Süddeutsche Zeitung - 07.10.2019

(Michael S) #1
von alexander hagelüken

München– Deutschlanderlebt seit zehn
Jahren einen Boom. Doch eine Studie zeigt:
Ein Großteil der Bürger fällt zurück. Die
Ungleichheit steigt auf ein historisches
Hoch. Während die SPD Vermögende stär-
ker besteuern will, entfachen Forscher
eine Debatte über den Reichtum in
Deutschland. Und Thomas Piketty behaup-
tet in seinem neuen Werk, starke Unter-
schiede zwischen Arm und Reich seien
nicht natürlich, sondern politisch gewollt.
Konservative Ökonomen argumentie-
ren seit Längerem, man müsse sich um die
soziale Spaltung nicht mehr sorgen:
Deutschland sei nur bis Mitte der Nuller-
jahre ungleicher geworden. Danach verlo-
ren Wohlhabende in der Finanzkrise Geld


  • bis heute habe sich die Ungleichheit ge-
    genüber dem Höchststand 2005 zumin-
    dest nicht verschlimmert. Dem wider-
    spricht nun die gewerkschaftsnahe Hans-
    Böckler-Stiftung: Nach ihren Berechnun-
    gen drifteten die verfügbaren Haushalts-
    einkommen schon 2013 stärker auseinan-
    der als Mitte der Nullerjahre. Seitdem klet-
    tert der Gini-Koeffizient, der Verteilung
    misst, auf einen Rekord (siehe Grafik). Die
    Bundesrepublik ist gespalten wie nie.
    Dieser Befund erstaunt, denn die Wirt-
    schaft wächst seit zehn Jahren durchge-
    hend. Die Löhne nahmen zu – aber eben
    sehr unterschiedlich. Während die Mitte
    profitierte, fielen die 40 Prozent Haushalte
    mit den niedrigsten Verdiensten zurück.
    Und die Reichen kassierten hohe Firmenge-
    winne und Kapitaleinkommen. So wurde
    Deutschland ungleicher.
    Gerade die Immobilienhausse vergrö-
    ßerte die Gegensätze. Weil sich die Haus-
    preise in den Großstädten binnen zehn Jah-
    ren verdoppelten, nahm das Vermögen der
    Deutschen um drei Billionen Euro zu. Ein
    gewaltiger Wert, weit mehr als die gesam-
    ten Staatsschulden. Mehr als die Hälfte des
    Wertzuwachses floss in die Taschen der
    reichsten zehn Prozent, rechnet der Bon-
    ner Ökonom Moritz Schularick vor.


Welche Gräben in der Bundesrepublik
klaffen, zeigt eine neue Untersuchung von
Markus Grabka und Christoph Halbmeier
vom Deutschen Institut für Wirtschaftsfor-
schung (DIW). Demnach besitzt ein Pro-
zent der reichsten erwachsenen Deut-
schen fast ein Fünftel des Nettovermögens


  • so viel wie drei Viertel der Bevölkerung.
    Die ärmeren 50 Prozent, etwa 40 Millionen
    Menschen, haben zusammen gerade ein-
    mal ein Prozent des gesamten Besitzes.
    Während die deutschen Ökonomen im-
    mer intensiver über den Reichtum disku-
    tieren, greift Altmeister Thomas Piketty
    wieder ein. Jahrzehntelang vernachlässig-
    ten Ökonomen die Ungleichheit, obwohl Ar-
    me und Reiche spätestens seit den 90-er-
    Jahren in den Industriestaaten auseinan-
    derklaffen. 2014 setzte Piketty das Thema
    quasi allein oben auf die Agenda: Mit dem
    Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, das
    sich mehr als zwei Millionen mal verkauf-
    te. Jetzt legt der Franzose einen neuen
    1200-Seiten-Ziegel nach. „Capital et idéolo-
    gie“, das im Januar auf Deutsch heraus-
    kommt, ist eine Weltgeschichte der Un-
    gleichheit, befindet ein Rezensent. Eine
    zentrale These: Die Unterschiede zwischen
    Reichen und Ärmeren sind weder natür-
    lich noch notwendig – das reden die Eliten
    den Menschen nur seit Jahrhunderten ein,
    aktuell etwa durch eine „Verherrlichung
    des Eigentums“. Der Neoliberalismus ver-
    kauft die moderne Ungleichheit als ge-
    recht, indem er sie als Ergebnis freier Ent-
    scheidungen hinstellt, „bei dem jeder und
    jede Einzelne die gleichen Chancen auf ei-
    nen Zugang zum Markt und zum Eigen-
    tum hat, und wo jeder spontan von der Ak-
    kumulation der Reichsten profitiert“.
    Trickle-down heißt diese Ideologie seit
    US-Präsident Ronald Reagan. Sie erlaubt


es, „die Verlierer aufgrund ihrer fehlenden
Verdienste, Tugenden und ihres mangeln-
den Einsatzes zu stigmatisieren“. Die Ärme-
ren sind also selber schuld an ihrer finanzi-
ellen Misere.
Piketty warnt, ohne ein besseres Wirt-
schaftssystem zerstöre fremdenfeindli-
cher Populismus die kapitalistische Globa-
lisierung. Und schlägt Korrekturen vor: Bil-
dungspolitik, die auch auf Menschen mit
Startnachteilen ausgerichtet ist, höhere
Erbschaft- und Vermögensteuern, Kapital

für jeden Bürger (in Frankreich beispiels-
weise 120 000 Euro).
Der 48-jährige Franzose ist kein Apoka-
lyptiker, er glaubt an die Kraft positiver
Ideen. So habe die Sozialdemokratie die Ge-
sellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg
durch Arbeitnehmerrechte und Umvertei-
lung von oben nach unten geprägt. Gegen-
über der Globalisierung aber versage sie.
Eine der sozialdemokratischen Partei-
en, die angesichts schwindender Wähler-
stimmen um Kurs und Existenz ringt, ist

die SPD. Sie wendet sich nun der Ungleich-
heit zu wie lange nicht. Gerade wird ein
Konzept präzisiert, die vor einem Viertel-
jahrhundert ausgesetzte Vermögensteuer
wieder einzuführen. Und eines der aus-
sichtsreicheren Bewerber-Duos um den
Parteivorsitz, Saskia Esken und Norbert
Walter-Borjans, will die Verteilungsfrage
ins Zentrum der SPD-Strategie stellen.
„Ungleichheit gefährdet unser Zusammen-
leben, sie schmälert die Lebensqualität der
Mehrheit“, formuliert Walter-Borjans.
Forscher haben eine Reihe Vorschläge,
wie sich Arm und Reich annähern ließen.
DIW-Ökonom Markus Grabka ruft die Poli-
tik auf, Vermögensbildung stärker zu för-
dern – und die Mittel mindestens auf zwölf
Milliarden Euro im Jahr zu verdreifachen.
So viel gab der Staat 2004 aus, seitdem
spart er. „Darüber hinaus bietet sich an,
die private Altersvorsorge stärker an Mo-
dellen aus dem Ausland wie in Schweden
zu orientieren, die eine weitaus höhere Ren-
dite erzielen als Riester-Renten“.
Dorothee Spannagel von der Böckler-
Stiftung empfiehlt mehr Tarif- und Min-
destlohn. Es brauche „als Hilfe zur Selbst-
hilfe passgenaue Umschulungen für Lang-
zeitarbeitslose und unbürokratische Bera-
tung bei Schulden oder Sucht“. Und sie for-
dert mehr Steuern auf Topeinkommen, ho-
he Erbschaften und Kapitalerträge. Das ist
ein Sound, der Thomas Piketty gefallen
dürfte.

Frankfurt– Für29,99 Euro nach Antalya,
für 39,99 Euro nach Djerba oder Jerez de la
Frontera – wer Condor fliegt, fliegt mit ein
bisschen Glück gerade sehr günstig. Auf
der Website bewirbt die Ferienfluggesell-
schaft die Niedrigtarife unter dem Label
„Kurzfliegen“ – also nicht so weit weg und
mal kurz für ein paar Tage in die Sonne, es
ist ja günstig. Neu ist das Konzept nicht,
aber nun entfaltet sich eine politische Dis-
kussion um die Preise, die für das Unter-
nehmen gefährlich werden könnte. Bietet
Condor, gerade mit einem Staatskredit
von 380 Millionen Euro über Wasser gehal-
ten, Flüge zum Dumpingtarif an? Und wie
verträgt sich das mit dem Klimapakt?
„Kampfpreise und Marktgewinnungs-
strategien mit Steuergeld zu machen, ist
ein Unding“, sagt der stellvertretende
Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion
Michael Theurer. „Der Bundestag muss
Zugang zu sämtlichen Unterlagen bekom-
men, damit sich die Abgeordneten ein Bild
davon machen können, ob eine Zweckent-
fremdung des Kredits vorliegt“, so der Poli-
tiker. „Eine Wettbewerbsverzerrung mit
Staatsknete und eine Quersubventionie-
rung von Billigtickets sind inakzeptabel.“
Die Bundesregierung und das Land
Hessen hatten nach der Pleite des Reisever-

anstalters Thomas Cook, zu dem Condor
gehört, zugesagt, für einen KfW-Kredit zu
bürgen. Das Geld braucht Condor für den
kommenden Winter, in dem Ferien-Air-
lines traditionell Verluste machen, die sie,
wenn es gut läuft, im Sommer überkom-
pensieren. Durch die Pleite der Mutter-
gesellschaft war das Cash-Polster für die
aufkommensschwache Zeit weg. Condor
bekam den Kredit und befindet sich in ei-
nem Schutzschirmverfahren, einer Varian-
te der Insolvenz, bei der das Unternehmen
nach drei Monaten ein Insolvenzverfahren
in Eigenverwaltung durchlaufen kann.

Auch die Condor-Konkurrenz murrt
schon vernehmlich, dass sie es nun mit
einer staatlich unterstützten Fluggesell-
schaft aufnehmen muss, die über Billig-
preise Marktanteile gewinnen wolle. Bei
Tuifly kostet der Flug nach Heraklion min-
destens 93,74 Euro, bei Condor dagegen
nur 39,99 Euro. Lufthansa-Ableger
Eurowings bietet viele europäische Ziele
für Preise ab 29,99 Euro an, Heraklion gibt

es ab 49,99 Euro. Allerdings erhält Euro-
wings keine Staatshilfen, und normaler-
weise wird nur ein kleiner Teil der Kapazi-
tät im Einzelplatzverkauf zu diesen Ein-
stiegspreisen angeboten.
Bei Condor aber geht es auch um die
Kontingente, die die Airline an Reisever-
anstalter verkaufen will, nachdem ihr
durch die Thomas-Cook-Pleite 20 Prozent
der Kunden verloren gegangen sind. Die
Veranstalter greifen derzeit gerne die Billig-
kontingente ab, so ein Insider, und decken
sich damit für den Winter ein. „Das ist
nicht vergleichbar mit den Vorjahren“, sagt
er. Condor-Vertriebschef Paul Schwaiger
hofft, die hohe Nachfrage der anderen Ver-
anstalter werde die Lücke schließen. Zu
spüren bekommen dies nun Konkurrenten
wie Eurowings, Tuifly oder Sun Express.
„Alle Airlines bieten derzeit attraktive
Angebote für Flüge in der Nebensaison,
um diese auszulasten, so auch Condor“, teil-
te Condor mit. Bei den Günstigtarifen han-
dele es sich um eine lang geplante Preisak-
tion, die sich mit der Insolvenz der Thomas
Cook überschnitten habe und nicht mehr
gestoppt werden konnte. Sie sei am 3. Okto-
ber ausgelaufen. Die günstigen Angebote
für Einzelplätze waren aber auch danach
noch verfügbar. Den Reiseveranstaltern

werden dem Vernehmen nach ebenfalls
weiterhin günstige Angebote unterbreitet.
Ein Beobachter weist darauf hin, dass auch
Air Berlin nach dem Insolvenzantrag im
August 2017 versucht habe, der Konkur-
renz Marktanteile abzunehmen.
Für die Bundesregierung ist die Situati-
on politisch heikel. Gerade erst hat sie im
Klimapakt beschlossen, die Luftverkehrs-
abgabe zu erhöhen, um das Fliegen zu ver-
teuern und zu verhindern, dass die Flugge-
sellschaften zu billige Tickets verkaufen,
die die wahren (Umwelt-)Kosten der Rei-
sen nicht widerspiegeln. Die Union hatte
darüber hinaus ernsthaft erwogen, den
Airlines Mindestpreise von rund 50 Euro
vorzuschreiben. Ins Klimapaket der Bun-
desregierung wurde diese Forderung letzt-
lich aber nicht übernommen.
Hingegen soll die Steuer nach einem
Referentenentwurf des Bundesfinanzmi-
nisteriums erhöht werden – um 2,93 Euro
für Strecken innerhalb Deutschlands und
Europas (Distanzklasse 1) und um 16,45 Eu-
ro für Langstrecken (Distanzklasse 3). Bei
einem Langstreckenflug sind damit künf-
tig 58,63 Euro fällig, bei Kurzstrecken
10,43 Euro. Insgesamt soll die Steuer die
Branche mit rund 500 Millionen Euro be-
lasten. jens flottau

Auf den ersten Blick hat Osram-Chef Olaf
Berlien,57, sein Ziel erreicht. Er wollte die
Übernahme durch den Chip- und Sensor-
hersteller AMS von Anfang nicht, und als
am Freitag klar war, dass die Österreicher
ihr Ziel, mindestens 62,5 Prozent der Os-
ram-Anteile unter ihre Kontrolle zu brin-
gen, verfehlen, reagierte der Manager mit
der Rhetorik des Siegers. „Nach dem Schei-
tern der bisherigen Übernahmeversuche
behalten wir jetzt unsere Eigenständigkeit
und gestalten unsere Zukunft selbst“, sag-
te er. Das genau aber ist nun die Frage: Wie
eigenständig ist Osram noch? Wie sehr
kann Berlien die Zukunft dieses kriseln-
den Lichtkonzerns überhaupt noch selbst
gestalten, wenn AMS nach dem vorläufi-
gen Ende des milliardenschweren Bieter-
kampfes nun an die 20 Prozent der Anteile
hält, die parallel am Markt gekauft wur-
den? Und, auch das: Wie lange wird sich
der frühere Thyssenkrupp-Manager noch
an der Osram-Spitze halten können?
Berlien war in den vergangenen Wo-
chen ungewöhnlich skeptisch gegenüber
der AMS-Offerte. Sowohl er als auch der Os-
ram-Aufsichtsratsvorsitzende Peter Bauer
hatten sich entschieden, ihre eigenen Ak-
tien trotz des attraktiveren Preises nicht
an AMS zu verkaufen. So etwas macht man
nur, wenn man sich seiner Sache sehr si-
cher ist, oder aber wenn man verzweifelt
ist. Und alles auf eine Karte setzt.
Berlien hatte alles auf eine Karte ge-
setzt. Als ihm bewusst war, dass er es allei-
ne kaum noch schaffen würde, das über
100 Jahre alte Unternehmen in kurzer Zeit
selbst zu einem Hightechkonzern umzu-
bauen, ließ er sich auf Übernahmegesprä-
che mit den US-Finanzinvestoren Bain Ca-
pital und Carlyle ein. Für Berlien, der sich
nach außen hin stets äußerst optimistisch
und mindestens ebenso selbstbewusst in-
szeniert, schien das Vier-Milliarden-Euro-
Angebot die ideale Lösung für seine Proble-
me. Eine Menge Geld, weg von der Börse


und dem Quartalsdruck, gleichzeitig aber
weitgehend unabhängig bleiben und am
Ende vielleicht sogar noch länger den Chef-
job behalten. So hatte er sich das gedacht.
Dumm nur, dass ihm dann AMS dazwi-
schenkam und das Drehbuch schwer
durcheinanderbrachte. Das im Vergleich
zu Osram weitaus kleinere Unternehmen
brachte 4,5 Milliarden Euro mit und einen
ehrgeizigen, eigenen Strategieplan. Nicht
nur im Arbeitnehmerlager fürchtete man
von Anfang an, dass der Strategie- auch
ein Zerschlagungsplan war. Für einige grö-
ßere Geschäftsbereiche von Osram und vie-
le der heutigen Mitarbeiter wäre darin kein
Platz mehr gewesen. Wahrscheinlich auch
nicht für Olaf Berlien, was auch einer der
Gründe dafür gewesen sein dürfte, warum
er die fachfremden Investoren aus den
USA bevorzugte. Sie hätten ihn, zumindest
in der ersten Zeit, erst mal machen lassen.
Nun also hat Berlien einen neuen Groß-
aktionär; zum ersten Mal wieder seit der
Abspaltung von Siemens vor einigen Jah-
ren. Man lade die „AMS-Führung daher zu
Gesprächen darüber ein, wie eine sinnvolle
und für beide Unternehmen vorteilhafte
Kooperation“ aussehen könnte. Die Frage
wird sein, wer hier am Ende wen zu Gesprä-
chen einlädt. Denn mit AMS-Vorstands-
chef Alexander Everke hat Berlien nun ei-
nen neuen Hauptaktionär, der ihm in punc-
to Selbstbewusstsein in nichts nachsteht.
Everke will seinen Plan eines weltwei-
ten Anbieters für optische Sensoren und
Optoelektronik weiterverfolgen, und zwar
am liebsten zusammen mit Osram. Wie ko-
operativ das wird, wird man sehen. Weite-
re Offerten von Investoren sind wohl kaum
noch zu erwarten, dafür hält AMS bereits
zu viele Anteile. Das macht die Sache für
weitere Investoren jetzt eher unattraktiv.
Berlien und Everke werden die Sache
wahrscheinlich jetzt unter sich ausma-
chen. Nicht gerade das, was sich der Osram-
Chef erträumt hatte. thomas fromm

DEFGH Nr. 231, Montag, 7. Oktober 2019 HF2 17


Der große Rückfall


In Deutschlandist die Kluft zwischen Arm und Reich nach einer Studie so tief wie schon lange nicht.
Die politischen Folgen könnten dramatisch sein. Forscher fordern ein anderes Wirtschaftssystem

Kritik an den Billigtickets von Condor


Die Ferienfluggesellschaft erhält einen staatlich verbürgten Kredit – und wirbt nun mit Schnäppchenpreisen um Kunden


von victor gojdka

W


ahrscheinlich wird man sich die
Geschichte des Bürovermieters
Wework irgendwann so erzäh-
len: Ein findiger Gründer mit Dauerlä-
cheln, wallenden Haaren und einer messi-
anischen Ausstrahlung wollte zunächst
Büroflächen vermieten. Keine langweili-
gen Grauflächen, sondern kreativ gestalte-
te Räume mit Sitzsäcken, Glasoptik und
Kaffeebar. Von Risikokapitalgebern be-
kam er dafür zunächst Milliarden, dann
fiel er dem Größenwahn anheim. Behaup-
tete irgendwann, mit schönen Büros lasse
sich „das Bewusstsein der Welt verän-
dern“, spielte sich in der Firma als Allein-
entscheider auf. Und warf auf Unterneh-
mensfeiern wohl schon einmal Camping-
möbel ins Feuer, als passendes Feuerholz
fehlte. Die Party musste ja weitergehen.
Das ging ganz gut, bis potenzielle Anle-
ger eines Tages darauf aufmerksam mach-
ten, dass Wework zwar schöne Büros ein-
richtet, aber am Ende doch massig Geld
verbrennt. Allein 700 Millionen Dollar in
der ersten Jahreshälfte 2019 – und das
nach knapp zehn Jahren seiner Existenz.


Viele werden die Geschichte von We-
work später einmal als Geschichte eines
unkonventionellen, ja vielleicht abgedreh-
ten Gründers erzählen. Doch das verstellt
den Blick auf das Wesentliche: Es sind mil-
liardenschwere Risikokapitalgeber, die
Unternehmen wie Wework in den vergan-
genen Jahren mit Geld zugeschmissen ha-
ben. Die ihren Gründern sämtliche Eska-
paden haben durchgehen lassen. Und die
eine Horde dieser Start-ups mit Milliar-
denbewertungen nun an die Börse brin-
gen wollen. Wohl auch, um dabei mitunter
schnell noch einen guten Schnitt zu ma-
chen, bevor der Wind an den Weltbörsen
dreht. Gut, dass die Börsenanleger solcher
Ruchlosigkeit nun die rote Karte zeigen.
Denn in den vergangenen Tagen sind
gleich mehrere Start-ups beim Sprung an
die Börse heftig gestolpert, und mit ihnen
die Risikokapitalgeber. Der Kurs von Pelo-
ton, einem Hersteller von digitalen Rad-
trainern, ist nach seinem Börsengang di-
rekt am ersten Tag kräftig zurückgefal-
len. So schlecht wie Peloton lief kaum ein
Megabörsengang seit der Finanzkrise.
Das gehypte Medienunternehmen
Endeavor Group wiederum musste seinen


Börsengang zurückziehen. Und auch der
Bürovermieter Wework musste seine Bör-
senpläne nun kassieren.
In den vergangenen Tagen haben Ex-
perten deshalb wieder viel über die ver-
meintlich irrationalen Börsen lamentiert.
Darüber, dass verlustreiche Unterneh-
men mit ihren Börsengängen in diesem
Jahr so viel Geld am US-Parkett eingesam-
melt haben wie seit der New-Economy-
Blase nicht mehr. Nun könne gar eine zwei-
te Tech-Blase platzen, unkten manche be-
reits. Anleger hätten sich in den vergange-
nen Monaten schließlich in blindem Ge-
horsam auf so ziemlich jedes in den Medi-
en gehypte Unternehmen gestürzt: auf un-
rentable Essenskisten, auf Taxi-Apps in
den Miesen, gar auf Cannabisunterneh-
men. Das passt ins Bild: Die Börsianer an-
geblich mal wieder völlig benebelt.
Dabei sind alle diese Argumente nur Ab-
lenkungsmanöver von den eigentlichen
Tatsachen: Erst durch den kühlen Blick
der Börsenanleger sind die luftigen Bewer-
tungen überhaupt enttarnt worden. Als
Wework im Januar wieder einen Zwei-Mil-
liarden-Scheck vom japanischen Großin-
vestor Softbank bekommen hat, schätzte
der das gesamte Gewicht der Firma noch
auf 47 Milliarden Dollar. Neun Monate spä-
ter wären bei einem Börsengang gegen-
über den Anlegern am Parkett nur noch
20 Milliarden zu rechtfertigen gewesen.
Das zeigt anekdotisch, wie sich
Staatsfonds, Private-Equity-Gesellschaf-
ten und Risikokapitalgeber auf breiter
Front verschätzt haben. Wie sie sich ange-
sichts einer weltweiten Sparflut vor Grün-
dern mit immer größeren Summen über-
boten und dabei jede Vorsicht beiseite ge-
schoben haben. Es war die Weisheit der
Massen an der Börse, am Markt der Märk-
te, die dieses Schauspiel im Tech-Sektor
nun enttarnt hat. Und es war auch der von
vielen Unternehmen und Kritikern gehass-
te Fokus auf harte Daten und das Joch
turnusmäßiger Berichterstattungen im
Quartalstakt.
In San Francisco trafen Kapitalgeber
und Gründer in der abgelaufenen Woche
nun zu einer regelrechten Krisensitzung
zusammen. Allen ist klar: Die Strategen
der Tech-Unternehmen müssen umden-
ken. Worte wie Mobile, App, Chip und
Tech sind seit Kurzem jedenfalls deutlich
seltener in Unternehmenspublikationen
und Quartalsberichten zu lesen, so hat es
ein Datendienstleister herausgefunden.
Das lässt hoffen, dass dahinter nicht
nur eine PR-Strategie steckt und die Sa-
che wirklich ernst gemeint ist. Die Börsen-
anleger jedenfalls werden hinsehen.

Gesiegt und doch verloren


Osram-Chef Berlien hat nun einen unbequemen Großaktionär


Die Airline behauptet, die
Aktion sei schon länger geplant
und nicht mehr zu stoppen

WIRTSCHAFT


Eine armeFamilie sitzt vor leeren Tellern: An der Unterschicht ging der Wirtschaftsboom der vergangenen zehn Jahre weitge-
hend vorbei. FOTO: CATHERINA HESS

NAHAUFNAHME


„Nachdem Scheitern
der bisherigen
Übernahmeversuche
behalten wir jetzt unsere
Eigenständigkeit.“
Olaf Berlin
FOTO: FLORIAN PELJAK

TECH-INDUSTRIE

Abgedrehte Party


Gini-Koeffizient der verfügbaren
Haushaltseinkommen in Deutschland
von 2005 bis 2016

Angaben für 2017, Erwachsene, in Prozent
Anteil an der deutschen Gesamtbevölkerung
Anteil am Nettogesamtvermögen

Mehr Ungleichheit seit 2013 Arm und Reich

’05 ’06 ’07 ’08 ’09 ’10 ’11 ’12 ’13 ’14 ’15 ’

0,
0,

0,

0,

0,

0,

0,

0,

0,
SZ-Grafik; Quelle: SOEP, Hans-Böckler-Stiftung

0,2890,

0,2950,
das reichste Prozent
1
18
die reichsten zehn Prozent
10
56
die ärmere Hälfte der Bevölkerung
50
1,
die Bürger in der Mitte
40
42,

Quelle: DIW Berlin

Ausgerechnet die Börsenanleger


holen ausgebuffte Geldmanager


nun auf den Boden der Tatsachen


Der französische Ökonom
Thomas Piketty kritisiert eine
„Verherrlichung des Eigentums“
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