Focus - 28.09.2019

(Jacob Rumans) #1
KULTUR

100 FOCUS 40/2019

S


eine Gestik ist dezent.
Seine Worte wählt er
mit Bedacht. Manchmal
überlegt Ulrich Noethen
lange, bevor er sagt,
was er über so manches
denkt. Wie zum Bei-
spiel über die Pflicht,
die Ungeduld oder den
Mut. Am 3. Oktober ist der Charakter-
schauspieler in „Deutschstunde“ – nach
dem gleichnamigen Roman von Siegfried
Lenz – zu sehen. Noethen spielt in dem
Kinofilm den Polizisten Jens Ole Jepsen,
der im Zweiten Weltkrieg seinen Pflichten
rückhaltlos ergeben ist und dafür sogar
seine Jugendfreundschaft zu
dem expressionistischen Maler
Max Ludwig Nansen (Tobias
Moretti) verrät: Er überbringt
ihm ein Malverbot der Nazis.

Herr Noethen, was verstehen
Sie unter Pflicht?
Den Begriff sehe ich erst mal
nicht negativ. Als eine Auf-
gabe, der ich mich nicht entzie-
hen kann, die an mich heran-
getragen wird. Aus prinzipiel-
len oder aus sozialen Gründen.
Oder weil es die Situation ver-
langt. Oder weil ich es selbst
von mir verlange. Oft lästig,
kann aber auch Spaß machen.
„Die Freuden der Pflicht“, der
Untertitel von Lenz’ „Deutsch-
stunde“, ist aber sarkastisch ge-
meint.
Weil in „Deutschstunde“ die
Grenzen der Pflicht überschritten
werden?
Ja. Eine Übererfüllung einer
in sich schon pervertierten Aufgabe, der
Durchsetzung eines Malverbots. Die
gedankenlose Hingabe an eine Autori-
tät, die die Unmenschlichkeit zum Prin-
zip erhoben hat, unter der Vorgabe, im
Namen des Volkes Gutes für das Volk
zu tun. Das führt am Ende nicht nur zur
Zerrüttung der Freundschaft der beiden
Männer, es führt auch zur Zerrüttung
innerhalb der Familie des Polizisten.
Sind Sie ein pflichtbewusster Mensch?
Kommt darauf an. In vielem bin ich
nachlässig. Aber wenn ich mich bei-
spielsweise auf eine Hörbuchaufnahme
vorbereite, fühle ich mich verpflichtet,
das gründlich zu tun, weil andernfalls
der Regisseur, der Tonmeister und am
Ende das Ergebnis darunter leiden wür-
den. Und ich selbst hätte auch einen
unerquicklichen Tag. Aus dieser Ein-

sicht wird eine Pflicht dann gern getan.
Viele Pflichten sind halt auch lästig.
Dann schreit es innerlich nach Freiheit,
und ich wäre am liebsten aller Pflich-
ten ledig.
Passiert das oft?
Ich denk immer wieder: „Protect me
from what I want.“ Ich glaube, ganz gut
unterscheiden zu können, ob eine Ver-
pflichtung zu einem guten Ende führen
kann oder ob sie Quark ist.
Es gibt Menschen, die brechen
aus ihren Verpflichtungen aus, weil
sie sich eingeengt fühlen.

Das kann ich nachvollziehen. Ist ja
auch gut so, dass nicht jede Verpflichtung
gleich selbstverständlich hingenommen
wird. Wir brauchen nun mal gewisse Ver-
pflichtungen, Commitments oder Regeln,
die unser Miteinander so zu gestalten
helfen, dass wir gut miteinander auskom-
men. Das ist eine Binse. Aber Grund und
Ziel der Regeln und Pflichten gehören
immer wieder auf den Prüfstand. Der
gute alte Satz: Wo Recht zu Unrecht wird,
wird Widerstand zur Pflicht.
Gibt es ein Rezept, lästige Pflich-
ten als sinnvoll zu betrachten?
Innere Einsicht. Ein einfaches Bei-
spiel: Wer bringt den Müll zur Tonne?
Muss ja getan werden. Und
wem es partout nicht möglich
ist, die Sinnhaftigkeit die-
ser Verrichtung zu erkennen,
dem wird es vermutlich auch
schwerfallen, sich mit seinen
Mitbewohnern zu arrangie-
ren und anstelle der Müllent-
sorgung andere Aufgaben zu
übernehmen. Ist auch eine Fra-
ge der Reife.
Bringen Sie den Müll runter?
Wir haben ein flexibles Auf-
gabenmanagement, basierend
auf Miteinander und Gegen-
seitigkeit.
Pflichterfüllung wird in
erster Linie immer noch
der Frau zugeordnet.
Tatsächlich scheinen in
vielen Familien den Frauen
immer noch die meisten häus-
lichen Pflichten zu obliegen.
Die Männer sind diejenigen,
die gern darüber sprechen.
Kennen Sie den Grund?
Vielleicht weil der Mann gern mehr
generalistisch unterwegs ist, es vor-
zieht, das große Ganze im Blick zu
haben, anstatt sich im Klein-Klein zu
verlieren. Die Frau dagegen hat begrif-
fen: Wenn ich mich dieser Sisyphus-
arbeit nicht widme, bleibt sie liegen,
und es wird unerfreulich. Diese Pflicht-
verteilung entstammt einem jahrtausen-
dealten Rollenverständnis, das sich im
Moment langsam zu ändern scheint;
es wird noch lange dauern, bis es eine
Pari-Situation gibt.
Sprechen Sie mit Ihren fünf Kindern
über Pflicht und Pflichtbewusstsein?
Manche Kinder muss man zum Jagen
tragen, muss ihnen klarmachen, wa-
rum diese Verpflichtung da ist und dass
nicht dauernd jemand da sein wird, der
ihnen die Sachen hinterherträgt. Dass

Zwischen den Fronten
Der Junge Siggi Jepsen (Tom Gronau)
liebt seinen Vater, den Polizisten, genauso
wie den Maler. Als die Männerfreundschaft
zerbricht, zerbricht auch sein Leben.
Später schreibt er seine Erinnerungen auf

»


Kindern muss


man klarmachen,
dass die Kräfte

der Eltern


endlich sind


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