauerbau ein und veränderte
sich vielfältig.
Bekanntlich ließ die SED zunächst fast
nur „Arbeitsunfähige“ ausreisen, beson-
ders Rentner und schwer Erkrankte. Wer
genau raus durfte, war unklar und um-
kämpft. Wolff zeigt, wie die SED und das
Innenministerium in den Bezirken über
Einzelfälle stritten. Zumindest einzelnen
„Arbeitsfähigen“ erlaubten sie die Ausrei-
se, wenn es um eine Zusammenführung
der engsten Familie ging. Die SED ließ
freilich die Regeln für die Ausreise bewusst
vage und inkonsistent, um ihre Macht


auszuspielen und zu disziplinieren. Mal
kamen besonders Verzweifelte frei, mal
entließ sie systemtreue Menschen mit
Partnern im Westen, die dort dienlich sein
sollten. Kindern von „Republikflüchtigen“
verweigerte sie meist die Ausreise. 1964 ka-
men etwa 2500 zurückgelassene Kinder in
Heime, rund 1500 zu Angehörigen. Damit
erpresste die SED mitunter erfolgreich
eine Rückkehr der Geflohenen.
Das Buch zeigt mit zahlreichen selbst
erstellten Statistiken, wer wann die DDR
verlassen durfte. Ab Mitte der 1970er-Jah-
re stellten immer mehr „Arbeitsfähige“
Anträge, mit wachsendem Erfolg. Weniger
die KSZE-Schlussakte 1975 als den Grund-
lagenvertrag zwei Jahre zuvor sieht Wolff
als Ausgangspunkt dafür, da die Annähe-
rung den Ausreisewunsch und das Selbst-
bewusstsein gesteigert habe. Die inter-
nationale Anerkennung der DDR zwang
die SED, stärker internationale Normen
einzuhalten. Dabei zitiert das Buch zahl-
lose Anträge, die sich laienhaft auf Men-
schenrechte, internationale Vereinbarun-
gen und die KSZE-Akte beriefen.
Weniger die Politik, Medien oder Amnes-
ty International, als die vielen Eingaben
und Anträge nagten damit an den Papier-
mauern der SED. Erich Honecker zeichne-
te 200 bis 400 Anträge pro Monat persön-
lich ab. Dies unterstreicht die politische
Relevanz jeder Ausreise, aber auch den
hilflosen Versuch der SED, die Kontrolle
hierüber zu bewahren. Dass die SED 1984
mit einem Schlag 40000 Bürger entließ,
um den aufgestauten Berg von Anträgen
abzubauen, schuf neue Sehnsüchte. Vor
allem durften nun überwiegend Arbeits-
fähige mit Kindern die DDR verlassen.
Viele Antragssteller wandten sich nach
abgelehnten Anträgen nicht nur direkt an
Honecker, sondern auch an westliche Für-
sprecher. Ihre Appelle an Politiker oder die
Gesellschaft für Menschenrechte hatten
freilich selten Erfolg. Gerhard Löwenthal
präsentierte in seinem „ZDF-Magazin“
regelmäßig im „Hilferuf von drüben“ Ein-
zelschicksale. Dies, so Wolff, bescherte

zwar eher Nachteile für die dort gezeigten
Menschen, hielt aber die Ausreise als The-
ma präsent. Bei den Bundesbürgern sank
jedoch die Akzeptanz für die privilegierte
Aufnahme aus der DDR. 1984 befürwor-
teten nur noch 43 Prozent der Westdeut-
schen ein besonderes Zuwanderungsrecht
für sie. Die sozialliberale Regierung thema-
tisierte die Ausreisewellen öffentlich
kaum, um die politische Annäherung nicht
zu gefährden. Und auch Unionspolitiker
betonten, man wolle die DDR nicht entvöl-
kern. Und unter den zahllosen linksalter-
nativen Menschenrechtsgruppen in West-
berlin setzte sich keine mehr für die DDR
ein. Ihnen lag Nicaragua näher als die Aus-
reisewilligen hinter der Mauer.
In jüngster Zeit wurde erneut diskutiert,
welche Rolle die Flüchtlinge für den Mauer-
fall hatten. Wolff plädiert dafür, sie als Teil
der Opposition der DDR zu fassen, auch
wenn die Fluchtmotive vielfältig waren. So
zeigt er einzelne Verbindungen zu Oppositi-
onsgruppen, insbesondere zu Kirchenkrei-

sen. Ab 1983 verschafften sich viele Ausrei-
sewillige in der DDR öffentlich Gehör. Kon-
takte untereinander seien aber selten und
lokal begrenzt geblieben. Die Ausreisebewe-
gung sei für die DDR-Opposition wichtiger
gewesen als umgekehrt. Dennoch war die
Flucht für den Niedergang der sozialisti-
schen Staaten bedeutsam.
Heute erinnern wir uns vor allem an die
Flüchtlinge in der Prager Botschaft im
September 1989. Wolff zeigt erfolgreiche
Vorläuferaktionen. Bereits 1984 kamen
58 Menschen in die bundesdeutsche „Stän-
dige Vertretung“ in Ost-Berlin, einer von
ihnen verbrannte sich aus Verzweiflung.
Ein Jahr später erreichten 350 Menschen
in der Prager Botschaft die Ausreise. Hinzu
kamen im Jahr vor dem Mauerfall einige
Kirchenbesetzungen, um die Ausreise zu
erzwingen.
Besonders 1989 erwies sich die Mauer
schon vor ihrer Öffnung als durchlässig.
Knapp 300000 Menschen verließen allein
in diesem Jahr bis zum Mauerfall die DDR,

immerhin fast zwei Prozent der Bevölke-
rung.
Der Begriff „Mauergesellschaft“ soll
unterstreichen, wie „ein Staat, der sein
Schicksal an eine migrationsregulierende
Grenze knüpfte, auf lange Sicht mit ihr fort-
gerissen wurde“. Die Mauer schottete nicht
nur ab, sondern förderte den Wunsch, sie
zu überwinden. Sie teilte und verband die
deutschen Staaten, indem sie den Wunsch
förderte, sie zu überwinden. Zu den gro-
ßen Stärken des Buches zählt, dass es den
Übersiedlern und Flüchtlingen selbst eine
Stimme gibt. Immer wieder verdeutlichen
Einzelschicksale unterschiedliche, meist
tragische Wege der Ausreise.
Wolff hat ein wichtiges Grundlagen-
werk zur deutsch-deutschen Migration
vorgelegt. Die selbst gewählte Verortung in
die Migrationsgeschichte bleibt hingegen
insgesamt etwas blass. Die Besonder-
heiten der Migration aus Ostdeutschland
werden kaum vergleichend skizziert. Auch
erfährt man nicht, was mit den Ostdeut-
schen im Westen passierte. Lebten sie sich
rasch ein oder wurden sie als „Ossis“
ausgegrenzt? Immerhin 72 000 Menschen
gingen nach dem Mauerbau wieder in den
Osten – die meisten von ihnen waren Ost-
deutsche, die nicht Fuß fassen konnten.
Auch über sie erfährt man wenig.
Nachvollziehbar ist, dass das Buch wich-
tige, aber gut erforschte Themen wie die
Fluchthilfe oder den Freikauf von Gefange-
nen ausspart. Nur angetippt wird die wach-
sende Zahl von Reisen zwischen Ost und
West. 1987 wurden laut Stasi-Angaben im-
merhin 2,2 Millionen Reisen in die Bundes-
republik und rund 2,8 Millionen nach West-
Berlin genehmigt, wie Wolff schreibt. Auch
dies unterstreicht seine Grundannahme,
dass die Mauer schon vor ihrem Fall porös
war. frank bösch

Frank Wolff:Die Mauergesellschaft. Kalter Krieg,
Menschenrechte und die deutsch-deutsche Migra-
tion 1961 – 1989. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
1026 Seiten, 36 Euro.

Zwei deutschsprachige Romane sind in
Frankreichdieses Jahr für den „Prix du
Meilleur Livre étranger“, nominiert, den
Preis für das beste fremdsprachige Buch:
Zum einen Arno Geigers Roman „Unter der
Drachenwand“, der in Frankreich bei Galli-
mard unter dem Titel „Le grand royaume
des ombres“ erschienen ist und von Olivier
Le Lay übersetzt wurde. Sowie Christoph
Heins „Glückskind mit Vater“, erschienen
bei Éditions Métailié und übersetzt von Ni-
cole Bary. Außerdem befinden sich auf der
Liste unter anderem Romane von Tommy
Orange, Michael Ondaatje und Chris
Kraus. Der Preis wird seit 1948 jährlich ver-
liehen und ging bislang unter anderem an
Heinrich Böll, Günter Grass, Robert Musil,
Isaac Bashevis Singer, Alexander Solcheni-
zyn, J. R. R. Tolkien und Witold Gombro-
wicz. sz

In der Geschichte verlaufen


Die„Casa del Cinema“ in Rom zeigt Fotografien von Viscontis Dreharbeiten zum „Leopard“


Königliches


Sprachkleid


Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman „Der Leopard“


in der Neuübersetzung von Burkhart Kroeber


Pro Monat zeichnete Honecker


zwischen 200 und 400 Anträge


persönlich ab


Giuseppe Tomasi
di Lampedusa:
DerLeopard.
Roman. Aus dem
Italienischen von
Burkhart Kroeber.
Piper Verlag,
München 2019.
400 Seiten, 24 Euro.

Deutsche mit Migrationshintergrund


„Mauergesellschaft“: Der Historiker Frank Wolff erzählt die Geschichte der Ausreisebewegung aus der DDR Caspar Dohmen über


Schattenwirtschaft


Blick nach Ost-Berlin, 1982. FOTO: ULLSTEIN BILD / JÜRGEN RITTER

Geiger und Hein


auf der Shortlist


Die Übersetzung entfaltet den
Schwung des Originals und seine
vibrierende untergründige Ironie

DEFGH Nr. 231, Montag, 7. Oktober 2019 (^) LITERATUR 13
Alain Delon springt über die Barrikaden: Im Buch kommt die Szene gar nicht vor, im Film ist sie großartig. FOTO: UFFICIO STAMPA ZÈTEMA, ROM
VON SZ–AUTOREN

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