Süddeutsche Zeitung - 07.10.2019

(Michael S) #1
von hubert wetzel

D


onald Trump hat das Wort
wieder hervorgekramt, das er
so mag:Witch Hunt. Hexen-
jagd. Gut 250 Mal hat er es in
den zwei Jahren getwittert, als
der Sonderermittler Robert Mueller wegen
Russland hinter ihm her war.Witch Hunt.
Witch Hunt. Witch Hunt.Bis alle es glaub-
ten, die es glauben wollten. Jetzt sind sie
wieder hinter ihm her, und deswegen tippt
der Präsident das Wort wieder fleißig in
sein Telefon, knapp zwei Dutzend Mal
allein in den letzten beiden Wochen.
Manchmal ist es das Erste, was Trump am
Morgen twittert: 30. September, 6.39 Uhr,
„Hexenjagd“. Manchmal ist es das Letzte,
was er am Abend twittert: 1. Oktober,
19.20 Uhr, „Hexenjagd“. So gesehen hat
sich also nichts geändert in Washington:
Donald Trump fühlt sich verfolgt, und
zwar wie immer zu Unrecht.
Andererseits aber hat sich eben doch et-
was geändert. Sogar sehr viel: Es geht nicht
mehr darum, was die Russen gemacht
haben, um die Präsidentschaftswahl 2016
zu manipulieren. Sondern darum, was
Donald Trump getan hat, um die Ukraine
dazu zu bringen, in der Präsidentschafts-
wahl 2020 mitzumischen.


Und es ist nicht mehr Robert Mueller,
der korrekte, unparteiische Beamte, der
gegen den Präsidenten ermittelt. Sondern
ein demokratischer Abgeordneter namens
Adam Schiff, der früher Staatsanwalt in Ka-
lifornien war und heute den Geheimdienst-
ausschuss im US-Repräsentantenhaus lei-
tet. Anders als Mueller ist Schiff kein Krimi-
nalkommissar, der nur einen verdächtigen
Vorgang aufklären will, egal, wer am Ende
als Schuldiger herauskommt. Schiff hat
ein politisches Ziel: Er will Beweise finden,
mit denen sich eine Amtsenthebungsklage
gegen Trump rechtfertigen lässt.
Man könnte es so sagen: Wenn Donald
Trump die Hexe ist, die gejagt wird, dann
ist Adam Schiff der Inquisitor.
Der 59-Jährige hat sich, nach allem, was
man weiß, diese Rolle nicht gewünscht. Im
Grunde hätte er vermutlich gut auf das
ganze Impeachment-Theater verzichten
können. Schiff vertritt einen Wahlkreis,
der Teile von Los Angeles und die Gegend
nördlich der Stadt umfasst. Der berühmte
weiße Hollywood-Schriftzug liegt in sei-
nem Bezirk. Das ist zum größten Teil gedie-
genes, solides Demokraten-Land, kein
Boden, auf dem Revoluzzer wachsen. Und
auch Schiff war nie als linker Eiferer
bekannt. Er ist das, was man im Kongress
einen „Spezialisten“ nennt – ein Abgeord-
neter, der sich ein Thema aussucht und es
jahrelang still beackert, anstatt laut in je-
der ideologischen Schlacht mitzukämpfen
oder sich nur darum zu kümmern, Geld in
seinen Wahlkreis zu schaufeln.
Als Schiff 2001 nach Washington kam,
gab es kaum Demokraten, die sich für
Sicherheitspolitik und Geheimdienste in-
teressierten. Schiff, der in seiner Freizeit
Drehbücher für Spionage- und Kriminalfil-
me schreibt und als Staatsanwalt in L.A.
einen FBI-Agenten hinter Gitter gebracht
hat, der Dienstgeheimnisse gegen Gold
und Sex an die Russen verkauft hatte,
begann zu ackern. Er wurde Mitglied im
Geheimdienstausschuss, der seine Büros
in einem fensterlosen Keller unter dem
Kapitol hat, der „der Bunker“ genannt
wird. Menschen und Topfpflanzen müssen
sich dort mit fahlem Kunstlicht begnügen.
2015 stieg Schiff zum ranghöchsten Demo-
kraten in dem Gremium auf.
Das war ein durchaus wichtiger Posten,
trotzdem war Schiff außerhalb des Wa-
shingtoner Regierungsviertels kaum be-
kannt. Er hatte den Ruf, sehr kompetent zu
sein, aber nicht sehr aufregend. Schiff ist in
Stanford aufs College gegangen und hat da-
nach in Harvard Jura studiert. Seine Choles-


terinwerte sind zu hoch, deswegen isst er ve-
gane Hamburger. Schiff sei wie ein Mann,
der am Abend die Krawatte ablegt, aber den
Knopf am Hemdkragen zulässt, schrieb das
California Sunday Magazineeinmal über
ihn. Wenn er Witze erzähle, dann „wie ein
Vater, der Zugang zu streng geheimen Infor-
mationen hat“. Was das genau bedeuten
soll, stand nicht in der Zeitschrift. Aber es
klingt jedenfalls nicht lustig.
Doch dann passierten zwei Dinge: Im
Januar 2017 wurde Donald Trump Präsi-
dent. Im Januar 2019, nach dem Sieg der
Demokraten bei der Kongresswahl im
November zuvor, übernahm Schiff den
Vorsitz im Geheimdienstausschuss. Es war
nur eine Frage der Zeit, bis die Hexe und
der Inquisitor aneinandergerieten.
Seitdem ist Schiff zu einem bevorzug-
ten Ziel von Trumps Wut geworden. Schon
während der Russland-Ermittlungen, bei
denen Schiff parallel zu Mueller in Doku-
menten wühlte und Zeugen vernahm, ging
er dem Präsidenten gewaltig auf die
Nerven. Trump hängte dem Demokraten
damals das Adjektivsleazyan: schmierig.
Jetzt, in der Ukraine-Affäre, hat Trump ei-
nen neuen Schimpfnamen erfunden:Shif-
ty Schiff, was man mit verschlagen überset-
zen kann. Das ist die übliche Methode des
Präsidenten: Politische Gegner macht er

lächerlich oder beleidigt sie. Aber man
kann das auch als eine Art bizarre Respekt-
bezeugung werten: Trump beschimpft Leu-
te dann besonders heftig, wenn er denkt,
sie könnten ihm gefährlich werden.
Und das tut Schiff. Er wird Trump ge-
fährlich – zumindest gefährlicher als jeder
andere Demokrat oder Republikaner, der
es bisher versucht hat. Es war Schiff, der
verhindert hat, dass das Weiße Haus die in-
terne Beschwerde eines CIA-Mitarbeiters
über Trumps politische Spielchen mit der
Ukraine in irgendeinem Safe oder Schred-
der verschwinden ließ. Er wusste von der
Beschwerde, weil der Informant sich
zunächst an seinen Ausschuss gewandt
hatte, bevor er eine offizielle Meldung ein-
reichte. Als das Weiße Haus den Beschwer-
debrief des CIA-Mitarbeiters nicht, wie es
vorgeschrieben ist, an den Kongress weiter-
leitete, fragte Schiff nach.
Es war auch Schiff, der dann so großen
Druck machte, dass Trump das Protokoll
jenes Telefonats herausgeben musste, in
dem er den ukrainischen Präsidenten
Wolodimir Selenskij aufgefordert hatte,
dessen Justiz gegen den früheren Vizeprä-
sidenten und heutigen demokratischen
Präsidentschaftsbewerber Joe Biden ermit-
teln zu lassen. Und es war Schiff, der da-
nach das komplette Beschwerdeschreiben

des CIA-Agenten veröffentlichen ließ. Der
Informant schildert darin detailliert, wie
der Präsident der USA versucht hat, die
ukrainische Regierung dazu zu bewegen,
gegen einen seiner möglichen Gegner im
nächsten Präsidentschaftswahlkampf vor-
zugehen. Wenn also jemand dafür verant-
wortlich ist, dass Nancy Pelosi gar nicht
anders konnte, als ein Amtsenthebungs-
verfahren gegen Trump zu beginnen, dann
ist es Adam Schiff.

Das alles entbehrt nicht einer gewissen
Ironie. Denn erstens war Schiff keiner
jener Demokraten, die ein Impeachment
gegen Trump kaum abwarten konnten. Er
teilte Pelosis Ansicht, dass ein Amtsent-
hebungsverfahren, so heikel es politisch
und juristisch ist, nur die allerletzte Option
sein darf. Zweitens landete die ganze An-
gelegenheit eher zufällig bei ihm, weil der
Informant, der sich intern über Trump be-
schwert hatte, für die CIA arbeitet. Damit
war der Geheimdienstausschuss zustän-
dig. Hätte ein Diplomat die Beschwerde

geschrieben, hätte ein anderer Ausschuss
die Aufklärung übernommen.
Drittens aber war genau der Umstand,
dass der ebenso ruhige wie gewissenhafte
und kenntnisreiche Adam Schiff die Unter-
suchungen führen wird, ein entscheiden-
der Grund, warum sich eine Gruppe mode-
rater Demokratinnen, die alle früher in der
Armee gedient oder im Sicherheitsapparat
gearbeitet hatten, nach langem Zögern für
ein Impeachment aussprachen. Sie woll-
ten eigentlich kein Amtsenthebungs-
verfahren, vor allem aber wollten sie kein
parteipolitisches Spektakel. „Sie stellten
praktisch die Bedingung, dass Schiff die Er-
mittlungen leitet“, sagt ein Demokrat. Erst
als Pelosi wusste, dass diese bisher skepti-
schen Abgeordneten auf ihrer Seite waren,
verkündete sie öffentlich den Beginn der
Impeachment-Untersuchung.
Bisher ermittelt Schiff so, wie er ist:
leise und effektiv. Vorige Woche veröffent-
lichte sein Ausschuss Textnachrichten von
US-Diplomaten, die mit der Ukraine zu tun
hatten. Darin konnte man nicht nur lesen,
dass Trump die Auszahlung von Militärhil-
fe an Kiew und einen Besuch von Selenskij
im Weißen Haus von Ermittlungen gegen
Biden abhängig gemacht hatte; sondern
dass es durchaus Leute in Washington gab,
die wussten, wie fragwürdig das war.

Er halte es für „verrückt“, die Außen-
politik der Vereinigten Staaten auf diese
Weise mit dem Wahlkampf des Präsiden-
ten zu verquicken, schrieb zum Beispiel
der frühere US-Botschafter in Kiew, Bill
Taylor. Keine Aufregung, antwortete der
amerikanische Botschafter bei der EU,
Gordon Sondland, da müsse Taylor etwas
falsch verstanden haben. Es sei aber bes-
ser, die Konversation so fortzusetzen, dass
niemand sie hinterher nachlesen könne.
Die Behauptung von Trump, er habe Se-
lenskij nie eine Gegenleistung angeboten,
wenn dieser gegen Biden ermitteln lässt,
und alle Vorwürfe gegen ihn seien nur Hö-
rensagen und Gerüchte, wird durch diese
Nachrichten widerlegt. Das heißt nicht,
dass der Präsident und seine Verteidiger
nicht weiterhin voller Empörung behaup-
ten werden, dass das Telefongespräch
perfekt und wunderbar gewesen sei. Die
Dokumente, die Schiff gefunden und veröf-
fentlicht hat, aber sagen etwas anderes.

Doch Adam Schiff weiß auch sehr gut,
dass am Ende nicht unbedingt der ge-
winnt, dessen Fakten stimmen. Das ist das
vielleicht bitterste Erbe der Ära Trump:
Die Wahrheit zählt nicht mehr. Die Demo-
kraten können mit ihrer Mehrheit im
Abgeordnetenhaus Anklage gegen den Prä-
sidenten erheben. Vermutlich werden sie
es tun, und das, was Schiff in den nächsten
Wochen über Trumps Machenschaften
herausfindet, wird einen Gutteil der Ankla-
geschrift ausmachen.
Doch eine Zweidrittelmehrheit im US-
Senat, die nötig wäre, um Trump schuldig
zu sprechen und aus dem Amt zu werfen,
ist so gut wie ausgeschlossen. Die Demo-
kraten bräuchten die Stimmen von 20 re-
publikanischen Senatoren, um Trump zu
verurteilen. Bisher hat sich nur einer ein
bisschen vorgewagt, Mitt Romney, und auf
den donnerte sofort Trumps Zorn herab
wie eine Tonne Ziegelsteine. Um den Ab-
weichler wieder in die Reihe zu bringen –
und als Warnung an alle anderen.
Schiff hat sich viel mit dem Watergate-
Skandal und dem Impeachment gegen
Präsident Richard Nixon vor 45 Jahren be-
schäftigt. Es gibt einen sehr guten Podcast
zu dem Thema, „Slow Burn“, über den auf
Washingtoner Partys ganz aufgeregt gere-
det wird und den Schiff sich angehört hat.
Was er dabei gelernt hat, stimmt ihn aller-
dings nicht optimistisch. Washington war
damals noch kein so vergifteter Ort wie
heute. Nachdem bekannt geworden war,
dass es Tonbandaufnahmen gab, die Ni-
xons Untaten belegten, wurde der Präsi-
dent von seinen eigenen Leuten aus dem
Amt gedrängt. Die drei ranghöchsten repu-
blikanischen Parlamentarier marschier-
ten ins Weiße Haus und stellten ein Ultima-
tum: Rücktritt oder Rauswurf.
Aber so ist Washington nicht mehr.
Schiff hat ein Telefonprotokoll des Präsi-
denten, er hat eine detaillierte Beschwerde
von einem CIA-Mitarbeiter, er hat Text-
nachrichten von Diplomaten. Am Sonntag
wurde bekannt, dass es einen zweiten In-
formanten in der Regierung gibt, der die
Anschuldigungen gegen Trump aus eige-
nem Wissen bestätigen kann. Schiff hat
also alles das, was im Falle Nixons die belas-
tenden Tonbandaufnahmen waren.
Trotzdem ahnt er, dass er gegen Trump
verlieren wird. „Trump hat etwas, was
Nixon nicht hatte“, räumte Schiff in einem
Interview ein. „Trump hat Fox News and
ein ganzes Ökosystem voller alternativer
Informationen, in dem seine harten Anhän-
ger leben.“ Das sind die Leute, auf die
Trump mit seinem Hexenjagd-Geschrei
und demShifty-Schiff-Gespött zielt. Sie
halten zu ihm, und sie machen jedem
Republikaner die Hölle heiß, der Trump
kritisiert. „Vielleicht wäre Nixon im Amt
geblieben, wenn er das alles auch gehabt
hätte“, sagte Schiff. „Das ist schon eine
ziemlich erschütternde Erkenntnis.“

von boris herrmann

A


n einem Sonntag im September
treffen sie sich zum ersten Mal. Sie
kommen mit Kinderwagen, Tretrol-
lern, Picknickdecken und Wickeltaschen
in den Berliner Gleisdreieck-Park. Viele
sind bewaffnet – mit Straßenmalkreide.
Im Protestaufruf hieß es: „Familien, große
und kleine Rebell*innen, kommt zahlreich
zu unserer Spielplatzaktion.“
Für die Radfahrer und Jogger, die den
asphaltierten Weg neben dem Spielplatz
üblicherweise zum Sport nutzen, gibt es an
diesem Nachmittag kein Durchkommen.
Da sitzen jetzt Kleinkinder auf dem Boden,
die sich bunte Kreidestücke in den Mund
stopfen. Andere sind alt genug, um eine ein-
gekreiste Sanduhr zu malen. Eltern sind
aufgerufen, ihre Kleinen zu unterstützen.
Es dauert nicht lange, bis der ganze Weg
vollgemalt ist mit dem Logo der Klima-
schutzaktivisten von Extinction Rebellion.
Der Berliner Ortsverein dieser globalen
Bewegung gründet hier gerade eine „AG fa-
milies“. Die Revolutionen der Vergangen-
heit mögen ihre Kinder gefressen haben.
An der Revolution, die Extinction Rebelli-
on, kurz: XR, plant, sollen explizit auch
Kinder und ihre Eltern teilnehmen – dieje-
nigen, die es am meisten betrifft, wenn die
Menschheit ihre Lebensgrundlagen dem-
nächst zerstört haben wird. Ein etwa
fünfjähriger Rebell geht gleich mit gutem
Beispiel voran, er verschönert Parkbänke
und Laternenpfähle mit Aufklebern, auf
denen steht: „Aufstand gegen das Aus-
sterben“. Versteht er, was das bedeutet?


Man darf nicht so viel Müll auf den Boden
schmeißen, sagt er.
Der große Aufstand gegen das Aus-
sterben soll an diesem Montag beginnen.
XR hat angekündigt, mit „massenhaftem,
zivilen Ungehorsam“ Berlin lahmzulegen.
Es werden Straßen blockiert und Plätze
besetzt, unweit des Kanzleramts gibt es ein
Protestcamp. Im Manifest der ursprüng-
lich aus Großbritannien stammenden Be-
wegung heißt es, dass „reguläre politische
Mittel wie Demos oder Wahlen“ nicht
mehr ausreichen, um die Klimakatastro-
phe zu verhindern. Auch Schulschwänzen
am Freitag halten die Unterstützer von XR
für zu lasch, obwohl das ja auch eine Form
des zivilen Ungehorsams ist. „Wir gehen
einen Schritt weiter als Fridays for Future“,
sagt Ramona Spieler, 34, eine der Initiato-
rinnen der Familien-AG. Während sie
spricht, wird sie dauernd von ihrem knapp
zweijährigen Sohn unterbrochen. Er möch-
te endlich mal zur Netzschaukel.

Für Spieler, im Hauptberuf Übersetze-
rin, ist es kein Widerspruch, gleichzeitig
Klimaschutzrebellin und Mutter zu sein.
Ihr Kind brachte sie überhaupt erst auf den
Gedanken, sich politisch zu engagieren. Sie
fragt sich, unter welchen Bedingungen ihr
Sohn einmal leben wird. Weil ihr die Ant-
wort Angst macht, hat sie sich mit anderen

Müttern und Vätern zusammengeschlos-
sen, um sich am Aufstand zu beteiligen.
Auch bei den großen Ostermärschen
und den Anti-Atomkraftprotesten in den
Siebziger- und Achtzigerjahren waren El-
tern mit Kinderwagen und Babytrage-
tüchern an vorderster Front dabei. Manch
einer fragte schon damals: Muss das sein?
Bei den Aktionen von XR stellt sich die Fra-
ge erst recht, dabei sollen ja gezielt Regeln
und Gesetze gebrochen werden, Verhaftun-
gen sind einkalkuliert. Was haben Kinder

da zu suchen? Ramona Spieler sagt, nie-
mand habe vor, Dreijährige für Straßen-
blockaden oder als Schutzschilde einzuset-
zen. „Es geht nicht darum, die Kinder zu
instrumentalisieren.“ XR will familien-
freundliche Rebellionsformen anbieten,
abgesehen vom Angebot einer Betreuung
der Kinder von Müttern und Vätern im Sitz-
streik oder in polizeilichem Gewahrsam ist
die AG Familien aber noch in der Findungs-
phase. Im Mutterland Großbritannien ha-
be sich jedenfalls gezeigt, dass „schöne Bil-

der, zum Beispiel von Kindern in Insekten-
kostümen“, einen „positiven Nebeneffekt
für die Außenwahrnehmung“ haben kön-
nen. Spieler glaubt: „Sobald Familien mit
Kindern vor Ort sind, spricht man einen
noch breiteren Kreis von Leuten an.“
Extinction Rebellion ist sehr darum
bemüht, nicht als eine Ansammlung von
linksradikalen Draufgängern wahrgenom-
men zu werden. Sondern als eine Bewe-
gung, die den Querschnitt der Gesellschaft
vertritt. Ihr Anliegen gehe schließlich alle
etwas an. Eine Sprecherin sagt: „Wir ma-
chen unsere Blockaden nicht zum Spaß,
sondern weil uns gerade nichts Besseres
einfällt, um das Leben zu schützen.“ XR
lehnt sich auch nicht generell gegen den
Staat und seine Institutionen auf, sondern
gegen die „Untätigkeit der Regierung“. In
sogenannten Aktionstrainings üben die Ak-
tivisten Deeskalationsstrategien, in Rollen-
spielen wird dabei auch „der undankbare
Part der Polizei“ trainiert. Gewaltfrei und
fröhlich soll diese Rebellion sein, alle sind
willkommen: Arme und Reiche, Linke und
Konservative, Junge und Alte.
Davon fühlt sich auch der pensionierte
Verwaltungsfachmann Hans-Joachim Ma-
tuschek, 68, angesprochen. Er ist Extincti-
on Rebellion und der AG Familie beigetre-
ten, weil er fünf Kinder und vier Enkel-
kinder hat. Er sagt: „Mich betrifft es ja
nicht mehr, wenn die Welt untergeht, aber
die Sorge über meine Nachkommen mache
ich durch Aktionismus wett.“
Matuschek stammt aus Eberswalde,
1989 war er in der DDR-Bürgerrechts-
bewegung Neues Forum aktiv. Damals hat

er gelernt: „Man kann schon bewegen. Wir
ham’ ja dieses Ding gestürzt damals.“ Da-
mals, ’89, sei es um Freiheit gegangen.
Jetzt gehe es um viel mehr, „um Leben und
Tod“. Er will sich von seinen Enkeln nicht
fragen lassen müssen: „Wat haste denn für
uns jetan?“ Deshalb hat er ihnen jetzt mit-
geteilt: „Opa kettet sich an.“
Matuscheks Plan sieht so aus: Er wird
sich am Montag irgendwo in Berlin (den
genauen Ort verrät er nicht) möglichst so
festzurren, dass ihn niemand mehr weg-
rollen kann. Er trägt beiderseits Unter-
schenkelprothesen und braucht einen Roll-
stuhl, seit er sich „mit 20 Jahren mal vor
den Zug geworfen hat“, wie er offen er-
zählt. „Diese Prothesengeschichte“ sei für
ihn aber kein Grund, „einfach nur rumzu-
hocken“, wenn die Welt den Bach runter-
geht. Deshalb humpelt er jetzt durch einen
Baumarkt am Berliner Ostbahnhof, bis zu
Gang 5 („Ketten und Seile“). Matuschek
zieht acht Meter einer schweren Eisenket-
te von der Rolle. „Die Länge brauche ich
schon, das muss ja um den Rollstuhl rum
und dann noch durch die Räder.“ Dann
nimmt er noch ein robustes Zahlenschloss
mit und geht zur Kasse: 71,47 Euro. Das hät-
te sich die Baumarktbranche wohl nicht
träumen lassen, dass sie mal am Aufstand
gegen das Aussterben verdienen würde.
Auf dem Parkplatz sagt Matuschek:
„Jetzt hab’ ich so viel Geld ausgegeben,
jetzt muss ich das auch durchziehen.“ Am
Montag zur symbolischen Uhrzeit wird
sich dieser militant lebensbejahende Groß-
vater also im Namen seiner Enkel in Ketten
legen. Um fünf nach zwölf.

DEFGH Nr. 231, Montag, 7. Oktober 2019 (^) DIE SEITE DREI HF2 3
Am Sonntag wird bekannt: Es gibt
einen zweiten Informanten in der
Regierung, der Trump belastet
Er gilt als ruhig, gewissenhaft und kenntnisreich: Adam Schiff, 59, Chef des Geheimdienstausschusses im Repräsentantenhaus. FOTO: J. SCOTT APPLEWHITE/AP
Auf ihn mit Gebrüll
Der Demokrat Adam Schiff leitet im US-Kongress die Untersuchungen für ein Impeachment.
Donald Trump beschimpft ihn wüst – wie immer, wenn ihm einer gefährlich wird
Ebenso wie Nancy Pelosi wollte
er ein Impeachment nur als
allerletztes Mittel einsetzen
Er geht Trump gewaltig auf die
Nerven, das begann schon bei den
Russland-Ermittlungen
Damit das Ganze einen positiven
Eindruck macht, empfehlen sie
„Kinder in Insektenkostümen“
Am Wochenende wurde vor dem Reichstag noch gesungen, von diesem Montag an
wollen die Aktivisten Verkehrsknotenpunkte blockieren. FOTO: JOHN MACDOUGALL/AFP
Schulschwänzen? Viel zu lasch
Die Klimaaktivistenvon „Extinction Rebellion“ wollen Teile Berlins lahmlegen, an vorderster Front: Eltern mit Kinderwagen und Babytragetüchern

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