Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.10.2019

(lily) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft FREITAG, 4. OKTOBER 2019·NR. 230·SEITE 19


ami.BERLIN, 3.Oktober. Mit grundsätz-
licher Zustimmung, aber auch Kritik im
Detail haben die gesetzlichen Kranken-
kassen auf den neuen Entwurf des „Faire-
Kassenwettbewerb-Gesetzes“ von Bun-
desgesundheitsminister Jens Spahn
(CDU) reagiert. Vor allem die Allgemei-
nen Ortskrankenkassen (AOK) zeigten
sich zufrieden, dass Spahn darauf verzich-
tet, die landesbezogenen Krankenkassen
für den bundesweiten Wettbewerb zu öff-
nen. Das lehnen auch die Länder und die
SPD ab. Spahn legt, wie die F.A.Z. vorab
berichtet hatte, seinen Schwerpunkt nun
auf eine striktere Aufsicht, die Reform
des Finanzausgleichs und eine Neuord-
nung des Insolvenzrechtes.


Der stellvertretende Vorsitzende des
AOK-Bundesverbandes, Jens Martin Hoy-
er, lobte Spahn dafür, dass er die Zwangs-
öffnung der AOK gestrichen hat. Mit einer
Zwangsöffnung wäre „ein einseitiger Preis-
wettbewerb zu Lasten von regionalen Ver-
sorgungsinteressen losgetreten worden,
gegen den Widerstand der Bundesländer
und ganz sicher nicht zum Nutzen der Ver-
sicherten“, sagte Hoyer. Sinnvoll sei der
Ansatz, „ein einheitliches Aufsichtshan-
deln nicht durch Zentralisierung von Al-
leinzuständigkeiten des Bundesversiche-
rungsamtes herbeizuführen“, sondern auf
Regeln zur strukturierten Zusammenar-
beit der Bundes- und Landesaufsichten zu
setzen. Heute kommt es immer wieder

vor, dass die Landesaufsichten den AOK
Dinge genehmigen, die die Bundesauf-
sicht bundesweit tätigen Krankenkassen
wie der TK oder Barmer verwehrt.
Bei den geplanten Änderungen am 230
Milliarden Euro schweren Finanzaus-
gleich der Kassen sieht die AOK „weiter-
hin Licht und Schatten“. Das verwundert
nicht, ist es doch das Ziel der Reform, die
strukturellen Überschüsse, die die AOK
aus dem Ausgleich bezieht, zugunsten der
anderen Kassen umzulenken.
Der Verband der Ersatzkassen hieß die-
sen Plan denn auch gut. Das Gesamtpa-
ket zur Weiterentwicklung des Risiko-
strukturausgleichs sei „stimmig und muss
nun schnell umgesetzt werden“, sagte die

Vorstandsvorsitzende Ulrike Elsner. Aller-
dings seien die Regelungen zum einheitli-
chen Aufsichtshandeln „nur ein kleiner
Anfang“. Sie rief die Abgeordneten im
Bundestag auf, im parlamentarischen Ver-
fahren nachzuschärfen.
Barmer-Chef Christoph Straub nannte
den Gesetzentwurf einen „Meilenstein
hin zu einem echten solidarischen und fai-
ren Wettbewerb zwischen den Kranken-
kassen“. Sein Kollege von der Techniker-
Krankenkasse, Jens Baas, äußerte sich
skeptischer: Der große Wurf einer einheit-
lichen Aufsicht sei erst einmal vom Tisch,
aber immerhin zeige der Kabinettsent-
wurf Ansätze, die bestehende Aufsichts-
praxis zu vereinheitlichen.

che.SINGAPUR, 3. Oktober. Die indi-
sche Regierung hat im letzten Moment
ihren Plan gekippt, Einwegplastik zum
Monatsanfang zu verbieten. Ministerprä-
sident Narendra Modi hatte zum 150.
Geburtstag von Freiheitskämpfer Mahat-
ma Gandhi den Bann von sechs Plastik-
produkten wie Tüten aussprechen wol-
len. Im letzten Moment aber hieß es, ein
solches Verbot gegen die Industrie
durchzusetzen sei zu schwierig.
Indien braucht angesichts seiner
schwächeren Wachstumsrate von nur
noch 5 Prozent Arbeitsplätze. Der Ver-
band der indischen Industrie erklärte, das
angedachte Verbot sei ein Überlebensthe-
ma für mehrere Branchen, weil es derzeit
keine Alternativen gebe. In Indien wird,
wie im Rest Asiens, fast alles in Plastik
verpackt – auch Getränke, Shampoos
oder Kekse in kleinsten Mengen.
Der Verband forderte, diese Sachets
wie auch kleine Flaschen für Medizin
von jedem Verbot auszunehmen. Indien
verbraucht rund 14 Millionen Tonnen
Plastik im Jahr, hat aber kein breites Sam-

mel- oder Wiederaufarbeitungssystem.
Das führt dazu, dass viele den Abfall lie-
genlassen. Plastiktüten verstopfen dabei
gerade in Monsun-Zeiten die Abwasser-
kanäle, sodass es zu gefährlichen Über-
flutungen kommt.Die große Bevölke-
rung Indiens von fast 1,4 Milliarden
Menschen auf der einen, die geringe In-
dustrialisierung auf der anderen Seite
aber führen zu einem im Weltmaßstab
noch geringen Verbrauch: Kommt In-
dien im Durchschnitt auf etwa 11 Kilo-
gramm Plastikverbrauch je Kopf, liegt
der Durchschnitt der Welt laut dem Ver-
band der indischen Kammern für Han-
del und Industrie bei 28 Kilogramm.
Nachdem sie das Verbot nicht durch-
setzen konnten, nutzten Minister die
Feiern nun, um für einen geringeren
Plastikverbrauch zu werben. Die Flugge-
sellschaftAir Indiaund die staatliche
Bahn wollen ganz auf Einwegplastik
verzichten oder es zumindest nach Ge-
brauch einsammeln. Ein indienweiter
Bann soll nun bis 2022 schrittweise aus-
gesprochen werden.

loe.BERLIN, 3. Oktober. Zehn Jahre
lang kannte die deutsche Wirtschaft nur
eine Richtung: nach oben. Trotz der Han-
delskonflikte rund um den Globus waren
die führenden Wirtschaftsforschungsinsti-
tute auch in ihrem Frühjahrsgutachten
noch optimistisch, dass sich das Wachs-
tum in Deutschland nur vorübergehend
abschwächt. Als sie jetzt in Berlin ihr
Herbstgutachten präsentierten, klang das
schon anders. Mit ernster Miene sagte
Claus Michelsen vom Deutschen Institut
für Wirtschaftsforschung (DIW) aus Ber-
lin: „Wir haben eine sehr rapide Abküh-
lung der Konjunktur erlebt.“
Das hat viel damit zu tun, dass die Han-
delskonflikte, die der amerikanische Prä-
sident Donald Trump angezettelt hat, im-
mer noch weit davon entfernt sind, gelöst
zu werden. Mit China liefert sich Trump
einen Schlagabtausch, bei dem bislang
nur eines sicher ist: dass auf die Ankündi-
gung von Verhandlungen bald die nächste
Drohung höherer Strafzölle folgt. Mit Eu-
ropa haben die Gespräche über ein mögli-
ches Zollabkommen noch gar nicht be-
gonnen. Dafür drohen von Mitte Novem-
ber an höhere Autozölle. Unter diesen
Zerwürfnissen leidet besonders die deut-
sche Industrie. Etwa jeder vierte Arbeits-
platz in Deutschland hängt am Export, in
der Industrie sogar mehr als jeder zweite.
Doch so einfach es auch sein mag, den
wirtschaftlichen Stillstand – die Forscher
erwarten für dieses Jahr nur noch 0,5 Pro-
zent Wachstum – mit dem rauheren Welt-
handel zu erklären: Das ist nur die halbe
Wahrheit. Denn die fünf Institute – das
Berliner DIW, das Münchener Ifo-Insti-
tut, das IWH in Halle, das RWI in Essen
und das IfW in Kiel – sagen: Neben den zy-
klischen Problemen gibt es auch jede Men-
ge struktureller Schwierigkeiten. Und die
Bundesregierung mache diese mit ihrem
wirtschaftspolitischen Kurs eher noch
schlimmer, statt sie zu entschärfen.
Während Union und SPD immer wieder
beteuern, dass die guten Zeiten noch nicht
vorbei sind, sagen die Forscher: Angesichts
der Alterung der Gesellschaft ist das eine


Illusion. Scharf kritisieren sie soziale Wohl-
taten wie die Mütterrente und die geplante
Grundrente. Aus ihrer Sicht müsste die Po-
litik stattdessen ein anderes, aber unpopu-
läreres Vorhaben vorantreiben: die Verlän-
gerung der Lebensarbeitszeit. Sonst müss-
ten die Beiträge zur Rentenversicherung
spätestens Mitte der zwanziger Jahre dras-
tisch steigen. „Es besteht die Gefahr, dass
man sich in der Wirtschaftspolitik einen
schlanken Fuß macht“, sagt Stefan Kooths
vom Kieler Institut für Weltwirtschaft.
„Man muss die sozialen Sicherungssyste-
me demographiefest machen. Das sind sie
bislang nicht.“ Oliver Holtemöller vom

Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung
aus Halle ergänzt: „Die Grundrente ist
nicht zielführend.“ Menschen, die 35 Bei-
tragsjahre gearbeitet hätten, seien selten
von Armut bedroht.
Die Forscher appellieren zudem dafür,
von der „schwarzen Null“ abzurücken,
also einem ausgeglichenen Haushalt.
Zwar sehen sie trotz der stagnierenden
Wirtschaft keine Notwendigkeit für ein
Konjunkturprogramm, wie es vereinzelt
gefordert wird. „Investitionsprogramme
würden in erster Linie bei der Bauwirt-
schaft ansetzen, die ist aber schon jetzt
mehr als ausgelastet“, sagte Kooths. Das

Festhalten an der schwarzen Null sei aber
ebenso falsch. Vielmehr müssten die öf-
fentlichen Haushalte mit der Konjunktur
„atmen“, so Claus Michelsen vom DIW.
Beim Bundesverband der Deutschen In-
dustrie stößt das auf Zustimmung: „Das
Festhalten an der schwarzen Null im kom-
menden Jahr darf kein Dogma sein“, sagte
Hauptgeschäftsführer Joachim Lang. An-
ders der Verband der Familienunterneh-
mer: „Mit zusätzlichen Staatsschulden
dem möglichen Abschwung entgegenzu-
steuern, hat für die Steuerzahler unange-
nehme Konsequenzen“, warnte Präsident
Reinhold von Eben-Worlée.

F.A.Z.FRANKFURT, 3. Oktober. Eine
Schadsoftware hat das Computersystem
des obersten Straf- und Zivilgerichts des
Landes Berlin, des Kammergerichts, be-
fallen und lahmgelegt. Seit vergange-
nem Freitag ist deshalb keine elektroni-
sche Kommunikation mit dem Gericht
mehr möglich. „Im Rahmen des Notfall-
managements“ sei das Kammergericht
„seit dem 27.09.2019 11:35 vom Landes-
netz getrennt“, heißt es in einem inter-
nen Schreiben der Behörde, das der
F.A.Z. vorliegt. Alle E-Mails vom Server
des Kammergerichts würden zur Zeit
blockiert, um zu verhindern, dass sich
die Schadsoftware ausbreite. Die Mitar-
beiter zahlreicher Berliner Justizbehör-
den wurden aufgefordert, sämtliche
E-Mails des Kammergerichts, die seit
Mitte September eingingen, unter Qua-
rantäne zu stellen. Das Gericht bestätig-
te seine „eingeschränkte Erreichbar-
keit“ in einer Mitteilung.
Dem internen Schreiben zufolge han-
delt es sich bei der Infektion um die
Schadsoftware Emotet, die sich durch
Spam-E-Mails verbreitet und die E-Mail-
Adressbücher infizierter Systeme aus-
liest. Daraus generieren dahinterstehen-
de Hacker Täuschungs-E-Mails, mit de-
nen sie die Schadsoftware weiterverbrei-
ten. An Adressaten, mit denen ihr erstes
Opfer zuletzt in Kontakt stand, versen-
den sie E-Mails mit authentisch ausse-
henden Inhalten. Weil sie etwa in Be-
treff, Anrede und Signatur den richtigen
Namen der gehackten Person nennen,

wirken die Nachrichten oft authentisch
und verleiten zum unbedachten Öffnen
etwa eines infizierten Dateianhangs.
Eine Sprecherin des Gerichts sagte,
von dem Angriff seien „einzelne Compu-
ter“ betroffen gewesen. „Um die Ausbrei-
tung der Schadsoftware zu verhindern,
haben wir anschließend als Vorsichts-
maßnahme das komplette Computersys-
tem vom Netz genommen.“ Demnach
können Mitarbeiter des Kammerge-
richts derzeit weder auf Mails noch auf
gespeicherte Daten zugreifen. Auch der
Zugang zum Internet und Intranet sei
nicht möglich. Details zur Verbreitung
der Schadsoftware und zum Ausmaß der
Cyberattacke wollte die Sprecherin
nicht nennen, „um keine weitere An-
griffsfläche zu bieten“. Aktuell arbeite-
ten Spezialisten daran, das Problem zu
beheben. Eine Prognose, wann die Soft-
ware entfernt sein wird, wollte die Spre-
cherin nicht geben. „Es kann sein, dass
es auch noch ein bisschen länger dau-
ert“, sagte sie. Man wolle die Bedrohung
gründlich entfernen, Sicherheit gehe
vor. Zurzeit arbeite man an einer Notlö-
sung, um grundlegende Funktionen wie-
der in Betrieb nehmen zu können.
FDP-Politiker Holger Krestel, Vorsit-
zender des Rechtsausschusses im Berli-
ner Abgeordnetenhaus, sprach von ei-
nem „Datengau“, der zu „erheblichen
Verzögerungen“ in den Arbeitsabläufen
des Gerichts führen werde. Das Kam-
mergericht ist das Oberlandesgericht
des Landes Berlin.

che.SINGAPUR, 3. Oktober. Der aus-
tralische Innenminister Peter Dutton
empfiehlt, Klimaaktivisten, die Gesetze
brechen, die Sozialhilfe zu streichen.
Angesichts fortgesetzter Proteste in der
Stadt Brisbane erklärte er zudem, mög-
lichst viele Menschen sollten die De-
monstranten fotografieren und ihre Ge-
sichter veröffentlichen, um so den
Druck auf deren Familien zu erhöhen.
„Die Menschen sollten die Namen und
Fotos dieser Leute aufnehmen und sie
so weit wie möglich verbreiten, damit
wir sie an den Pranger stellen. Lasst die

Familien wissen, was wir von so einem
Benehmen halten“, erklärte der Minis-
ter im Rundfunk.
In Brisbane kommt es immer wieder
zu Protesten gegen den Klimawandel
und eine neue riesige Kohlemine durch
den indischen Adani-Konzern. Dabei
ketten sich Demonstranten auch an
Straßengitter oder seilen sich von Brü-
cken ab und halten so den Verkehr auf.
„Das gefährdet Menschenleben“, sagte
Dutton mit Blick auf Polizei und Kran-
kenwagen, die die blockierten Straßen
nicht mehr passieren könnten.

Bundestag soll Spahns Entwurf nachschärfen


Kassen sehen Licht und Schatten in der überarbeiteten Reform des Finanzausgleichs


Indien kippt Plastikverbot


Der Verbrauch soll aber deutlich sinken


hmk.BRÜSSEL, 3. Oktober. Die Kritik
der Christdemokraten ließ nicht lange auf
sich warten. Die für drei Stunden angesetz-
te Anhörung des italienischen Sozialdemo-
kraten Paolo Gentiloni als Kandidat für
den Posten des nächsten Wirtschaftskom-
missars lief noch, da twitterte der CSU-Eu-
ropaabgeordnete Markus Ferber aus dem
Sitzungssaal: „Zwei Stunden lang hat Gen-
tiloni keine Frage beantwortet. Er ist ein
echter Politiker, aber das ist nicht genug,
um Kommissar zu werden.“ Der rumäni-
sche Konservative Siegfried Muresan klang
beinahe auf die Minute genau zur gleichen
Zeit ähnlich: „Er hat nicht eine unserer Fra-
gen konkret beantwortet. Wir müssen wis-
sen, was ein Wirtschaftskommissar zur Di-
gital-, CO 2 -Steuer und neuen Einnahme-
quellen für das Budget denkt, bevor wir grü-
nes Licht geben.“
Dass die Anhörung für Gentiloni kein
Spaziergang werden würde, war von vor-
neherein klar. Schon als die künftige Kom-
missionspräsidentin Ursula von der Ley-
en den Italiener zum Wirtschaftskommis-
sar berief, hagelte es von Konservativen
und dem Norden Europas Kritik. Ausge-
rechnet einem Italiener die Haushaltsauf-
sicht über den Problemstaat Italien zu
übertragen sei keine ideale Konstellation,
ätzte Ferber. So stellte denn Gentiloni zu-
nächst klar, dass er sich als Kommissions-
mitglied nicht als Vertreter einer Regie-
rung verstehe. „Ich werde diesen Haus-
haltsentwurf genauso prüfen wie die an-
deren, mit genauso viel Ernsthaftigkeit
wie die der anderen Staaten“, sagte er mit
Blick auf sein Heimatland.
Ansonsten blieb Gentiloni tatsächlich
in vielen Punkten so vage wie eben mög-
lich. Er sprach sich für eine flexible Ausle-
gung des Stabilitätspakts aus, aber ohne
dass das auf eine politische Auslegung
des Pakts hinauslaufe. Er warb dafür, dass
die Staaten mehr investieren und dafür
vorhandene Spielräume im Haushalt aus-
nutzten. Aber natürlich liege das in der


Hand der nationalen Regierungen. Er be-
kannte sich zu einem Alleingang bei der
Digitalsteuer, aber nur und erst, wenn es
keine globale Lösung gebe. Er sprach sich
für eine europäische Arbeitslosenversi-
cherung aus. Das dürfe aber nicht auf Kos-
ten der nötigen Strukturreformen gehen
oder gar zu einem dauerhaften Transfer
europäischer Mittel führen.
Andererseits ist es angesichts der knap-
pen Mehrheit, die die proeuropäischen
Kräfte im Europäischen Parlament ha-
ben, auch schwierig für die Kandidaten,
sich klar gegen die politischen Wünsche
einer Fraktion zu positionieren. Die Kan-
didaten sind faktisch auf die Unterstüt-
zung von Konservativen, Sozialdemokra-
ten, Grünen und Liberalen angewiesen,
die nach den Anhörungen der gesamten
EU-Kommission ihre Zustimmung ertei-
len müssen. Das wissen auch deren Abge-
ordnete. Es muss also schon einen beson-
deren Grund geben, um einen Kandida-
ten – im Brüsseler Jargon gesprochen –
„abzuschießen“. So kritisierten die Abge-
ordneten in ihrem Beurteilungsschreiben
zu Gentiloni nach der Anhörung zwar ein-
hellig seine „vagen Antworten“, erteilten
ihm aber dennoch grünes Licht. Die Sozi-
aldemokraten hatten „ihren Mann“ ohne-
hin schon zuvor als „besten Mann für den
Job“ ausgemacht. Der Grüne Sven Gie-
gold hatte Gentilonis Zusagen zum
Kampf gegen die Steuervermeidung und
den Klimawandel gelobt, auch wenn die-
ser abermals sofort einschränkte, ohne
Unterstützung der Mitgliedstaaten sei das
alles sehr schwierig.
Anders als dem Polen Janusz Wojcie-
chowski und der Schwedin Ylva Johans-
son bleibt Gentiloni damit erspart, weite-
re Fragen schriftlich zu beantworten und
im Extremfall zu einer zweiten Anhörung
zu erscheinen. Die wiederum droht der
Kandidatin als EU-Binnenmarktkommis-
sarin, Sylvie Goulard. Die Kandidatin des
französischen Präsidenten Emmanuel Ma-
cron fiel am Mittwoch bei ihrer Anhö-
rung zumindest erst einmal durch, offi-
ziell wegen finanzieller Interessenkonflik-
te und vagen Antworten – tatsächlich
aber wohl aus einem anderen Grund,
heißt es im Parlament von vielen Abgeord-
neten ganz offen: um Macron, dem Geg-
ner des Spitzenkandidatenmodells, eins
auszuwischen.

Forscher kritisieren soziale Wohltaten der Regierung


„Die Grundrente ist nicht zielführend“ / Stattdessen müsse die Lebensarbeitszeit verlängert werden


ppl.LONDON, 3. Oktober. Die briti-
sche und die irische Wirtschaft haben
ein gemeinsames Ziel: Der Brexit soll
möglichst weich ablaufen. Am liebsten
wäre ihnen der ursprüngliche EU-Aus-
trittsvertrag, der im britischen Parla-
ment dreimal abgelehnt wurde, vor al-
lem wegen des „Backstops“, der Notfall-
regelung gegen eine Grenze in Irland.
Auf den neuen Vorschlag von Boris John-
son reagiert die britische Wirtschaft re-
serviert. Das könne noch nicht die end-
gültige Lösung sein, sagte Carolyn Fair-
bairn, die Direktorin des Industriever-
bands CBI. „Die Firmen hoffen verzwei-
felt, dass es noch Raum für weitere drin-
gende Gespräche zwischen dem Verei-
nigten Königreich, der EU und den ande-
ren Nationen gibt.“ Ein No-Deal-Brexit
wäre „ein historisches Scheitern“, warn-
te sie. „Wir rufen alle Seiten auf, die Türe
offenzulassen für die Chance auf einen
Deal.“ Der Unternehmerverband Institu-
te of Directors warnt, dass man beim Ver-
such, eine harte Grenze in Irland zu ver-
meiden, nicht zu komplizierte Regelun-
gen schaffe, „die solche schweren Bür-
den auf die Unternehmen setzen, dass
sie die Probleme noch verschärfen“.
Johnsons Pläne sind in der Tat kompli-
ziert: Er schlägt vor, dass Nordirland die
EU-Regeln nicht nur für Agrargüter, son-
dern für alle Güter mindestens vier Jahre
lang behält und damit im europäischen
Binnenmarkt bleibt – mit der Option auf
Verlängerung durch das nordirische Par-
lament, den Stormont. So bleibe eine ge-
samtirische Wirtschaftszone erhalten.

Aus der EU-Zollunion soll Nordirland
aber wie ganz Großbritannien nach der
Übergangsfrist Ende 2020 austreten. Nur
so könnte das Königreich eine eigene
Handelspolitik starten. Das macht Zoll-
kontrollen in Nordirland notwendig. Die-
se sollen nicht an der Grenze, sondern
„dezentral“, bei den Händlern und Ex-
porteuren passieren. Johnson setzt zu-
dem auf die Entwicklung neuer Technik,
die das elektronische Registrieren und
Abfertigen der Zollwaren erleichtert.
In Nordirland und der Republik Irland
stoßen die Pläne auf große Vorbehalte.
Alles, was nach Zoll und Kontrollen an
der inneririschen Grenze klingt, lehnen
Bevölkerung und Wirtschaft ab. Wirt-
schaftsvertreter reagierten verärgert auf
Johnsons Pläne. Aodhán Connolly, Di-
rektor des nordirischen Einzelhandels-
verbands, sagte, der Plan sei „unausführ-
bar und ungenießbar“. Ann McGregor,
Chefin von Nordirlands Handelskam-
mer, warnte vor einer physischen Grenz-
infrastruktur. Diese würde die Liefer-
und Wertschöpfungsketten behindern.
Wie eng diese sind, zeigen das Guin-
ness-Bier und Baileys Irish Cream. Guin-
ness wird in Dublin gebraut und im nord-
irischen Belfast verpackt; die Baileys-Zu-
taten werden in Irland hergestellt, in
Nordirland gemischt und veredelt, aber-
von Irland aus exportiert. 1,3 Millionen
Euro an Kosten würden im Jahr entste-
hen, würden die Lastwagen an der Gren-
ze nur um eine Stunde aufgehalten, teilte
der Diageo-Konzern mit, der die Produk-
te herstellt.

Berliner Gericht lahmgelegt


Mitarbeiter können nicht mehr auf Daten zugreifen


Strafen für Klimademonstranten


Australischer Innenminister will Sozialhilfe streichen


Gentiloni: Werde Italiens Haushalt genau prüfen


Umstritten:Paolo Gentiloni Foto Reuters


Die irische Wirtschaft lehnt


Johnsons neuen Plan ab


Vorsichtiges Hoffen in London / Kontrollen würden teuer


Ausgerechnet ein Italiener soll


in der neuen EU-Kommission


für Wirtschaft zuständig sein –


das sorgte für viel Kritik. Nun


stellte er sich dem Parlament.


Mittelwert2)

1) Preisbereinigt. 2) Zeitraum 1992 bis 2018. 3) In Prozent der zivilen Erwerbspersonen. 4) Staatlicher Finanzierungssaldo.
Quellen: Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose; Statistisches Bundesamt; Bundesagentur für Arbeit / Foto Stefanie Sudek / F.A.Z.-Grafik Brocker

in Prozent des BIP4)

Defizit / Überschuss des Staates
Prognosen Prognosen

1992 2018

Herbstgutachten 2019 Deutsches Wachstum
BIP zum Vorjahr in Prozent1)

1,


  • 2


0

+ 2




  • 3

  • 4


+

+ 3

1992 2018 20 2119

Arbeitslosenquote
in Prozent3) Prognosen

8,

2

0

4

6

8

10

1992 2018




  • 3

  • 4

  • 2


0

1


  • 1,


Der private Konsum
stützt die Konjunktur.

0,

1,11,

1

0

2

3

4

Inflationsrate
in Prozent

1,

1992 2018 212019

1,4 1,51,

212019

5,05,14,

212019

1,

0,
0,

Prognose
des Herbst-
gutachtens

s Staates
Prognosen Prognose

19 20 21

8,

2

0

4

6

8

1992 2018

0,

1 , 11 ,

3

4

Inflationsrate
in Prozent

19 20

5,0 5 , (^14)
1,
0, 6
0, 1
1,51,
4,8 4,
0,81,
1,2 1,
Frühjahrs-
gutachten
zum Vergleich

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