Süddeutsche Zeitung - 07.10.2019

(Michael S) #1
Er ist der Erste, der sich aus der Deckung
wagte:„Ich bin bereit“, twitterte Gideon
Saar nur wenige Minuten nachdem Benja-
min Netanjahu seine Überlegungen öf-
fentlich gemacht hatte, sich als Likud-
Chef einer Wahl zu stellen. Dabei wollte
sich der amtierende Premierminister ei-
gentlich der Unterstützung seiner Partei
versichern, nach der Wahlniederlage vom


  1. September und den Problemen bei der
    Koalitionsbildung. Nach Saars Kampfan-
    sage wurde das Votum abgesagt. Der
    frühere Bildungs- und Innenminister be-
    teuerte daraufhin, er sei weiter bereit zu
    kandidieren. Solange Netanjahu im Amt
    sei, unterstütze er ihn. Netanjahus Anhän-
    ger verbreiteten daraufhin in der Nacht
    zum Sonntag: „Der Putsch ist abgesagt.“
    Saar, 52, war auch der Erste in den Rei-
    hen des rechtsnationalen Likud, der sich
    öffentlich gegen die Pläne des Premiermi-
    nisters für ein Immunitätsgesetz stellte,
    das Netanjahu Schutz vor Anklagen in
    drei Korruptionsfällen bieten sollte. Der-
    zeit werden Anhörungen abgehalten, da-
    nach fällt die Entscheidung, ob sich der
    Ministerpräsident vor Gericht verantwor-
    ten muss. Wegen seiner Kritik an Netanja-
    hu wurde Saar mit Beleidigungen in so-
    zialen Medien überzogen. Sogar seinem
    fünfjährigen Sohn David wurde in der
    Vorschule nachgestellt. Die ultrarechte
    Organisation Lehava, die Beziehungen
    zwischen Juden und Nichtjuden ablehnt,
    forderte Saar auf, Treffen zwischen seiner
    erwachsenen Tochter Alona und dem Pa-
    lästinenser Amir Khoury, Schauspieler in
    der Serie „Fauda“, zu unterbinden. Als „jü-
    discher Vater“ müsse er sich um die „Exis-
    tenz des jüdischen Volkes“ sorgen. Saars
    Antwort: „Haltet euch aus ihren privaten
    Angelegenheiten raus!“


Die Erfahrung, dass Privates und Beruf-
liches nicht einfach zu trennen sind,
machte Saars zweite Frau Geula Even. Als
politische Journalistin hatte sie nach ih-
rer Heirat 2013 berufliche Probleme. Saar
kündigte 2014 an, eine Auszeit aus der Po-
litik zu nehmen. Kurz vor seinem politi-
schen Comeback Ende vorigen Jahres gab
dann Geula Even ihren Job als Moderato-
rin der Hauptnachrichtensendung des öf-
fentlichen Senders Kan auf.
Die Gründe für seinen vorübergehen-
den Rückzug aus der Politik gab Saar nie
öffentlich bekannt. In seiner Zeit als Bil-
dungs- und Innenminister zwischen

2009 und 2014 galt er schon als potenziel-
ler Nachfolger Netanjahus. Spätestens als
er in parteiinternen Vorwahlen mehr Stim-
men als der Premier erhielt und gegen des-
sen Widerstand Reuven Rivlin bei der
Präsidentschaftskandidatur unterstütz-
te, wurde Saar zu Netanjahus Rivalen.
Nach dessen Comeback verweigerte
Netanjahu Saar vor der Parlamentswahl
im April einen attraktiven Listenplatz. Ne-
tanjahu bezichtigte Saar und Rivlin, einen
„Putsch“ gegen ihn zu planen, um ihn als
Premierminister zu verhindern. Aber
trotz dieser Attacken zeigte sich, dass
Saar weiterhin hohe Popularität unter
den Likud-Mitgliedern genießt: Er wurde
auf den vierten Listenplatz gewählt. In ei-
ner Umfrage unter allen Israelis landete
Saar auf Platz eins, als gefragt wurde, wer
Netanjahu im Likud nachfolgen sollte. Bei
der Frage, ob Netanjahu oder besser Saar
Premierminister werden sollte, lag der
amtierende Regierungschef nur einen
Prozentpunkt vorne.
Politisch gilt der smarte Saar als flexi-
bel, er vertritt sowohl liberale als auch
rechte Positionen. So lehnte er den Rück-
zug jüdischer Siedler 2005 aus dem Gaza-
streifen ab, er ist auch gegen einen palästi-
nensischen Staat. Der Jurist Saar vertei-
digt immer wieder den Rechtsstaat –
auch gegen Netanjahus Angriffe. Bevor er
sich der Rechtswissenschaft zuwandte, ar-
beitete Saar als Journalist – unter ande-
rem für Uri Avnerys linkes Wochenmaga-
zinHaolam Haseh(„Diese Welt“). Seinen
Wunsch, Premierminister zu werden, soll
Saar erstmals mit 16 Jahren geäußert ha-
ben. Einen Premier kannte er von Kindes-
beinen an: David Ben-Gurion. Saars Vater
war der Arzt von Israels Staatsgründer.
alexandra föderl-schmid

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von lea deuber

I


n Hongkong missbrauchen die Behör-
den ein Notstandsgesetz aus der Kolo-
nialzeit, um die Freiheit der Bürger
einzuschränken. Die Regierung fügt da-
mit dem Hongkonger Rechtsstaat irrepa-
rablen Schaden zu. Die Entscheidung ist
eine politische Bankrotterklärung und
zeigt, dass die Regierung kein Interesse
mehr hat an einem Dialog.
Inzwischen aber äußern viele weniger
Kritik an Peking – der Macht hinter der
Regierung Hongkongs – als vielmehr an
den Demonstranten. Diese fordern ne-
ben dem allgemeinen Wahlrecht und ei-
ner Untersuchung der Polizeigewalt auch
Straffreiheit für Festgenommene und ver-
langen, dass sie nicht mehr als „Aufstän-
dische“ bezeichnet werden. Eine pauscha-
le Straffreiheit ist als Forderung fragwür-
dig. Immerhin kämpfen die Menschen
für einen Rechtsstaat. Es wäre jedoch
falsch, sich hierauf zu konzentrieren.
Was die Demonstranten auf die Straße
treibt, sind nicht nur konkrete Forderun-
gen; es ist das Gefühl, kein politisches Ver-
trauen mehr haben zu können. Die Men-
schen haben den Glauben an ihre Regie-
rung, Polizei und Justiz verloren. Es ist ku-
rios, wenn man der Bewegung vorwirft,
keinen Anführer zu bestimmen. Die füh-
renden Köpfe der Regenschirmbewe-
gung 2014 sind politisch verfolgt worden.
Und die Behörden lassen bereits jetzt er-
neut führende Aktivisten festnehmen.
Sicher ist die zunehmende Gewalt eini-
ger Demonstranten ein Problem. Die
überwiegende Mehrheit freilich protes-
tiert friedlich. Ohne demokratische Mit-
bestimmung bleibt das ihr einziger Weg,
politischen Unmut auszudrücken. In je-
dem demokratischen System müsste der
Regierungschef zurücktreten, wenn er
das Vertrauen der Bevölkerung verliert.
In Hongkong werden die Massen hinge-
gen bedroht, verprügelt und verhaftet. Pe-

king versucht, die Bewegung auszublu-
ten. So zu tun, als würde man deren Bot-
schaft nicht verstehen, weil die Methodik
nicht stimmt, ist beschämend. Die Men-
schen kämpfen schlicht für ihre Freiheit.
Anstatt diese Bewegung zu unterstüt-
zen, macht man es sich in Deutschland
leicht. Berlin pocht auf die Einhaltung
des Prinzips „Ein Land, zwei Systeme“.
Dabei ist dieses längst gescheitert. Pe-
king hat es von 1997 an unterwandert,
seit dem ersten Tag der Übergabe durch
die Briten. Es hat Aktivisten verschleppt,
Abgeordnete aus dem Amt gedrängt und
die Wirtschaft gegängelt, bis sie nach Chi-
nas Regeln spielte.

Die deutschen Wirtschaftsinteressen
in China sind größer als das Interesse an
den politischen Freiheiten der Menschen
in Hongkong. Impliziert verlangt man
von den Demonstranten, auf Freiheits-
rechte zu verzichten, weil es ihnen ja wirt-
schaftlich gut gehe. Aus der deutschen
Ferne lässt sich leicht über die dramati-
sche Menschenrechtslage in China hin-
wegsehen, doch vor Ort, in Hongkong, ist
der autoritäre Einfluss Chinas überall zu
spüren. Den darf eine Bundesregierung
nicht ignorieren.
Die Hongkonger Demonstranten wer-
den in diesen Tagen von manchen hinge-
stellt wie ein Kind, das noch nicht weiß,
wann es den Mund zu halten hat. Hinter
den Kulissen drängen Akteure der deut-
schen Wirtschaft auf ein Ende der Protes-
te, weil diese die Bilanzen verhageln. Die
Demonstranten führen damit nicht nur
Peking vor. In westlichen Demokratien
beanspruchen viele Menschen Freihei-
ten für sich, die ihnen anderswo, zum Bei-
spiel in Hongkong, offenbar egal sind.

von nico fried

H


orst Seehofer, der alte Mann der
CSU, hat sich entschieden, als eine
Art lonesome Cowboy dem Son-
nenuntergang seiner politischen Lauf-
bahn entgegenzustiefeln. Der Innenminis-
ter gibt in der Flüchtlingspolitik nicht
mehr viel auf Einwände aus der Union,
selbst wenn sie von deren Fraktionschef
Ralph Brinkhaus kommen. Seehofer
macht jetzt das, was er für richtig hält –
und was seinem Seelenfrieden dient.
Wie hat Seehofer noch vor einem Jahr
versucht, jeden einzelnen Sekundärflücht-
ling an der Grenze zu einer Gefahr für die
nationale Sicherheit zu stilisieren? Nun
plötzlich sagt er, auf ein paar Hundert Mi-
granten mehr oder weniger komme es im
Namen der Menschlichkeit nicht an. Wie
hat sich Seehofer mit Viktor Orbán solida-
risiert, dem wichtigsten Saboteur einer eu-
ropäischen Flüchtlingspolitik? Nun plötz-
lich betont er die Gemeinsamkeit der EU
als wichtigstes Ziel. Wie hat sich Seehofer
verbissen in Angela Merkels Politik? Nun
reist der Innenminister eigens nach Anka-
ra und Athen, um von der Politik der Kanz-
lerin zu retten, was noch zu retten ist.
Ein wichtiges Motiv für das Verhalten
Seehofers dürfte in seiner Persönlichkeit
liegen. Horst Seehofer hat politisch im-
mer gern gerauft, er ist keiner Auseinan-
dersetzung aus dem Weg gegangen und
hat manche gewonnen. Aber wichtiger,
als zu gewinnen, war für Seehofer immer
etwas anderes: recht behalten. Dem dient
nun auch seine neue Flüchtlingspolitik.
Eine der schwersten politischen Nieder-
lagen Seehofers war 2004 sein Rücktritt
als Vizefraktionschef. Er musste sich in
der Sozialpolitik dem damals noch unge-
bremsten Reformeifer Angela Merkels
beugen. Seehofer aber sah in der Politik
der damaligen Oppositionsführerin auch
ein Symbol für einen ungehemmten Neoli-
beralismus, der sich den bewährten Sozial-

staat westdeutscher Prägung unterwarf.
Deshalb empfand er wenige Jahre später
die Finanzkrise auch als Bestätigung, dass
er mit seinen Warnungen vor einem ent-
fesselten Kapitalismus recht behalten hat-
te. Er hat das jedem gesagt, auch denen,
die es gar nicht hören wollten.
In der Flüchtlingspolitik seit 2015 war
Seehofers wichtigstes Anliegen die be-
rühmte Obergrenze. Diese Zielvorgabe
sah er als notwendig an, um die Integrati-
on der Flüchtlinge zu gewährleisten und
die Akzeptanz der Bevölkerung zu si-
chern. Anders gesagt: um die Flüchtlings-
politik zu ordnen und zu steuern. Dafür
hat er sich mit Merkel ebenso angelegt wie

mit dem Grundgesetz, den Unionsfrieden
riskiert, die Koalition infrage gestellt, sich
wegen seiner Hartleibigkeit zum Gespött
gemacht und manchen Irrsinn erzählt,
den er heute wohl selbst bereut. Die Ober-
grenze hat Seehofer nie bekommen, nur
einen Korridor zwischen 180000 und
220 000 Flüchtlingen, die Deutschland
jährlich aufzunehmen bereit ist.
Jetzt, da die Zahl der Flüchtlinge, die
pro Jahr nach Deutschland kommen, klar
unter der von ihm geforderten Obergren-
ze liegt, kann er demonstrativ flexibel
sein. Wenn Seehofer heute bei der Aufnah-
me von Geretteten aus dem Mittelmeer
den Generösen gibt, wenn er beim deut-
schen Anteil an europäischen Kontingen-
ten in Vorleistung geht, dann will er rück-
wirkend auch seinen Kampf seit 2015 legi-
timieren. Wenn die Härte von damals als
Voraussetzung für die Großzügigkeit von
heute akzeptiert würde, hätte Seehofer
ihr endlich einen Sinn gegeben – und für
sich das erreicht, was ihm am wichtigsten
ist: recht behalten.

B


evor Christophe Castaner Frank-
reichs Innenminister wurde, ver-
diente er sein Geld unter anderem
als Pokerspieler. Er kokettiert bis heute da-
mit, dass ein bekannter Krimineller für
ihn „wie ein Bruder“ gewesen sei. Als In-
nenminister wollte er nun vor allen Din-
gen eines sein: bester Freund der Polizei.
Castaner wird betont ungemütlich, wenn
Medien Polizeigewalt kritisieren. Allein
das Wort verbiete sich, da es den gesam-
ten Berufsstand verunglimpfe.
Seit Freitag ist Castaner für die Polizei
jedoch nicht mehr der starke Kumpel an
ihrer Spitze, der er gerne wäre. Er ist ein In-
nenminister, der einen mutmaßlichen is-
lamistischen Anschlag auf vier Polizisten


verharmlost hat. Unklar ist bislang, ob
Castaner es nicht besser wusste oder ob er
bewusst verschwieg, dass der Angreifer
Kontakte zu bekannten Salafisten hatte.
Es ist nicht das erste Mal, dass Castaner in
einer unübersichtlichen Situation Fakten
herbeiredet. Im Mai hatte er behauptet,
linke Demonstranten hätten „ein Kran-
kenhaus angegriffen“. Den Angriff hatte
es nie gegeben.
Ein Innenminister, der wiederholt un-
geprüfte Informationen verbreitet, ist ein
schlechter Innenminister. Beim Poker ge-
hört Bluffen zum Spiel. In der Politik müs-
sen andere Regeln gelten. Castaners Rück-
tritt, den die Opposition fordert, wäre für
Frankreich kein Verlust. nadia pantel

S


eit knapp zwei Wochen verhandeln
SPD, CDU und Grüne in Potsdam
über ein Bündnis. Es klang recht
großspurig, als Ministerpräsident Diet-
mar Woidke (SPD) schon zu Beginn vom
„Brandenburger Modell“ statt der „Kenia-
Koalition“ sprach. Vor allem, da die unter-
schiedlichen Partner eher gemeinsam
müssen, als dass sie wollen. Doch sollte
der konstruktive Geist, der derzeit bei den
Verhandlungen herrscht, auch später die
Zusammenarbeit bestimmen, dann kann
diese Koalition tatsächlich zum Modell
werden.
Denn die Zeit der Volksparteien scheint
vorerst vorbei, die vergangenen Landtags-
wahlen haben gezeigt, wie die Zerklüf-


tung der politischen Landschaft voran-
schreitet. Zum anderen müssen die an-
gestammten Parteien Bündnisse jenseits
der AfD schmieden. Das gilt insbesondere
für die neuen Bundesländer, wo viele der
rechten Funktionäre ganz offen mit Radi-
kalen sympathisieren.
Doch genau mit dieser Begründung
dürfen sich zukünftige Koalitionen nicht
begnügen. Ihnen muss das Kunststück
gelingen, ihrem Regieren einen eigenen
Sinn zu geben, trotz aller Unterschied-
lichkeit. Das verlangt Flexibilität, Kompro-
missbereitschaft und viel Sinn für das
Pragmatische. In Potsdam scheinen die
Verhandler auf einem guten Weg dahin zu
sein. jan heidtmann

Ö


sterreichs Sozialdemokraten plagt
der Katzenjammer. Die Konkur-
renz von der ÖVP hat bei der
jüngsten Wahl fast das ganze Land mit
Ausnahme winziger Flecken türkis ein-
gefärbt, und auch beim Blick über die
Grenzen, zum Beispiel zu den darbenden
deutschen Genossen, ist wenig Morgen-
röte in Sicht. In einer solchen Lage ist
vieles erlaubt und nur eines verboten: die
Selbstzerfleischung.
Letzteres gehört allerdings inzwischen
zu den Kernkompetenzen deutschsprachi-
ger Sozialdemokraten. Die SPÖ hat in nur
einem Jahrzehnt drei Kanzler und Partei-
chefs verschlissen, und als Reaktion aufs
Wahldebakel hat sie nun gerade den fünf-


ten Bundesgeschäftsführer seit 2015 in-
stalliert. Kontinuität gibt es hier allein im
Niedergang.
Das allein ist schon ein starkes Argu-
ment dafür, trotz des Wahldebakels mit
nur mehr 21,2 Prozent nun nicht gleich
wieder die erst vor zehn Monaten auf den
Schild gehobene Parteichefin Pamela Ren-
di-Wagner abzulösen. Wenn die SPÖ aus
ihrer eigenen Geschichte etwas lernen
will, sollte sie es einmal nicht mit einem
Personal-, sondern mit einem Stilwechsel
versuchen. Am dringendsten braucht die
Partei Geschlossenheit und kühle Köpfe,
die den nun propagierten Aufbruch zu
einer langfristig angelegten Erneuerung
machen. peter münch

D


ie jüngere deutsche Geschich-
te kennt schreckliche Tiefen,
umso unverständlicher ist es,
dass ihre erhabensten Mo-
mente so wenig Aufmerksam-
keit finden. Es sind die großen, die ent-
scheidenden Wegmarken einer deut-
schen Revolution, die sich vor nunmehr
30 Jahren ereignet hat.
Da wäre der 7. Oktober 1989, als im
sächsischen Plauen mindestens 15 000
Menschen auf die Straße gingen. Und da
ist vor allem Leipzig, wo es zwei Tage spä-
ter 70 000, vielleicht auch 100 000 Bürge-
rinnen und Bürger waren, die sich, Kerzen
in der Hand, zur Montagsdemo durch die
Innenstadt versammelten. Ob sie diesen
Abend überleben würden, wussten sie
nicht, bewaffnete Einheiten des DDR-Re-
gimes standen bereit. Für jedermann zu le-
sen hatte der Leiter einer Betriebskampf-
gruppe in derLeipziger Volkszeitungge-
droht, er werde „wenn es sein muss, mit
der Waffe in der Hand“, die „konterrevolu-
tionären Aktionen endgültig und wirk-
sam“ unterbinden. Die DDR-Führung hat-
te die chinesischen Genossen gerade erst
für das Massaker auf dem Platz des Himm-
lischen Friedens belobigt, wo die Partei-
spitze in Peking im Juni 1989 Tausende
Demonstranten hatte umbringen lassen.


Die Oktobertage 1989 waren entschei-
dend für den Sieg über ein 40 Jahre lang
bestehendes Unterdrückungssystem. Die
DDR-Führung gab keinen Feuerbefehl,
die Angst hatte von den Demonstranten
auf die Seite der Regierenden gewechselt.
Nur deshalb konnten die DDR-Bürger ei-
nen Monat später die Mauer stürmen und
auf ihr tanzen. Vor der Einheit kam die
Freiheit. Sie war der Sieg eines ganzen, da-
mals noch halbierten Landes. Die Berliner
Mauer fiel am 9. November. Aber die Revo-
lution war im Oktober.
Gefeiert wird dies in Deutschland
nicht. Man betrachtet lieber das Finale.
30 Jahre Mauersturm werden in wenigen
Wochen vor dem Brandenburger Tor mit
Prominenz begangen. So war es auch gera-
de am Tag der Deutschen Einheit in Kiel.
Was aber damals in Plauen geschah, weiß
kaum jemand. Leipzig bekommt biswei-
len ein wenig mehr Aufmerksamkeit – et-
wa, als der damalige Bundespräsident Joa-
chim Gauck es für wichtiger hielt, zum



  1. Jahrestag dort als in Berlin zu reden.
    Gauck kennt die Geschichte. Schließ-
    lich war er einer der Revolutionäre. Bis
    heute werden die grundstürzenden Ereig-
    nisse oft als „Wende“ bezeichnet. Dabei


stammt die Formulierung vom damaligen
Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz, der
damit meinte, man werde jetzt ein paar Re-
formen einleiten – aber eigentlich weiter-
machen wie bisher.
Wer sich für die Geschichte des Umstur-
zes interessiert, dem fällt auf, dass das
heute viel geschmähte Sachsen eine be-
sondere Rolle spielte. Hier war der Wider-
stand am größten. „Den Osten“ gab es da-
mals schon so wenig, wie es ihn jetzt gibt.
Viele in der alten Bundesrepublik betrach-
teten die Ereignisse nicht nur aus der, son-
dern mit Distanz – und tun dies bis heute.
Dass vermutlich mehr von ihnen etwas
mit dem 17. Juni 1953 anfangen können –
dem gewaltsam niedergeschlagenen Wi-
derstand gegen das DDR-Regime – als mit
dem 7. oder 9. Oktober, ist traurig.
Diese Tage und auch all die anderen Mo-
mente des Widerstands gehören auf jeden
Lehrplan. Sie gehören gelehrt, geachtet
und gefeiert. Auch weil die Botschaft, für
Deutschland und darüber hinaus, eine so
aktuelle und wertvolle ist: Immer ent-
scheidet der Mut der Menschen. Sei es,
wenn es darum geht, eine Diktatur fried-
lich zu besiegen, oder – auch daran muss
man in diesen Tagen leider erinnern –,
um eine Demokratie vor ihren Feinden zu
schützen. Oft sind es zu Beginn wenige,
die viel wagen. Und denen man dann so un-
endlich viel zu verdanken hat.
In diesen Tagen ist überall davon die Re-
de, dass die deutsche Einheit so gut dann
doch noch nicht gelungen sei, materiell
und mental. Bei dem zweiten und wichti-
geren Punkt geht es um die Anerkennung
von Lebensleistungen. Anerkennung tut
gut, und sie tut not. Dies wäre eine schöne
Aufgabe für diejenigen, die im Westen le-
ben. Die Menschen in Plauen oder Leipzig
haben Anerkennung verdient – und inzwi-
schen auch lange genug darauf warten
müssen. Respekt ist eine großartige Wäh-
rung. Aber wo bleibt ein Ort, eine zentrale,
symbolhafte Stätte, an der die Geschichte
des Widerstands gegen die ostdeutsche
Diktatur erzählt wird?
Im Osten gäbe es auch eine Aufgabe, sie
wäre zudem ein Akt eines heute notwendi-
gen Widerstands. Denn ausgerechnet die
AfD hat sich inzwischen so ziemlich jeder
Losung des Revolutionsherbstes bemäch-
tigt. „Werde Bürgerrechtler,“ wirbt sie. Es
wiederholen sich die dunklen Zeiten der
Diktatur, es schreien am lautesten aus
dem Westen gefahrlos zugewanderte
Rechtsradikale. Deshalb muss man heute
wieder für Demokratie und Meinungsfrei-
heit streiten, am besten mit der AfD.
Aber diesen großartigen Teil ihrer Ge-
schichte sollten die Menschen in den heu-
te nicht mehr so neuen Ländern keines-
falls der AfD überlassen. Nicht einmal je-
ne, die sie – warum auch immer – wählen.

Synoden, wie es sie in der
katholischen Kirche seit
1965 regelmäßig gibt, sind
keine Parlamentsversamm-
lungen, höchstens Debattier-
foren. Der Vatikan ist ja auch keine Demo-
kratie, sondern eine Monarchie. Und
selbst unter den Teilnehmern der Ta-
gung gibt es Klassenunterschiede, wie
man das nun auch wieder bei der Sonder-
synode zu Amazonien sieht, die bis 27. Ok-
tober ökologische und seelsorgerische
Probleme im weiten südamerikanischen
Regenwald behandeln soll. Stimmberech-
tigt sind nur die Synodenväter, in diesem
Fall 185. Sie stammen vor allem aus den
neun Ländern des Amazonasgebiets. Die
meisten sind Bischöfe und Kardinäle. 13
gehören der römischen Kurie an. Bespro-
chen werden Themen, die voraus in ei-
nem Arbeitspapier aufgelistet wurden,
dem „Instrumentum laboris“. Die Syn-
odenväter sollen frei reden und neue
Ideen aufbringen. Papst Franziskus wird
den Diskussionen folgen, meist schwei-
gend. Mitreden oder zumindest zuhören
dürfen auch einige Dutzend Wissen-
schaftler, Ordensleute und Vertreter indi-
gener Völker. 35 Gäste sind Frauen, doch
sie dürfen grundsätzlich nicht abstim-
men. Bindend ist das Schlussdokument
nicht. Es soll dem Papst nur helfen, einen
Brief zu formulieren, in dem er seine Fol-
gerungen bündelt. So er denn will, er ist
ja Alleinherrscher. om

4 HF2 (^) MEINUNG Montag,7. Oktober 2019, Nr. 231 DEFGH
HONGKONG
Berlin macht es sich leicht
FOTO: JACK GUEZ/AFP
Die Demonstranten sollen
auf Freiheit verzichten, weil es
ihnen wirtschaftlich ja gut geht
SEEHOFER
Hauptsache, recht behalten
FRANKREICH
Schwacher Kumpel
BRANDENBURG
Viel Sinn für Pragmatik
ÖSTERREICH
Im Niedergang
Amtserhebungsverfahren sz-zeichnung: oliver schopf
DEUTSCHE EINHEIT
Nur Mut
von georg mascolo
AKTUELLES LEXIKON
Synodenväter
PROFIL
Gideon
Saar
Rivalevon Israels
Premier
Netanjahu
Nun, da die Zahl der Flüchtlinge
niedriger liegt, kann
er demonstrativ flexibel sein
Viele Westdeutsche betrachten
die Revolution des Oktober 1989
bis heute mit Distanz

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