Focus - 05.10.2019

(Ron) #1

AGENDA


Fotos: dpa, foodwatch

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iOS-Smartphones kostenlos zugänglich
und einsetzbar. Unter nutricard.baggid.
com lädt man die App herunter, öffnet
sie und hält das Scan-Fenster über den
Barcode eines Produkts. Augenblicklich
erscheinen dessen Brennwert und die
Eiweiß-, Kohlenhydrat-, Zucker-, Fett-,
Salz- und Ballaststoffgehalte auf dem
Display. Weil das alles für den eiligen
Käufer zu unübersichtlich wäre, gibt die
App außerdem den zusammenfassen-
den Nutri-Score an. Die Skala reicht von
einem dunkelgrünen A über ein hellgrü-
nes B, ein gelbes C, ein oranges D bis
zu einem dunkelroten E. Grün entspricht
einer Empfehlung, Rot einer
Warnung. Das funktioniert
bei den meisten Produkten,
die Lebensmittelläden anbie-
ten. Android-Nutzer müssen
noch ein wenig auf einen ent-
sprechenden Service warten.
Alternativ können sie eine
ähnliche App via de.openfood-
facts.org nutzen, die allerdings
nicht eigens auf den deutschen
Markt ausgerichtet ist.
Hält Julia Klöckner Wort,
könnte der Nutri-Score vom
kommenden Jahr an dann
auch analog funktionieren:
ins Supermarktregal grei-
fen, Farbskala suchen, able-
sen. Der Algorithmus, der
das Ergebnis erstellt, wertet
den Gehalt an Nahrungs-
energie, Zucker, gesättigten
Fettsäuren und Salz je 100
Gramm oder 100 Milliliter
aus. Außerdem berücksichtigt
das Modell günstige Faktoren wie Pro-
teine und Ballaststoffe sowie den Anteil
an Gemüse, Obst und Nüssen. Die bis-
herigen, meist sehr klein gedruckten
Angaben zu Brennwert und Zusatzstof-
fen sollen bleiben. Auf diese Weise wird
der Konsument noch besser darüber auf-
geklärt, was er zu sich nimmt.
Anders als zu erwarten, begrüßen auch
große Teile der Lebensmittelindustrie das
neue System. Der französische Milch-


produktehersteller Danone verwendet es
bereits, zumal es in seinem Heimmarkt
schon länger gestattet ist, das Signet zu
nutzen. Die Tiefkühlmarke Iglo wollte
bereits im Frühjahr den Nutri-Score ein-
führen. Eine einstweilige Verfügung,
angestrengt von einem Wirtschaftsver-
band, verhinderte das. Das Gericht sah
die Skala als europarechtswidrig an. Doch
auch Konkurrent Bofrost will seine Pro-
dukte mit der Ampel versehen.

Marktführer Nestlé macht mit
Den erstaunlichsten Schwenk vollzog
Nestlé, der weltgrößte Nahrungsmittel-

Allerdings wird Nestlé einen Preis zah-
len und sein eigenes Angebot durchfors-
ten müssen. Seit Jahren verspricht der
Konzern, den Zuckergehalt in seinen
Produkten um zehn Prozent zu reduzie-
ren – zuletzt auch in einem Video, das
Boersch gemeinsam mit Klöckner zeig-
te. Dass noch ein weiter Weg vor dem
Manager liegt, lässt ein Griff zum erstbes-
ten Nestlé-Produkt in der „Snack-Box“
der Redaktion erahnen. Nach dem Bar-
code-Scan einer Packung KitKat mittels
der erwähnten App erscheinen ein E, die
schlechtestmögliche Bewertung, und eine
ausdrückliche Warnung vor zwei Zutaten,
vor Palmöl und vor Zucker.
Der süße Stoff ist Streit-
objekt Nummer eins in den
bisherigen und wohl auch in
den kommenden Auseinan-
dersetzungen um die neue
Nutri-Score-Kennzeichnung.
Das liegt an seiner Omniprä-
senz. Während zum Beispiel
Grenzwerte und auch freiwil-
lige Rezepturänderungen die
ungesündesten Fettsäuren in
den vergangenen Jahren ein
wenig zurückdrängten, ließen
Teile der Industrie die Kon-
sumenten in eine Zuckerfalle
nach der anderen tappen. So
enthielt eine 0,75-Liter-Fla-
sche aromatisierten Wassers
zeitweise 30 Gramm Zucker.
Ein anderes Mal entdeck-
ten Verbraucherschützer
in Tiefkühlpizzen deutlich
mehr Zucker als auf der Ver-
packung angegeben. Und
schließlich ergab im Juli eine Marktstu-
die der Berliner Verbraucherorganisa-
tion Foodwatch mit 110 Produkten, dass
fast alle speziell für Kinder hergestellten
Joghurts und Frühstücksflocken mehr
Zucker enthalten, als die Weltgesund-
heitsorganisation (WHO) für solche
Lebensmittel empfiehlt.
Wohl weil sie besonders viel zu ver-
lieren hat, kritisiert die Lobbyorgani-
sation „Wirtschaftliche Vereinigung
Zucker“ den Nutri-Score am deutlichs-
ten. Geschäftsführer Günter Tissen hält
die Skala mit den fünf farbig unterleg-
ten Buchstaben für „problematisch“. Sie
führe die Konsumenten in die Irre. „Wer
mehr isst, als er verbraucht, nimmt zu“,
sagt Tissen und fordert deshalb, es solle
besser die Kalorienzahl auf der Verpa-
ckung hervorgehoben werden.

konzern. „Wir werden mit der Umset-
zung des Nutri-Score-Systems so schnell
wie möglich beginnen, um auch Ver-
braucher in Deutschland bestmöglich
bei einer bewussten Produktauswahl zu
unterstützen“, sagte Deutschland-Chef
Marc-Aurel Boersch nach Klöckners Ent-
scheidung am vorigen Montag. Weitere
Stellungnahmen verdeutlichen, dass dem
Unternehmen die europaweit einheitliche
Kennzeichnung zusagt.

„Wir werden mit der Umsetzung des Nutri-Score-


Systems so schnell wie möglich beginnen“
Marc-Aurel Boersch, Vorstandsvorsitzender Nestlé Deutschland


Neue Generation? Auch an der Wall Street wird der vegetarische
Beyond Burger gefeiert. Seine Öko-Bilanz ist noch nicht bekannt

FOCUS 41/2019
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