Focus - 05.10.2019

(Ron) #1
FOCUS 41/2019 51

MEINUNG

Die Legende vom überlegenen „Staatskapitalismus“


Anlässlich des 70. Jahrestags der Volksrepublik sei daran erinnert, dass China


seine wirtschaftliche Stärke weniger dem Staat als vielmehr dem Kapitalismus verdankt


Von Rainer Zitelmann
Historiker und Soziologe

Z


um 70. Jahrestag
der Volksrepublik
China macht das
„Handelsblatt“ mit
der Überschrift „Vor-
teil Staatskapitalismus?“
auf: „Erfolgreiche Armutsbe-
kämpfung, vorbildliche In fra -
struktur – in China gelingt
seit Jahrzehnten das Wirt-
schaftswunder per Staats-
dekret.“ Wirklich? In einem
aktuellen Arbeitspapier des
World Economic Forum heißt
es, dass Chinas privater Sek-
tor 60 Prozent zum chinesi-
schen Bruttoinlandsprodukt
beiträgt, 70 Prozent zu den
Innovationen, 80 Prozent zur
Beschäftigung in den Städ-
ten und zu 90 Prozent für
neue Jobs in China verant-
wortlich ist.

Staatskapitalismus?
Diese Zahlen sollten jedem
zu denken geben, der Chi-
nas Wirtschaftswunder als
Beleg für die Überlegen-
heit des Staatskapitalis-
mus anführt. „Staatskapi-
talismus“ ist ohnehin ein
widersinniger Begriff: Kapi-
talismus beruht auf einer
Marktordnung und Unter-
nehmen, die privaten
Eigentümern gehören. Kapi-
talismus ist unvereinbar
mit einer Staatswirtschaft,
in der die Unternehmen in
staatlicher Hand sind und
Planbehörden festlegen,
was produziert wird. Des-
halb kann es so etwas wie
Staatskapitalismus nicht
geben. In Wahrheit ist
China ein Mischsystem

von Kapitalismus und Sozia-
lismus – so wie alle Staaten
auf der Welt. Auch in den
USA und in Europa gibt
es – in unterschiedlichen
Mischungsverhältnissen


  • kapitalistische und sozia-
    listische Elemente im Wirt-
    schaftssystem.
    Entscheidend für die
    Erklärung der wirtschaft-
    lichen Entwicklung ist nicht
    das Mischungsverhältnis
    zwischen Staat und Markt,
    sondern die Frage, wie es
    sich im historischen Verlauf
    ändert. Dass der Staat in
    China heute noch so stark
    ist, legt nicht die Grundlage
    für das Wirtschaftswunder,
    sondern hängt einfach damit
    zusammen, dass China noch
    vor vier Jahrzehnten eine
    reine Staatswirtschaft war.


Der chinesische Ökonom
Zhang Weiying betonte bei
einem Gespräch, das ich mit
ihm in Peking führte, immer
wieder, dass das Wirtschafts-
wunder „nicht wegen, son-
dern trotz des Staates“ zu-
stande gekommen sei.

Warum die „China Model
School“ irrt
Seit Beginn der ökonomi-
schen Reformen in China
unter Deng Xiaoping gab
es dort stets das, was Mao
Tse-tung als „Kampf zweier
Linien“ bezeichnet hat. Mao
meinte damit den Kampf
zwischen der sozialistischen
und der kapitalistischen
Linie. In den vergangenen
Jahrzehnten dominierten in
manchen Phasen die Anhän-
ger und in manchen Phasen

die Gegner kapitalistischer
Reformen. Diese Fronten
gibt es auch an den Univer-
sitäten. Im vergangenen Jahr
erklärte Zhou Xincheng, ein
Professor für Marxismus an
der Renmin University of
China in Peking, das Privat-
eigentum solle ganz abge-
schafft werden. Solche radi-
kalen Forderungen haben
zum Glück keine Erfolgs-
aussichten. Aber in den ver-
gangenen Jahren gewann
in China, auch in der politi-
schen Führung, zunehmend
eine gefährliche Interpreta-
tion an Zuspruch, die Zhang
Weiying als „China Model
School“ bezeichnet. Danach
ist Chinas Erfolg das Ergeb-
nis eines besonderen, chi-
nesischen Weges zwischen
Kapitalismus und Kommu-
nismus. Diese Deutung
sei jedoch falsch, so Zhang
Weiying. Der Grund für
Chinas ökonomischen Erfolg
ist nicht, dass es in China
eine Planwirtschaft gibt, son-
dern ganz im Gegenteil: Zu
Maos Zeiten, als es in China
kaum private Unternehmen
gab und die staatliche Plan-
wirtschaft herrschte, lebten
88 Prozent der Chinesen in
extremer Armut. Dass diese
Zahl bis heute unter ein
Prozent gesunken ist, liegt
nicht an einem speziellen
„dritten Weg“ zwischen Ka-
pitalismus und Kommunis-
mus, sondern daran, dass das
Privateigentum eingeführt
und die einst allmächtige
Rolle des Staates sukzessive
zurückgedrängt wurde. n

Rainer Zitelmann (l.) im Gespräch mit dem chinesischen Ökonomen
Zhang Weiying in Peking. Zu Zitelmanns Werken gehört auch das Buch
Foto: privat „Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“

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