Süddeutsche Zeitung - 07.10.2019

(Michael S) #1
interview: wolfgang wittl

München– Diegroße Koalition zieht ihre
Halbzeitbilanz, die SPD steht vor der Wahl
einer neuen Führung, die CSU hält in zwei
Wochen ihren Reformparteitag ab. CSU-
Generalsekretär Markus Blume spricht
über Herausforderungen in der Regie-
rungsarbeit – und darüber, was mit seiner
Partei überhaupt nicht zu machen ist.

SZ: Herr Blume, die CSU inszeniert sich
seit Monaten als Tempomacher beim Kli-
maschutz. Warum bremst sie plötzlich?
Markus Blume: Wir sind Tempomacher,
aber wir halten auch die Spur. Deshalb ist
es nur logisch, dass man bei einem Jahr-
hundertprojekt wie dem Klimaschutz ein
Paket mit mehr als 200 Seiten nicht in drei
Stunden durchwinkt, sondern gründlich
studiert. Nur darum haben wir gebeten.

Immerhin hat die CSU das Paket auf dem
Weg ins Kabinett gestoppt.
Da ist nichts blockiert. Es wird alles wie ge-
plant im Bundeskabinett behandelt. Ent-
scheidend bei allem Zeitdruck ist: Es
kommt auf Seriosität im Regierungshan-
deln an, nicht auf Nervosität.

Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus wä-
re bereit, über einen höheren Einstiegs-
preis als zehn Euro pro Tonne CO2 zu re-
den. Warum macht die CSU da nicht mit?
Weil wir nach langen Verhandlungen einen
Weg gefunden haben, wo man wirklich je-
den mitnimmt, wo keiner über Gebühr be-
lastet ist. Für den Klimaschutz ist nicht der
Einstiegspreis entscheidend, sondern wo
wir in fünf und zehn Jahren stehen.

Die Konjunktur trübt ein, in Bayern bauen
große Autozulieferer Hunderte Stellen
ab. Ist der CSU die Wirtschaft nun wieder
wichtiger als der Klimaschutz?
Markus Söder hat von Anfang an gesagt:
Klima schützen und Konjunktur stützen,
beides gehört zusammen. Richtig ist: Wir
sehen massive Schleifspuren in der kon-
junkturellen Entwicklung. Auch in der Be-
völkerung wächst wieder die Sorge um den
Arbeitsplatz. Wir brauchen neue Wachs-
tumskräfte in diesem Land, weil wir unser
hohes Niveau sonst nicht halten können.

Wie wollen Sie das anstellen?
Wir denken da an einen Deutschlandplan.
Wir müssen Verkrustungen lösen, etwa
beim Arbeitsrecht. Wir brauchen eine Inno-

vationsoffensive. Wir sind nicht mehr wett-
bewerbsfähig bei der Besteuerung. Und
wir müssen auf die Sozialabgaben achten.

In der SPD mehren sich die Stimmen, man
solle die schwarze Null aufgeben.
Wir haben Jahrzehnte gerungen, dass man
vom Prinzip des ewigen Schuldenmachens
abkehrt. In Zeiten von Rekordsteuerein-
nahmen braucht es Spielräume in den
Haushalten, um konjunkturelle Dellen aus-
bügeln zu können. Das geht mit Haushalts-
disziplin, aber nicht mit neuen Schulden.
Für mich ist völlig ausgeschlossen, dass
wir die schwarze Null aufgeben und einen
konsumtiven Dammbruch zulassen.

Auch immer mehr Wirtschaftsexperten ra-
ten zur Preisgabe der schwarzen Null, um
Geld in Zukunftsprojekte zu stecken.
Es ist zulässig zu überlegen, wie man nöti-
ge Sonderinvestitionen organisiert – etwa
für Klimaschutz, für Innovationen, für Di-
gitalisierung. Aber einfach mal die schwar-
ze Null infrage zu stellen und dann zu sa-
gen, wir finanzieren damit große Wohlfühl-
programme, das wird es nicht geben.

Die SPD-Vorsitzende Malu Dreyer hat sich
soeben wieder für eine Grundrente ohne
Bedürftigkeitsprüfung ausgesprochen.
Wir leben nicht in einer Zeit, in der wir mil-
liardenschwere Umverteilung organisie-
ren können. Wir haben im Koalitionsver-
trag klar definiert, wem wir helfen wollen:
bedürftigen Menschen, die ein Leben lang
gearbeitet haben und im Alter trotzdem in
der Grundsicherung landen. Auf deren Un-
terstützung können wir uns sofort einigen.

Finanzminister Olaf Scholz möchte, dass
der Bund die Hälfte der Altschulden von
klammen Kommunen übernimmt. Ist das
auch so eine rote Linie?
Selbstverständlich. Hilfe zur Selbsthilfe ja,
aber keine Blankoschecks.

Die SPD zieht bald Halbzeitbilanz der Re-
gierung. Wo könnte die CSU ihr entgegen-
kommen in den nächsten zwei Jahren?
Gemeinsames Regieren in einer großen Ko-
alition heißt nicht, ständig sozialdemokra-
tische Rettungspakete zu schnüren. Unse-
re Maßgabe bleibt der Koalitionsvertrag.

Sie haben CSU-Vize Manfred Weber gerüf-
felt, weil er Schwarz-Rot als Auslauf- und
Schwarz-Grün als Zukunftsmodell sieht.
Hat er nicht das Unvermeidliche gesagt?
Notwendig ist, dass wir als Union wieder
neue Stärke gewinnen durch unsere Kern-
kompetenzen: Verlässlichkeit bei Recht
und Ordnung, Zukunftsfähigkeit bei Wirt-
schaft und Fortschritt. Man verzwergt
sich, wenn man ständig auf Koalitionsopti-
onen schaut. Die Grünen zeigen bei jeder
Gelegenheit, dass sie für einen bürgerli-
chen Kurs, da, wo er sich böte, nicht zu ha-
ben sind. Auf wirtschaftliche Herausforde-
rungen mit Enteignungsplänen und Straf-
steuern zu antworten, wie es Grünen-Chef
Robert Habeck macht, das ist pures Gift.

Sie fordern neue Stärke für die Union. Ist
Ihnen die CDU im Moment zu schwach?
Die CSU hat in ihrem Jahr der Erneuerung
sehr vieles richtig gemacht. Markus Söder
prägt die CSU mit klarem Kurs und neuem
Stil. Ich sehe, dass die CDU sich ebenfalls
stark bemüht, zu neuer Stärke zu finden.
Stark bemüht? In einem Arbeitszeugnis
ist das eine Fünf!
Ich denke, wie in der CSU weiß jeder in der
CDU, worauf es ankommt. In den Fragen
von Wirtschaft, Finanzen und Sicherheit
liegen die großen Herausforderungen. Sie
werden sehen, dass die Union neue Kon-
junktur haben wird.

Mit Blick auf die roten Linien, die Sie gezo-
gen haben: Wird die große Koalition bis
zum Ende durchhalten?
Wir sind in Verantwortung, das Beste zu
machen fürs Land. Ich kann der SPD nur
wünschen, dass sich dort die Kräfte durch-
setzen, die verliebt sind ins Gelingen. Es
liegt nicht an uns.
Die CSU will also weitermachen bis zum
Schluss. Auch mit Angela Merkel?
Das klingt jetzt so nach Durchhalten bis
zum Untergang. Wir sind aber nicht auf
derTitanic. Das ist nicht das Bild, das ich
von dieser Koalition habe. Wir haben einen
klaren Kurs, den wollen wir halten.
Mit Angela Merkel?
Sie ist die aktuelle Kanzlerin.

„Nicht auf der ‚Titanic‘“


CSU-GeneralsekretärMarkus Blume redet über die Sorge um das Klima und
um die Konjunktur, über Schwarz-Grün und die Zukunft der großen Koalition

Berlin –Die Bundesregierung bemüht
sich, den Streit um ein bislang unbekann-
tes Drohvideo des späteren Weihnachts-
markt-Attentäters Anis Amri zu entschär-
fen. Wie die Deutsche Presse-Agentur am
Samstag erfuhr, teilte die Regierung am
Freitagnachmittag dem Untersuchungs-
ausschuss des Bundestages zum Anschlag
auf dem Breitscheidplatz mit, dass in den
umfangreichen Akten, die man dem Aus-
schuss zur Verfügung gestellt habe, an drei
Stellen auf die Existenz des Videos hinge-
wiesen werde. Darunter sollen auch Foto-
aufnahmen aus dem Video sein.
Zudem läuft dem Vernehmen nach aktu-
ell ein Konsultationsverfahren mit dem
ausländischen Nachrichtendienst, der das
Video übermittelt hatte. Ziel dieses Verfah-
rens sei es, den Ausschussmitgliedern die
Videosequenz zur Verfügung zu stellen,
hieß es. Dies war bisher unter Verweis auf
einen Sperrvermerk abgelehnt worden.
Das Video, in dem Amri eine Pistole in der
Hand hat, soll im November 2016 aufge-
nommen und nach dem Anschlag von ei-
nem ausländischen Geheimdienst an den
Bundesnachrichtendienst weitergeleitet
worden sein. Amri hatte einen polnischen
Lastwagenfahrer erschossen. Mit dem
Lastwagen raste er am 19. Dezember 2016
über den Breitscheidplatz in Berlin und tö-
tete elf Menschen. dpa

München– Noch vor wenigen Jahren war
für Flüchtlinge die Aufnahme ins Kirchen-
asyl fast eine Garantie dafür, dass sie ihr
Asylverfahren in Deutschland durchlaufen
dürfen. Inzwischen sind ihre Erfolgsaus-
sichten minimal: In weniger als zwei Pro-
zent der in diesem Jahr vom Asylbundes-
amt geprüften Fälle verzichtet die Behörde
aus humanitären Gründen auf eine Ab-
schiebung. In den Jahren 2015/16 lag die Er-
folgsquote im Kirchenasyl noch bei rund
80 Prozent, so die Arbeitsgemeinschaft
Asyl in der Kirche.
In fast allen Fällen wollen die Kirchenge-
meinden erreichen, dass ein Schutzsuchen-
der nicht in den EU-Staat zurückgeschickt
wird, wo er zuerst europäischen Boden be-
treten hat. In einem Dossier müssen sie
den Fall dem Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge (Bamf) schildern. Dieses
hat die Möglichkeit, aus humanitären
Gründen das Verfahren zu übernehmen.
Dies geschieht immer seltener: Im vergan-
genen Jahr war die Erfolgsquote schon auf
knapp zwölf Prozent gesunken. In den ers-
ten acht Monaten 2019 standen fünf Zusa-
gen 292 Absagen gegenüber. Will eine Kir-
chengemeinde die Abschiebung dennoch
verhindern, muss der Flüchtling oft 18 Mo-
nate in den Kirchenräumen leben, bis die
Frist zur Abschiebung in einen EU-Staat ab-

gelaufen ist. Derzeit sind rund 430 Fälle
von Kirchenasyl bekannt.
Die aktuelle Quote geht aus einer Ant-
wort der Bundesregierung an die Links-
fraktion im Bundestag hervor. Das Innen-
ministerium betont, man prüfe mögliche
humanitäre Härtefälle einheitlich, egal
wer dies beantrage. In einem Großteil der
Kirchenasyl-Fälle hätten bereits Gerichte
den Negativ-Bescheid des Bamf bestätigt.
Wenn Gemeinden ihr Kirchenasyl allein
auf Argumente stützten, die bereits von ei-

nem Gericht geprüft seien, bestehe das
Bamf in der Regel auf einer Ausreise.
Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin
der Linken, kritisiert den „Konfrontations-
kurs“ des Bamf gegen die Kirchen; Innen-
minister Horst Seehofer (CSU) müsse ihn
beenden: „Die Kirchengemeinden machen
es sich gewiss nicht einfach und prüfen Kir-
chenasyl-Fälle sehr gründlich. Wie anma-
ßend ist es, ihnen vorzuhalten, das Bamf
könne humanitäre Einzelfälle besser ent-
scheiden?“ Seehofer selbst hatte sich Ende
2018 öffentlich zum Kirchenasyl bekannt:
„Ich respektiere als Christ die Tradition
des Kirchenasyls, und ich betrachte das
Kirchenasyl als hilfreiche und erhaltens-
werte ,Ultima Ratio‘ in besonders gelager-
ten Härtefällen“, sagte er dem evangeli-
schen MagazinZeitzeichen.

Drastisch gesunken ist auch die Chance
auf Familienzusammenführung in
Deutschland für Flüchtlinge, die in Grie-
chenland leben. Während auf griechischen
Inseln Zehntausende Flüchtlinge unter oft
katastrophalen Bedingungen leben, haben

jene, die Angehörige in Deutschland ha-
ben, nur geringe Chancen, zu ihnen ziehen
zu dürfen. Im zweiten Quartal 2019 hat die
Bundesregierung 84 Mal einem entspre-
chenden Antrag Griechenlands zuge-
stimmt – und 366 Anträge zur Familienzu-
sammenführung abgelehnt; die Erfolgs-
quote aller griechischer Übernahmeersu-
chen lag bei 17 Prozent. Im Quartal davor
betrug sie noch 31 Prozent; im gesamten
Vorjahr lag sie bei knapp 40, und 2017 bei
81 Prozent. Grundlage der Zu- und Absa-
gen seien individuelle Prüfungen der Ein-
zelfälle, so die Bundesregierung.
Als „Gegenteil der oft versprochenen
Humanität und Solidarität in Europa“ kriti-
siert Jelpke die Entwicklung. „Statt akri-
bisch nach Ablehnungsgründen zu su-
chen“, müsse das Bamf die Regeln zur Fa-
milienzusammenführung „wieder großzü-
gig und menschenfreundlich handhaben“.
Auch die Hilfsorganisation Pro Asyl übte
Kritik: „Eltern und Kinder haben in den In-
sellagern über Monate keinerlei Zugang zu
rechtsstaatlichen Strukturen, um ihr
Recht auf Familiennachzug überhaupt in
Anspruch zu nehmen. Deutschland lehnt
Übernahmeersuchen von Familienangehö-
rigen aus Griechenland mittlerweile syste-
matisch ab mit der Begründung, Fristen
seien abgelaufen.“ bernd kastner

Berlin– Für alle, die Brandenburg regie-
ren wollen, hält die Verfassung eine Beson-
derheit parat: Grob gesagt muss vier Mo-
nate nach einer Wahl der neue Minister-
präsident gewählt sein. Ansonsten geht es
von vorne los, die Vorschriften verlangen
für diesen Fall Neuwahlen. In Potsdam
war es in der Vergangenheit fast schon ein
Sport, diese Spanne zu unterbieten: Die
erste Landesregierung stand bereits zwei
Wochen nach der Wahl, am längsten dau-
erte es 2014 – einen Monat und drei Wo-
chen.

An diesem Montag treffen sich die Un-
terhändler von SPD, CDU und Grünen zur
nächsten Runde ihrer Koalitionsgesprä-
che. Die Brandenburger haben am 1. Sep-
tember gewählt, und klappt nun alles wie
geplant, wird der alte Ministerpräsident
Dietmar Woidke (SPD) am 27. November
auch zum neuen Regierungschef ernannt


  • nach knapp drei Monaten. Gemessen an
    früher scheinen die Gespräche geradezu
    zäh zu verlaufen. Gemessen an der kom-
    plexen Lage nach der Wahl aber ist dieser
    Terminplan fast rekordverdächtig.


Als Gewinner sind AfD und Grüne aus
der Wahl hervorgegangen, stärkste Partei
wurde trotz massiver Verluste knapp die
SPD. CDU und Linke brachen regelrecht
ein. Da keine der anderen Parteien mit der
großteils extrem rechten AfD im Land zu-
sammenarbeiten wollte, blieb nur eine
Dreierkoalition, über die SPD, CDU und
Grüne gerade verhandeln. Doch bevor es
so weit kommen konnte, musste die Lan-
des-CDU erst ihre gesamte Führung aus-
wechseln. Die bestand hauptsächlich aus
Ingo Senftleben, Spitzenkandidat, Partei-
und Fraktionschef in Personalunion. Er
wurde vom rechtskonservativen CDU-Flü-
gel zum Rücktritt gedrängt.
Jan Redmann, der neue Vorsitzende der
CDU-Fraktion, spricht nun fast begeistert
von den Verhandlungen: Der Umgang sei
völlig anders als nach früheren Wahlen.
Diesmal würden die einzelnen Themen
von der Inneren Sicherheit bis zum Um-
weltschutz im Detail ausgearbeitet. Was
die Zusammenarbeit angehe, „schauen
wir eher auf Kiel als auf Magdeburg“, sagt
Redmann. In beiden Landeshauptstädten
regieren Koalitionen aus CDU, Grünen und
einem dritten Partner. In Kiel eher mitein-
ander, in Magdeburg eher gegeneinander.
Vom kooperativen Geist der Gespräche
in Potsdam berichten auch Vertreter von
SPD und Grünen. Fast 100 Abgesandte ver-

handeln in sieben Expertengruppen. De-
ren Ergebnisse werden dann, beginnend
an diesem Montag, in der Runde der Haupt-
verhandler abgesegnet. Jede Partei schickt
dieselbe Anzahl von Vertretern in die Grup-

pen, auch wenn die Stimmenprozente von
26 (SPD) über 15 (CDU) bis 11 (Grüne) rei-
chen. Manchmal wird das Machtgefälle je-
doch sichtbar, etwa wenn der bisherige
SPD-Innenminister, Karl-Heinz Schröter,

in der Gruppe Innere Sicherheit versucht,
den Vertreter der Grünen zu maßregeln.
Das aufwendige Verfahren hat auch ei-
nen praktischen Grund: Bei etlichen The-
men wie Braunkohletagebau, Wirtschafts-
förderung oder Bau von Abschiebegefäng-
nissen werden die ungleichen Partner teils
harte Kompromisse eingehen müssen. Je
mehr Parteienvertreter eingebunden sind,
desto breiter wird die Zustimmung sein.
Denn die Grünen wollen ihre Basis in einer
Urwahl über den Koalitionsvertrag abstim-
men lassen, die CDU plant eine Mitglieder-
befragung. Die ist dann zwar nicht bin-
dend, aber „am Votum der Basis kommt
kein Parteitag vorbei“, sagt Redmann.
Damit sich dennoch jeder der Partner
profilieren kann, plädiert Redmann dafür,
Ministerinnen und Ministern größtmögli-
chen Handlungsspielraum zu geben: „Wir
sind dafür, dass jede Partei in ihren Res-
sorts etwas mehr Beinfreiheit bekommt.“
Und dann ist da noch das Problem mit dem
Bundesrat. Ist eine Koalition uneins, ent-
hält sich eine Regierung in der Regel bei Ab-
stimmungen in der Länderkammer. Um
das zu verhindern, studieren die Verhand-
ler gar die Verträge der Europäischen Wirt-
schaftsgemeinschaft von 1957, des Vorläu-
fers der EU: Darin wurde eine Ausnahme
vom Prinzip der Einstimmigkeit verein-
bart.jan heidtmann  Seite 4

München– DieGrünen wollen die Klima-
politik verschärfen und deutlich über die
Pläne der Bundesregierung hinausgehen.
Das geht aus einem Antrag des Bundesvor-
standes für den Grünen-Parteitag im No-
vember hervor. „Während die große Koaliti-
on alles nach hinten schiebt und entspre-
chend in Kauf nimmt, dass Deutschland in
den Jahren 2019 bis 2025 kaum etwas ein-
spart, geschweige denn in den Jahren zu-
vor, geht unser Ansatz darauf, möglichst
schnellstmöglich Budgeteinsparungen vor-
zunehmen“, sagte Parteichefin Annalena
Baerbock am Wochenende.
Unter anderem wollen die Grünen den
Ausstoß von Kohlenstoffdioxid stärker be-
steuern als bislang von der großen Koaliti-
on geplant. In den Bereichen Verkehr und
Wärme solle die Energiebesteuerung mit
einer CO2-Komponente reformiert wer-
den, wobei der Einstiegspreis bei 40 Euro
pro Tonne liegen und 2021 auf 60 Euro stei-
gen müsse. Die Bundesregierung plant der-
zeit einen CO2-Preis von nur zehn Euro ab
dem Jahr 2021, der bis 2035 auf 35 Euro
steigen soll.


In der Landwirtschaft wollen die Grü-
nen eine Reduzierung der Fleischprodukti-
on erreichen. Industrielle Tierhaltung sol-
le in tiergerechte Haltung umgebaut wer-
den. Öffentliche Kantinen sollen mehr ve-
getarische und vegane Gerichte anbieten.
Radikale Maßnahmen fordert der Par-
teivorstand auch im Straßenverkehr: Ab
2030 sollen nur noch emissionsfreie Autos
zugelassen werden, für CO2-intensive Fahr-
zeuge soll die Kfz-Steuer steigen. Auf Auto-
bahnen sieht der Antrag ein generelles
Tempolimit von 130 Stundenkilometern
vor, innerorts sollen die Kommunen leich-
ter Tempo 30 einführen können. Ab 2025
solle der Bau neuer Bundesstraßen stop-
pen, Deutschland sei „mit Straßen ausrei-
chend erschlossen“. Erweitert werden soll
dafür das Schienennetz der Bahn. Dies soll
dann bis 2030 Inlandsflüge überflüssig
machen. Die Steuerbefreiung für Kerosin
wollen die Grünen aufheben und dafür ei-
ne Mehrwertsteuer auf alle Flugreisen ein-
führen. Neue Start- und Landebahnen sol-
len nicht mehr genehmigt werden.
Der Chef der SPD-Bundestagsfraktion
kritisierte den Vorstoß: Die Grünen mach-
ten neoliberale Politik für ihre gut situierte
Klientel und wollten „die Lenkungsfunkti-
on zu klimaneutralem Handeln mit einem
höheren Preis erreichen“, sagte Rolf Mütze-
nich imTagesspiegel. „Wir Sozialdemokra-
ten sind der Meinung, der Staat muss erst
bestimmte Rahmenbedingungen auch
und vor allem für Geringverdiener schaf-
fen, damit die Gesellschaft umsteuern
kann.“ bernd kramer, dpa


DEFGH Nr. 231, Montag, 7. Oktober 2019 (^) POLITIK HF3 5
Abgeordnete sollen
Amri-Videosehen dürfen
Fast ohne Chance im Kirchenasyl
Obhut in Gotteshäusern schützt immer weniger Flüchtlinge vor einer Abschiebung
Nürnberg –Bundesarbeitsminister
Hubertus Heil (SPD) verlangt, dass der
Bund nur noch Aufträge an Firmen
vergibt, die sich an Tarifverträge halten.
Er wolle verhindern, „dass mit öffentli-
chem Geld Tarifflucht unterstützt
wird“, sagte Heil am Sonntagabend bei
der Eröffnung des Gewerkschaftstags
der IG Metall in Nürnberg. Er kündigte
an, darüber mit Wirtschaftsminister
Peter Altmaier (CDU) zu sprechen, der
in der Bundesregierung für ein solches
Tariftreuegesetz zuständig wäre. Tarif-
treuegesetze gibt es bereits in allen
Bundesländern außer Bayern und Sach-
sen. Die Zweite Vorsitzende der Gewerk-
schaft, Christiane Benner, sagte, eine
Volkswirtschaft und Demokratie „fährt
deutlich besser mit Tarifverträgen“.de.
Guter Ton unter ungleichen Partnern
In Brandenburg ringen SPD, CDU und Grüne um eine Koalition und harte Kompromisse – und vor einem Bündnisvertrag stehen noch hohe Hürden
Nur wenige Flüchtlinge aus
griechischen Lagern dürfen zu
Angehörigen nach Deutschland
Am Ende wollen
CDU und Grüne
ihre Mitglieder befragen
„Massive Schleifspuren“: Im BMW-Stammwerk München laufen die Bänder.
Doch bei Zulieferern sind Arbeitsplätze in Gefahr. FOTO: ROBERT HAAS
Berlin –Ein Mann hat in Berlin-Mitte
die Absperrung vor der Neuen Synago-
ge überwunden und ein Messer gezo-
gen. Mitarbeiter des Objektschutzes
hätten daraufhin ihre Dienstwaffen
gezogen und den 23-Jährigen aufgefor-
dert, die Waffe fallen zu lassen, teilte
die Polizei am Samstag mit. Nachdem
dieser sich am Freitag weigerte, setzten
Unterstützungskräfte Pfefferspray ein
und überwältigten den Mann. Den Anga-
ben nach ließ sich sein Motiv zunächst
nicht klären. Da ein politischer Hinter-
grund nicht ausgeschlossen werden
kann, hat der Staatsschutz die Ermitt-
lungen übernommen. Bei einer Durch-
suchung der Wohnung des Mannes
wurden mehrere elektronische Geräte
und Unterlagen beschlagnahmt. dpa
Berlin– Dank guter Wahlergebnisse
und steigender Mitgliederzahlen wer-
den die Grünen nach einem Medienbe-
richt knapp fünf Millionen Euro mehr
als im Vorjahr aus der staatlichen Partei-
enfinanzierung erhalten. Die Zuwendun-
gen an sie steigen von 19,9 Millionen
auf 24,6 Millionen Euro, wie dieWelt
am Sonntagberichtet. Dabei darf der
Zuschuss aus Steuermitteln für erzielte
Wählerstimmen nicht höher sein als die
Parteieinnahmen, insbesondere Beiträ-
ge und Spenden. Die anrechenbaren
Zuwendungen aus Mitglieds- und Man-
datsbeiträgen sowie Spenden bis 3300
Euro pro Person lagen 2018 aber mit
20,4 Millionen Euro höher als im Bun-
destagswahljahr 2017. dpa
Kirchliche Willkommenskultur auf ara-
bisch – doch die Erfolgsaussichten beim
Kirchenasyl sind minimal.FOTO: SCHULZE/DPA
Markus Blume, 44,
einstdeutscher Junioren-
meister im Eistanz,
ist Abgeordneter des
Bayerischen Landtags
und seit März 2018
Generalsekretär der CSU.
SPD-Fraktionschef Mützenich FOTO: IMAGO / ZUMA PRESS
nennt die Vorschläge „neoliberal“
Besser mit Tarifvertrag
Positionsbestimmung in Potsdam: Dietmar Woidke (SPD) mit seinen Gesprächs-
partnern Michael Stübgen (CDU, li.) und Ursula Nonnemacher. FOTO: C. GATEAU/DPA
Verteuern
und verbieten
Grüne schlagen radikaleren
Klimakurs als die Regierung ein
Mit Messer vor der Synagoge
Mehr Millionen für die Grünen
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