Süddeutsche Zeitung - 07.10.2019

(Michael S) #1
von johannes knuth

D


ie Eröffnungsfeier der Leichtathle-
tik-Weltmeisterschaften in Doha
war gespenstisch. Die Veranstalter
hielten den Festakt diesmal nicht im Stadi-
on ab, wie bei solchen Großereignissen üb-
lich, sondern außerhalb – kurz vor dem
Start des Frauenmarathons. Dieser brach
wegen der schwülen Hitze im Emirat um
Mitternacht an. Nur ein paar Hundert Eh-
rengäste waren geladen, Staatsoberhaupt
Tamim bin Hamad al-Thani hielt eine An-
sprache. Darsteller tanzten zu Musik, Feu-
erwerksfontänen schossen in die Nacht. Se-
bastian Coe, der Präsident des Leichtathle-
tik-Weltverbandes IAAF, begrüßte die
nicht anwesenden Athleten („Mögen sie
ihr Bestes erreichen“),ein Film gab das Mot-
to vor: „Katar heißt die Welt willkommen.“
Die Welt drängelte sich derweil, in über-
schaubaren Gruppen, hinter einer Absper-
rung; eine sechsspurige Straße trennte sie
von der Ehrenloge. Später rannten die Ma-
rathonläuferinnen durch die Nacht, bei 33
Grad und 70 Prozent Luftfeuchtigkeit.
Funktionäre im Kühlen, Athleten im Back-
ofen, so ging es los.
Eine Woche ist das jetzt her, als die Be-
fürchtungen eiserne Gewissheit annah-
men, wie fahrlässig es war, eine Leichtath-
letik-WM an den Persischen Golf zu ver-
pflanzen. Die Funktionäre hatten vorher
immer wieder betont, man müsse den
Sport in alle Ecken der Welt tragen; die
WM in Katar ist die erste im arabischen
Raum. Aber während der ersten Tage war
das Stadion dann so leer wie ein arabischer
Marktplatz in der Mittagshitze. Doha, das
war bald klar, hatte das Potenzial zur gro-
ßen Mahnung, wie weit sich der organisier-
te Sport von seinem Kern entfremdet hat.
Vor allem von seinen Athleten.
Die Geschichte hinter dieser WM be-
gann, wenn man so will, in der Rue de Berri
in Paris. Das Uhrengeschäft „Elysées“ hat-
te über Jahre einen treuen Kunden: Papa
Massata Diack. 1,7 Millionen Euro ließ der
Senegalese dort, mal 2820 Euro für eine
Cartier Ballon Bleu, mal 63 000 Euro für ei-
ne Großbeschaffung. So steht es in einer
Anklage der französischen Finanzstaatsan-
wälte, die der SZ vorliegt. Papa Massata
war bis 2015 Marketingberater der IAAF, er
soll mit seinem Vater Lamine, von 1999 bis


2015 Chef des Weltverbands, ein gewalti-
ges Korruptionsnetz über den Sport ge-
spannt haben: Beide Männer sollen Sport-
veranstaltungen verkauft, Millionen aus
Sponsorendeals abgeschöpft und positive
Dopingtests vertuscht haben; Hunderte
E-Mails und Banktransfers legen dies na-
he. Diack senior steht in Frankreich unter
Hausarrest, der Sohn wird per Haftbefehl
gesucht. Beide streiten die Vorwürfe ab.
Noch ist nicht ganz klar, ob Papa Massa-
ta in der Rue de Berri auch Geld aus Katar
ausgab. Aber die Ermittler sind längst auf
dubiose Finanzflüsse gestoßen. Einen 4,
Millionen schweren Sponsorenvertrag et-
wa, den Diack junior mit den Kataris auf-


setzte – kurz bevor die WM 2019 vergeben
wurde. Das könnte Bestechung gewesen
sein, vermuten die Ermittler, sie haben
längst auch hochrangige katarische Ge-
schäftsleute im Visier. Alle Beteiligten strei-
ten auch das ab: Sie verwiesen stets auf ein
weiteres, mehr als 30 Millionen Dollar sat-
tes Sponsorenpaket, das sie den Stimmbe-
rechtigten kurz vor der Vergabe vor fünf
Jahren präsentierten. Derartige Offerten
waren damals legal. Und Doha versprach
der IAAF darin nicht nur viel Geld, sondern

auch den Bau von Tartanbahnen in Afrika
und einiges mehr. Viele Mitgliedsverbän-
de halten sich mit solchen Zuwendungen
am Leben. Coe, seit 2015 an der Spitze der
IAAF, ließ die umstrittene Vergabe trotz-
dem nie durchleuchten. Er hatte damals
die Kommission gelenkt, die die Konzepte
der WM-Bewerber prüfte, Barcelona, Euge-
ne, Doha. Katar hatte „die mit Abstand
schlechteste Bewerbung“, das fand nicht
nur der Chef des spanischen Verbands. Coe
fand sie „exzellent“. Der Weg war frei.
Ausschwitzen durften das bald die Athle-
ten. Katar hat sich in den vergangenen Jah-
ren viele Weltmeisterschaften verschafft,
Handball, Radsport, Turnen, die Fußball-
WM 2022. Aber eine zehntägige Freiluft-
WM lässt sich nicht einfach herunterküh-
len wie eine Sporthalle. Die Organisatoren
schoben den Termin für die Leichtathleten
in den Oktober, zwei Monate später als üb-
lich, um dem bis zu 50 Grad heißen Som-
mer in Katar zu entgehen. So schmolz die
ohnehin knappe Vorbereitungszeit für die
Olympischen Spiele zusammen, die Ende
Juli 2020 in Tokio beginnen. Viele Mara-
thonläufer reisten gar nicht erst nach Do-
ha; beim Hitzelauf der Frauen gaben
knapp die Hälfte der Starterinnen auf, vie-
le brachen überhitzt zusammen oder wur-
den in Rollstühlen weggefahren. Am Frei-
tag klappte der Deutsche Hagen Brembach
über 20 Kilometer Gehen zusammen, bei
80 Prozent Luftfeuchtigkeit. Er war später
wohlauf, wie alle anderen, aber die Bilder
waren verheerend. „Das war ein Wett-
kampf“, sagte sein Teamkollege Hagen
Pohle, „der so nicht stattfinden dürfte.“
Im Stadion, wo während der vergange-
nen zehn Tage die meisten Wettkämpfe
stattfanden, war die Hitze kein Problem.
Gasgeneratoren, die vor dem Stadion
brummten, zwängten die Temperatur
durch Hunderte Düsen auf 25 Grad herun-
ter, bei offenem Dach. Dafür fehlten nun:
die Zuschauer. Die Veranstalter hatten die
Kapazität des Khalifa-Stadions ohnehin
von 48 000 auf 20 000 Plätze gesenkt, die
Oberränge versteckten sie unter Planen.
„Neue Höhen erreichen“, stand darauf. Als
die Frauen am dritten Tag ihr 100-Meter-
Finale liefen, schauten bestenfalls 5000 Zu-
schauer zu.
Es ist ein Klassiker des Weltsports: Aus-
richter, die bestreiten, dass leere Ränge tat-
sächlich leer sind. Dahlan al-Hamad, der
Chef des Organisationskomitees, hatte
noch am Tag vor der Eröffnung behauptet,
dass von den 200000 verfügbaren Tickets

nur noch 5000 übrig seien, und diese seien
bald vergriffen. Coe saß neben ihm, er
schaute ihn verwundert an, dann lächelte
er wie ein Fahrkartenkontrolleur, dem ein
Fahrgast erklärt, dass dessen Hund gerade
das Ticket verputzt hat. Später erklärten
die Organisatoren, in Doha habe die Ar-
beitswoche begonnen, die Golf-Blockade
der Nachbarn habe viele Gäste ferngehal-
ten. Allerdings wusste die IAAF schon bei
der WM-Vergabe, wie brisant die Lage am
Golf war. Viele Sportler reagierten in Doha
frustriert, Frankreichs Zehnkampf-Weltre-

kordhalter Kevin Mayer sagte: „Es ist ein
Desaster. Wenn ich mich nicht auf meine
Leidenschaft für den Wettkampf konzen-
trieren könnte, würde ich die WM boykot-
tieren.“ Die meisten seiner Kollegen haben
diese Wahl freilich nicht: Nur wer bei Olym-
pia und der WM startet, sichert sich Förder-
gelder, Prämien, seine sportliche Zukunft.
Coe sagte am Samstag in der ARD, „dass
Katar ein tolles Land für die Leichtathletik
ist“. Und die WM, die sei doch „großartig“
gewesen.
Leere Sitze und Hitze waren oft der

Bass, mit dem sportliche Großevents unter-
legt waren, auch in der Leichtathletik. 1999
in Sevilla schwitzten Athleten und Zuschau-
er bei 40 Grad, am Abend waren viele pa-
niert vom Baustaub, weil das Stadion gera-
de erst fertig geworden war. 2011 in Daegu
und 2013 in Moskau blieben viele Plätze
leer, dafür waren die Verbandskassen voll,
dank Sponsorendeals mit südkoreani-
schen und russischen Firmen. In Tokio soll
es im kommenden Jahr noch schwüler wer-
den als in Doha; dort experimentierte man
zuletzt mit Schneekanonen, um die Zu-

schauer kühlen zu können. Die großen
Sportverbände dachten schon immer erst
an die Bewerber, die das meiste Geld in den
Verbandskreislauf pumpten, erst dann an
die Athleten. Aber mit Doha trieben sie es
auf die Spitze. Hier war es auch nachts zu
heiß, hier waren nicht nur einzelne Sitze
leer, sondern ein ganzes Stadion.
Die Organisatoren reagierten erst nach
den ersten trüben Tagen. Einheimische wa-
ren bis dahin selten im Stadion gewesen,
und viele der 1,6 Millionen Gastarbeiter im
Land konnten sich selbst die billigsten Ti-
ckets nicht leisten: 60 Rial, rund 15 Euro.
Fortan rollten immer häufiger Busse vor
das Khalifa-Stadion, die Menschen in
gleichfarbigen T-Shirts ausspuckten. Am
Donnerstag winkten einige Ordner am Sta-
dion die Besucher herein, „No ticket day“,
riefen sie. Die äthiopische Botschaft in Do-
ha versprach auf ihrer Facebook-Seite
„freie Tickets und Transport“. Und tatsäch-
lich belebten bald viele Äthiopier die Stim-
mung, wie überhaupt viele afrikanische Be-
sucher, deren Läufer die Ausdauerwettbe-
werbe dominieren. Allerdings hatte das
nicht nur positive Gründe: Ein Reporter
der Nachrichtenagentur AP hatte beobach-
tet, wie zwei rivalisierende politische Grup-
pen sich im Block gegenseitig zu übertö-
nen versuchten: regierungstreue Anhän-
ger und Oromo, die viele der starken Lang-
läufer hervorbringen. Polizisten mussten
vereinzelt eingreifen.

Den ganz großen Ehrgeiz wird man in
Katar wohl erst 2022 aufbringen, für die
Fußball-WM. Es ist die bislang größte poli-
tische Lebensversicherung für das Re-
gime. Die Veranstalter haben das Turnier
vom Sommer in den Dezember umgetopft,
dann ist es in Doha nicht mehr ganz so
schwül und heiß. Sprich: bis zu 30 Grad
tagsüber. Aber ob es reicht, wie geplant
den Bierpreis zu verbilligen, um acht run-
tergekühlte Stadien bei 64 Spielen zu fül-
len? Das kleine Katar versteht sich als Han-
delsplatz, touristische Attraktionen sind
selten, das Leben spielt in Bürotürmen
und Einkaufszentren.
Immerhin: In den letzten Tagen erwach-
te die Leichtathletik-WM doch noch zum
Leben. Am „No ticket day“ rollte die La-Ola-
Welle durchs Stadion. Am vergangenen
Freitag mischte sich die Hitze mit dem
Duft von Hühnchen-Kebap auf der Fanmei-
le. Schulkinder, junge Frauen und Männer
aus Katar flanierten neben ausländischen
Fans und Gastarbeitern. Im Stadion rollten
sie sogar die Planen von den Sitzen, 42 000
Zuschauer badeten im Jubel, als Hoch-
springer Mutaz Essar Barshim das einzige
Gold für Katar bei dieser WM gewann.
Doch hatten viele wohl vergessen, dass spä-
ter noch die Medaillenübergabe anstand.
Als Barshim dann auf der Empore wartete,
auf der sie hier die Siegerehrungen abhal-
ten, blickte er in ein leeres Stadion.
Ein paar Minuten später wurde die Eh-
rung abgebrochen und auf den Samstag
verlegt. Die Soundanlage sei leider ausge-
fallen, teilten die Organisatoren mit.

Japan ist dieser Tage Gastgeber der Rugby-
Weltmeisterschaft, und wieder gibt es Kri-
tik am Wetter. Wegen der hohen Luftfeuch-
tigkeit werde der Ball glitschig, sagen Athle-
ten und Trainer. Für die Spieler von Titel-
verteidiger Neuseeland war das der Grund
dafür, dass ihnen bei ihrer Partie gegen Ka-
nada in Oita der Ball ab und zu aus der
Hand flutschte. Zu beherrschen war das
Problem aber wohl schon: Neuseeland ge-
wann 63:0. Außerdem hatte das Spiel we-
gen Regens bei geschlossenem Stadion-
dach stattgefunden. Und von gesundheits-
gefährdenden Temperaturen sprach kei-
ner. Japans Hitze ist im September und Ok-
tober nicht mehr das, was sie im Juli und
August war. Im Grunde sind sich alle einig:
Diese erste Rugby-WM in Asien findet un-
ter zumutbaren Bedingungen statt.
Dieser Befund sollte selbstverständlich
sein – ist er aber nicht in Zeiten des globali-
sierten Athleten-Business. Viele Verbände
verbiegen den Sport und holen ihn aus sei-
nem natürlichen Umfeld an Orte, an denen
er deplatziert oder eigentlich sogar unmög-
lich ist. Manche solcher Aktionen kann
man mit etwas Wohlwollen als Werbung
für Bewegungskultur und Gesundheit deu-
ten. Der Welt-Skiverband zum Beispiel
lässt seit Jahren Kunstschnee-Loipen in
Städte legen, um darauf Weltcupsprints zu
veranstalten und so die Schönheit des
Langlaufs einem Massenpublikum nahe-
zubringen; nächsten Januar läuft die Ski-
Elite deshalb durch Dresden.
Aber die Gefahr besteht, dass Kosten
und Nutzen nicht mehr zusammenpassen


und Wettkämpfe als absurde Show enden.
Die Olympischen Winterspiele von 2014
im russischen Sotschi am Schwarzen Meer
gelten als markantes Beispiel für eine der-
art maßlose PR-Arbeit. Die Spiele sollten
ein neues Skigebiet mit Hotelstadt im na-
hen Kaukasus-Gebirge berühmt machen.
Große Eishallen am Schwarzmeer-Ufer
wurden deshalb zu Bühnen eines künstli-
chen Winters bei Mittelmeerklima um 20
Grad plus. Und ein Wärmeeinbruch ver-
wandelte die Loipen, immerhin auf mittle-
rer Höhe gelegen, in eine gefährliche Sulz-
schneepiste. Am Ende sausten Langläufe-
rinnen und Langläufer in T-Shirts und kur-
zen Hosen über eine künstlich verfestigte

Unterlage, die angeblich noch hauptsäch-
lich aus Schnee bestand.
Jetzt gehen die Blicke nach Japan. In To-
kio findet nächstes Jahr Sommer-Olympia
statt, und zwar nicht im Herbst wie die Rug-
by-WM, sondern zielgenau in der schwüls-
ten Zeit des Jahres, wenn die kommerziel-
len Spielsport-Ligen Pause machen. Die
feuchte Sommerhitze ist schon immer ein
japanisches Problem gewesen. Aber durch
den Klimawandel wird es noch heißer. Mit
viel Aufwand erprobt das Tokioter Organi-
sationskomitee deshalb Möglichkeiten,
Wettkampfstätten für Sportler, Zuschauer
und Schiedsrichter kühler zu machen:
Zum Beispiel durch zirkuszeltartige Auf-
enthaltsräume, kühlende Föhne, Türme
mit Nebelwerfern und reichlich Eisbeu-
teln. Der jüngste Versuch war besonders
spektakulär: Mithilfe eines gemieteten Eis-
block-Häckslers wollten die Organisato-
ren die Tribünen an der Ruder- und Kanu-
strecke beschneien, um Zuschauer zu küh-
len. Der erste Test scheiterte allerdings.
Der Wind verwehte den Kunstschnee oder
trieb ihn in schweren Nassschneeflocken
in die Nacken der Versuchspersonen.
Olympia war schon mal in Tokio. 1964.
Die Hitze war damals auch ein Thema.
Aber das Internationale Olympische Komi-
tee regelte es mit einem einfachen Schach-
zug. Es kümmerte sich nicht um konkurrie-
rende Profiligen und verschob die Wettbe-
werbe einfach auf Oktober. Denn der Okto-
ber in Japan fühlt sich gut an, fast wie ein
europäischer Sommer. Die Rugby-Spieler
können es bezeugen. thomas hahn

Katar ist eine Halbinsel, gerade einmal
11000 Quadratkilometer groß, kleiner als
Schleswig-Holstein. Sie liegt im Golf, einge-
zwängt zwischen den regionalen Vormäch-
ten Saudi-Arabien, mit dem Katar seine
einzige Landgrenze hat, und Iran, mit dem
sich das Emirat das größte Gasfeld der
Welt teilt. Schon seit Katar von Großbritan-
nien 1971 in die Unabhängigkeit entlassen
wurde, haben die Herrscher in Doha mit ei-
nem gewissen Misstrauen auf die großen
Nachbarn geschaut. Die Gasvorkommen,
auf denen der sagenhafte Reichtum des
Landes beruht, wecken Begehrlichkeiten.
Lange bevor im Juni 2017 Saudi-Arabi-
en, die Vereinigten Arabischen Emirate,
Ägypten und Bahrain das Land mit ihrer
bis heute andauernden Blockade auf Linie
bringen wollten, redeten Regierungsmit-
glieder und Sicherheitsberater in Doha viel
von der Krim. Die ukrainische Halbinsel
war im Jahr 2014 von Russland eingenom-
men und annektiert worden. Was der Ukra-
ine geschehen sei, so die Botschaft, könne
auch Katar widerfahren – nur dass es mit
der Eigenstaatlichkeit des Emirats dann
vorbei wäre. Spätestens beim Ausbruch
der Krise vor zwei Jahren zeigte sich, dass
die Sorge nicht aus der Luft gegriffen war.
Westliche Diplomaten sagen heute ganz
offen, dass Saudi-Arabien damals einen
Einmarsch vorbereitete, unterstützt von
den Emiraten. Der Druck der USA hielt Ri-
ad und Abu Dhabi davon ab, genauer ge-
sagt der damalige Außenminister Rex Til-
lerson und Verteidigungsminister Jim Mat-
tis – das Weiße Haus schwieg lange.

Die katarische Führung wusste um die
Verwundbarkeit des Landes, dessen Ar-
mee 2017 gerade 12 000 Mann zählte. Sie
beugte mit einer Art Abschreckungsdok-
trin vor, die auf den 2013 abgedankten
Emir Hamad bin Khalifa al-Thani zurück-
geht und die dessen Sohn Tamim fortsetzt:
Sichtbarkeit ist ihre zentrale Säule. „Wenn
uns niemand kennt, wird uns niemand hel-
fen“, sagte ein hochrangiger Sicherheitsbe-
rater in Doha schon vor einigen Jahren.
Also ergriff Katar jede Gelegenheit, aus
der bedrohlichen Vergessenheit zu treten:
Der Emir und sein Sohn holten Sportwett-
kämpfe nach Katar, von der Leichtathletik-
Weltmeisterschaft über die Fußball-WM

bis zu Formel-Eins-Rennen, sie etablier-
ten den panarabischen Satellitensender Al
Jazeera und machten Qatar Airways zu ei-
ner der erfolgreichsten Fluggesellschaften
der Welt. Und betrieben über Jahre eine hy-
peraktive Außenpolitik. Geld spielte dabei
keine Rolle; Katar hat eines der höchsten
Pro-Kopf-Einkommen der Welt, der Staats-
fonds hat 330 Milliarden investiert.
Zugleich suchten die Herrscher die Nä-
he der Mächtigen: Den USA dient der Luft-
waffenstützpunkt al-Udeid bei Doha seit
2003 als Drehscheibe und Kommandozen-
trale für den gesamten Nahen Osten und
Afghanistan. Jahrelang haben die Emirate
versucht, Katar den Stützpunkt abspens-
tig zu machen. Doha antwortet auf seine
Weise: Es erweitert den Flugplatz derzeit
für 1,8 Milliarden Dollar und übernimmt al-
le Kosten, wie Tamim im Juli beim Staats-
bankett mit US-Präsident Donald Trump
verkündete – wie den Kauf amerikani-
scher Waffen für etliche Milliarden Dollar.
Die Blockade durch die Nachbarn führt
Doha als wichtigen Grund dafür an, dass
bei der Leichtathletik-WM die Ränge im
Stadion oft leer blieben. Die Tatsache, dass
Katar die Veranstaltung ungeachtet des
Boykotts wie geplant ausgerichtet hat und
sich zumindest der Verband mit der Organi-
sation zufrieden zeigt, dürfte Doha aber als
Bestätigung seiner Strategie sehen. Das
Fernsehen übertrug weltweit – das macht
Katar relevant und wichtig. Und darauf al-
leine kommt es an, nachdem eines der Be-
drohungsszenarien teilweise eingetreten
ist. paul-anton krüger

Überhitzt


Das Turnier in Katar erinnert daran, wie weit


sich der organisierte Sport von jenen


entfernt hat, um die es geht – den Athleten


Skifahren im T-Shirt: Die US-Langläufe-
rin Sadie Bjornsen bei den Olympischen
Spielen in Sotschi. FOTO: IMAGO

Der Gastgeber: Tamim bin Hamad al Tha-
ni, der Emir von Katar, bei der Eröffnung
der Leichtathletik-WM. FOTO: GETTY

Kühlung aus dem Eisblock-Häcksler


Sportarten werden immer öfter ihrem natürlichen Umfeld entrissen


Sicherheit durch Sichtbarkeit


DasEmirat Katar fürchtet seine Nachbarn und strebt deshalb nach Aufmerksamkeit


Ausgezehrt: Hitze und Luftfeuchtigkeit setzten Athletinnen und Athleten in Katar zu. Die Schwedin
Cecilia Norrbom kühlt sich mit Wasser, Maryan Zakalnytskyy aus der Ukraine braucht medizinische
Hilfe und die Finnin Alisa Vainio erfrischt sich beim Marathon (von oben).FOTO: AP, REUTERS, GETTY

(^2) THEMA DES TAGES Montag,7. Oktober 2019, Nr. 231 DEFGH
Die Geschichte beginnt
in einem Pariser
Uhrengeschäft
Billiges Bier soll
Zuschauer zur
Fußball-WM locken
„Das war ein Wettkampf,
der sonicht
stattfinden dürfte.“
Sport in der WüsteEin leeres Stadion, geplagte Athleten: Die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Katar haben
die Debatte über den Austragungsort globaler Turniere neu angefacht. Das Kräftemessen am Golf mag Herrschern und Sponsoren nutzen,
das Nachsehen aber haben die Sportler. Und die nächsten umstrittenen Großereignisse stehen schon bevor

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