Focus - 05.10.2019

(Ron) #1
GESUNDHEIT

FOCUS 41/2019 29


Nun enthalten aber zahlreiche Lebens-
mittel wie Fruchtjoghurts und Limona-
den wenige Kalorien und gleichzeitig viel
Zucker. Satt machen sie nicht. Und indi-
rekt, etwa über die Verdrängung wich-
tiger Nährstoffe und durch Stoffwech-
selvorgänge, kann hoher Zuckerkonsum
sehr wohl dick und krank machen. Meh-
rere wissenschaftliche Fachgesellschaf-
ten und die WHO empfehlen daher, die
Zufuhr freien, zugesetzten Zuckers auf
zehn Prozent der Gesamtenergiemenge
zu begrenzen. Der tatsächliche Wert
liegt schon bei Kindern und
Jugendlichen zwischen 15
und 18 Prozent.


Der Score verändert
das Einkaufs-
verhalten


Glaubt man ersten
Untersuchungen,
kann das Nutri-Score-
System die Essge-
wohnheiten entschei-
dend verändern. So
rechneten französische
Ernährungswissenschaftler
die Ergebnisse aus Labor-
tests hoch, in denen sie den
Umgang einiger Versuchs-
personen mit gesundheitsrelevanten
Lebensmittelkennzeichnungen getestet
hatten. Bezogen auf Frankreichs Gesamt-
bevölkerung, kamen sie zu dem Schluss,
dass der Nutri-Score die Kalorienauf-
nahme um neun Prozent senkt und dazu
führt, dass mehr Obst, Gemüse und Bal-
laststoffe auf den Tisch kommen. So kann
das Leben von nahezu 8000 Menschen
pro Jahr gerettet werden.
Die Cochrane-Vereinigung analysierte
58 Studien zu verschiedenen Maßnah-
men gegen den Konsum zuckerhalti-
ger Getränke. Der Nutri-Score sei eine
der effektivsten, lautete ihr Resultat. In
einer der Untersuchungen ging der Kon-
sum von Softdrinks, die mit Rot markiert
waren, um bis zu 56 Prozent zurück.
Und schließlich ist das System einfach
und leicht verständlich, wie die in Klöck-
ners Auftrag durchgeführte Umfrage
mit 1600 Teilnehmern ergab. 57 Prozent
bezeichneten Nutri-Score unter vier zur
Auswahl stehenden Etiketten als das bes-
te. Auch Menschen mit geringer Bildung
verstehen demnach die Farbskala.
Grundsätzliche Bedenken, der Bürger
werde durch die Aufdrucke gegängelt
und bevormundet, wurden bisher kaum


stehen. Schon beim alltäglichen Einkauf
fühlt sich der gesundheitsbewusste Käu-
fer oft ausgetrickst. Da verstecken sich
teilweise höchst fragwürdige Zusatzstof-
fe hinter schwer verständlichen E-Num-
mern, da enthalten manche Produkte
die großspurig deklarierten natürlichen
Früchte nur in mikroskopischen Spuren.
Dass Mogelpackungen zu Fehlkäufen
verführen, ist man hierzulande beinahe
gewohnt.
Der Nutri-Score verhilft dem Verbrau-
cher zu mehr „Souveränität beim Lebens-
mitteleinkauf“, findet das dem Bundes-
ernährungsministerium nachgeordnete
Max Rubner-Institut. Und die „Frank-
furter Allgemeine Zeitung“ hofft, dass
der Nutri-Score die Hersteller ermuntert,
„Rezepturen zu entwickeln, die auch mit
weniger Zucker oder Salz noch schme-
cken“.
In Großbritannien, wo das Bewer-
tungssystem ursprünglich mitentwickelt
wurde, verloren Politiker schon früh die
Geduld. Seit April 2018 erhebt London
eine Zuckersteuer auf Limonaden. Ihre
Höhe lässt sich nicht vernachlässigen.
Für Getränke mit fünf bis acht
Gramm zugesetztem Zucker
beträgt sie umgerechnet
21 Cent pro Liter, bei
höherem Zuckergehalt
28 Cent. Möglicher-
weise trägt sie dazu
bei, dass zum Beispiel
eine Flasche Fanta
laut Stiftung Waren-
test in Großbritannien
halb so viel Zucker ent-
hält wie in Deutschland.
Der konsequenteste Kämp-
fer für die Einführung der
Zuckersteuer in seinem Land
war Star-Koch Jamie Oliver.
Erst kürzlich (FOCUS 34/19)
bezeichnete er „Zuckerbrause“ als „Gift
in Flaschen“ für Kinder und Jugend-
liche. Ein Mann sieht Rot. Kommt der
Nutri-Score, werden das auch viele Kon-
sumenten tun – und entsprechende Pro-
dukte, so die Hoffnung, gelassen zurück
ins Regal stellen. n

„Wer mehr isst, als er verbraucht, nimmt zu“
Günter Tissen, Wirtschaftliche Vereinigung Zucker

laut. Im Gegensatz zu Ideen wie jener,
einen vegetarischen Tag in den Kantinen
einzuführen, lässt sich der Nutri-Score nur
schwer als Verbot denunzieren. Ledig-
lich der FDP-Politiker Gero Hocker
sprach von einer „staatlichen
Einheitslösung“ und forder-
te, stattdessen in eine bes-
sere Ernährungsbildung
zu investieren. Doch
das Bewusstsein, dass
der sprichwörtliche
Selbstmord mit Mes-
ser und Gabel nicht
nur möglich, sondern
auch verbreitet ist, sitzt
tief. 47 Prozent der Frau-
en, 62 Prozent der Männer
und fast jedes siebte Kind
sind laut Bundesministerium
übergewichtig.

Souverän einkaufen
Die Kennzeichnung ihrer Produkte nach
dem Nutri-Score, die offiziell – nach dem
Erlass eines nationalen Regelwerks und
der Zustimmung aus Brüssel – wohl
erst im nächsten Jahr möglich
sein wird, ist für die Her-
steller in Deutschland
eine Bewährungsprobe.
Denn in einer europa-
weiten Umfrage, die
die EU-Behörde für
Lebensmittelsicher-
heit in Parma im Juni
veröffentlichte, zeig-
ten sich die Deutschen
zwar recht zufrieden mit
der angebotenen Ware.
Danach gefragt, ob sie den
Informationen der Lebensmit-
telindustrie vertrauten, äußer-
ten sich die Befragten mit Aus-
nahme Frankreichs in keinem
der EU-Länder so negativ wie in Deutsch-
land. Nur 19 Prozent bejahten die Frage,
im EU-Durchschnitt waren es 36 Prozent.
Man muss gar nicht an einzelne Skan-
dale erinnern (von EHEC-Bakterien
über Gammelfleisch bis zu Insektengift
in Eiern), um die Ressentiments zu ver-

Flinker Vergleich Spinat-
pizzen im Nutri-Score

Satte Differenz Fett
und Zucker „punkten“
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