Der Stern - 26.09.2019

(Romina) #1

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E


s ist ein sonniger Vormittag
am Strand von Is Arutas an
der Westküste Sardiniens,
und nichts deutet darauf hin,
dass sich hier jeden Moment
ein Verbrechen abspielen
könnte. Nach und nach trudeln die
Urlauber ein, stecken ihre Schirme
in den Sand, und schon bald gleicht
die Bucht einer Eiscreme-Werbung.
Doch Pina Careddu weiß, dass die
Idylle auch hier trügerisch ist. Von
einem Kiosk aus beobachtet die
58-Jährige die Touristen. Wie sie sich
ins Meer stürzen. Wie sie den Sand
durch ihre Hände rieseln lassen. Ja,
vor allem dabei schaut Careddu ge-
nau zu, denn darum geht es ihr – um
den Sand. Oder genauer: dessen Ab-
handenkommen.
Es ist eine dieser Geschichten, die
nach Fake News klingen: In Sardi-
nien werde so viel Sand geklaut, dass
die Strände bedroht seien. Dass die
Mitnahme kleinster Portionen
unter Strafe stehe. Dass man sogar
im Gefängnis landen könne.
Sand am Meer? Gibt’s den nicht
wie – Sand am Meer?
Ein paar Tage auf der Insel aller-
dings machen klar, wie der Sand die
Sarden umtreibt. Bürgermeister,
Wissenschaftler, selbst Flughafen-
verwaltungen, sie alle sorgen sich
darum. Am meisten allerdings viel-
leicht Pina Careddu, als „Sheriff des
Strandes“ – so wurde sie von loka-
len Medien getauft.
„Ich sehe mich eher als besorgte
Bürgerin“, sagt sie beim Espresso
am Strandkiosk. Es ist inzwischen
Mittag geworden, die Sonne brennt,

kaum ein Quadratmeter Strand ist
noch frei. Is Arutas ist einer der be-
liebtesten Strände von Sardinien.
Der Sand hier hat eine besondere
Konsistenz. Er besteht aus feinsten
Quartzkügelchen. Wunderschön,
finden auch die Urlauber und neh-
men ihn gern in Flaschen mit nach
Hause. Zu Tausenden. Seit Jahren.
„Als ich ein Kind war, hatten wir
den Strand den Sommer über ziem-
lich für uns allein“, erzählt Cared-
du. „Heute“, sagt sie, „ist es im Juli
und August viel zu voll. Eigentlich
gehe ich dann nicht mehr an den
Strand.“
„Außer“, fügt sie hinzu, „um auf
die Einhaltung unserer Gesetze zu
achten.“
Vielleicht zehn Jahre ist es her,
dass Careddu zum ersten Mal Tou-
risten angesprochen hat, die Sand
abfüllten. Damals war die gesetzli-
che Grundlage noch nicht so klar, sie
musste vor allem auf ihre Überzeu-
gungskraft setzen.
Seit 2017 gibt es nun ein sardi-
sches Regionalgesetz, das es ver-
bietet, Sand, Muscheln oder Steine
mitzunehmen. Egal, wie viel. Die
Strafe liegt zwischen 500 und 3000
Euro. Stammt der Sand aus einem
geschützten Gebiet oder deutet die
Größenordnung darauf hin, dass da-
mit gehandelt werden soll, können
die Sandräuber sogar im Gefängnis
landen. Erst im August wurde ein
französisches Paar am Fährterminal
dabei erwischt, wie es 40 Kilo in
Wasserflaschen mitnehmen wollte.
Schlimmstenfalls drohen ihnen
mehrjährige Haftstrafen.

Die Trauminsel Sardinien aller-
dings hat Hunderte Kilometer an
Stränden, es gibt kuschelige Buch-
ten und weite Halbmonde, es gibt
Strände aus Kies und solche aus wei-
ßem Puder, manche leuchten sogar
rosa, wie der auf der vorgelagerten
Isola Budelli – niemals könnten
Carabinieri alle überwachen. Des-
wegen hilft Pina Careddu. Bemerkt
sie etwas Verdächtiges, filmt sie die
Aktion mit ihrem Smartphone.
Dann stellt sie die Urlauber zur
Rede. „Die meisten sehen es dann
ein. Einige allerdings leugnen auch
skrupellos, häufig Deutsche. Dann
rufe ich die Polizei. Und mit dem Vi-
deo kann ich alles dokumentieren.“
Aber ist das nicht alles ein wenig
übertrieben? Wegen ein paar Krü-
meln Dreck? „Überhaupt nicht“, sagt
Careddu und wird ein wenig lauter.
„Wenn jeder nur eine Flasche voll
Sand nimmt, dann ist bald nichts
mehr übrig!“
Tatsächlich hat sich die Küsten-
linie von Is Arutas in den vergange-
nen Dekaden verändert. In seinem
Büro ein paar Kilometer im Hinter-
land zeigt Massimo Marras, der Di-
rektor der Schutzgebiete der Region,
ein Schaubild. Darauf zu sehen: die
Küstenlinie von Is Arutas. In den
Siebzigern. Und heute. Der Strand
ist nur noch halb so breit. „Der Sand-
klau spielt definitiv eine Rolle“, sagt
Marras. „Und wir haben kein großes
Depot im Meer. Wenn unser Sand
weg ist, dann ist er weg.“ Sagt’s und
präsentiert die Corpora Delicti: zwei
1,5-Liter-Wasserflaschen voll mit
Steinchen.

Die Corpora
Delicti: In
Flaschen oder
Tüten bringen
Urlauber
gern Sand als
Souvenir mit
nach Hause

„Nehmen Sie den Sand nicht weg“: ein Warnschild am
Strand von Is Arutas an der Westküste Sardiniens

26.9. 20 19 73
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