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as Atlantische Bünd-
nis hat viel zu lange
ignoriert, dass Chi-
nas Aufstieg auch
auf die Sicherheits-
lage in Europa dramatische
Auswirkungen haben wird.
Zwar stellt ein aggressives
Russland nach wie vor eine
Bedrohung dar, gegen die
sich die NATO wappnen
muss. Aber die Spannungen
im asiatisch-pazifischen Raum
erfordern ein wesentlich grö-
ßeres Engagement der NATO
in Asien. Vier Entwicklungen
sind dabei von Bedeutung:
Erstens schlägt sich Chi-
nas rasanter wirtschaftlicher
Aufstieg in ebenso deutlich
wachsender militärischer
Stärke nieder. Ein solcher
Machtzuwachs kollidiert
früher oder später mit den
Interessen anderer Staaten –
auch ohne dass man Chi-
na Aggressivität unterstellt.
Würde etwa die Straße von
Malakka, die jährlich 80 000
Handelsschiffe durchfahren,
wegen eines Konflikts in der
Region gesperrt, hätte das
dramatische Folgen. Industrie
und Handel in Europa und
den USA wären von einer
Schlagader der globalen Wirt-
schaft abgeschnitten, was
wiederum das Überleben der
westlichen Wirtschaft insge-
samt bedrohen würde.
Zweitens: Es gibt sechs
Atommächte, darunter fünf in
Asien. Neben den USA sind
das China, Indien, Pakistan,
Russland und Nordkorea.
Jedes dieser Länder ist min-
destens einem der anderen
in herzlicher Abneigung ver-
bunden. Eine schwere Nuk-
learkrise ist daher nicht aus-
zuschließen.
Drittens – und das ist selbst
manchem NATO-Vertreter
nicht geläufig – ist auch ein
Artikel-5-Fall in der Pazifikre-
gion denkbar. Würde Nordko-
rea eine konventionelle Rake-
te auf Alaska feuern, würde
das den Bündnisfall auslösen.
Zumindest vertraglich gese-
hen, wären die europäischen
NATO-Staaten gehalten,
amerikanische Sicherheit in
Alaska zu verteidigen.
Viertens unterschätzen vie-
le Europäer immer noch die
Ernsthaftigkeit, mit der sich
die USA den Entwicklungen
in Asien zuwenden. China
fordert nach Meinung der
Amerikaner langfristig die
von ihnen dominierte Welt-
ordnung heraus. Folgerichtig
erwarten die USA von den
Europäern, Washington von
den Ordnungsaufgaben in
und um Europa zu entlasten
und an ihrer Seite zu stehen,
sollte es zu einem Konflikt
mit China kommen.
Dass Donald Trump der-
zeit genau die Verbündeten
verprellt, deren Unterstüt-
zung er erwartet, gehört zu
den vielen Merkwürdigkei-
ten dieses in jeder Hinsicht
ungewöhnlichen Präsidenten.
Es ändert aber nichts an dem
Umstand, dass sich ein künf-
tiger „Transatlantic Bargain“,
also die Grundlage europä-
isch-amerikanischer Sicher-
heitsbeziehungen, um China
herum entwickeln wird. Die
Frage ist berechtigt, wie eine
Institution, die im Ost-West-
Kontext gegründet wurde
und sich primär auf die
Abwehr militärischer Bedro-
hungen in und um Europa
konzentriert, auf einmal in
Asien aktiv werden soll.
Das könnte stufenweise
passieren. Im ersten Schritt
müsste die NATO die Ent-
wicklungen im asiatisch-
pazifischen Raum überhaupt
stärker zur Kenntnis neh-
men. Einige Staaten haben
das immer wieder angeregt,
konnten sich aber nicht
durchsetzen. Nun werden in
Brüssel zumindest erste Stel-
len für China-Experten aus-
geschrieben. Des Weiteren
könnte das Bündnis Verbin-
dungsbüros – Liaison Offices
- in Japan, Australien oder
Südkorea einrichten. Bisher
gibt es sie in der Ukraine, in
Russland und Georgien, nicht
aber in Asien.
Außerdem ist eine deutlich
größere Bereitschaft Europas
zur militärischen Lasten-
teilung erforderlich. Wenn
derzeit nur die USA über
Fähigkeiten zur globalen
Machtprojektion verfügen,
dann müssen sich die Euro-
päer eben militärisch stär-
ker in den Nachbarregionen
engagieren – etwa im Nahen
Osten oder im Indischen
Ozean. Eine solche Forde-
rung der USA wird immer
lauter werden.
Langfristig werden die gro-
ßen europäischen Staaten
aber nicht darum herumkom-
men, selber Fähigkeiten zu
weitreichender, vor allem ma-
ritimer Machtprojektion auf-
zubauen – wenn sie dem
eigenen Anspruch, ein Global
Player zu sein, gerecht werden
wollen. Angesichts solcher
Herausforderungen erscheint
die deutsche Debatte um die
„zwei Prozent“ als sehr klein-
teilig. In den Neunzigern
hätten sich die Europäer nie
vorstellen können, Sicher-
heitsinteressen im 5500 Kilo-
meter entfernten Afghanistan
zu verteidigen. Chinas Auf-
stieg bedeutet eine mindes-
tens ebenso deutliche Verän-
derung der Sicherheitslage. n
Von Karl-Heinz Kamp
MEINUNG
Aufgerüstet
Bei der Militärpa-
rade zum 70. Jah-
restag rollen
Hightech-Rake-
ten wie die DF-41
über den Tianan-
men-Platz. Sie
fliegt 15 000 Kilo-
meter weit
China ist militärisch enorm gewachsen. Daher muss sich das Bündnis viel mehr in Asien
engagieren. Ein Weckruf anlässlich des 70. Jahrestags der Volksrepublik
Die chinesische Herausforderung der NATO
Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) in Berlin bis Ende September 2019
NATO-Stratege
Kamp, 62, war vier
Jahre lang BAKS-
Chef. Nun wechselt
er ins Verteidigungs-
ministerium
FOCUS 41/2019