Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Mittwoch, 9. Oktober 2019


Die Welschen


machen’s besser


Schweizer Frauen haben den Romands viel zu verdanken. Aber auf Jean-Jacques Ro usseau


hätten sie verzichten können. Sein Mutterbild bestim mt die Politik weiter mit.


Von Angelika Hardegger


AntoniaFässler (cvp.) kann am 20. Oktober Ge-
schichte schreiben. Die Appenzellerin kandidiert
für einen Sitz im Nationalrat.Wird Fässler gewählt,
ist sie die erste Bundesparlamentarierin in der Ge-
schichtevon Appenzell Innerrhoden.Am anderen
Ende der Schweiz, in Genf, war Lise Girardin frü-
her dran. Ein halbesJahrhundert früher.
Girardin zog1971 als erste Schweizerin über-
hauptin den Ständerat ein. DieFreisinnige hatte
schon zuvor Pionierhaftes geleistet:1968 wurde sie
als erste Schweizerin an die Spitze einer Stadt ge-
wählt. Girardinregierte die Stadt Genf, da besass
sie noch garkein nationales Stimmrecht.
DieRomandie hat viele Pionierinnen hervor-
gebracht, nicht nur in derPolitik. Die erste diplo-
mierte Bergführerin war Westschweizerin, die
erste Schiedsrichterin in der höchsten fussballeri-
schen Spielklasse auch. Ganz grundsätzlich haben
SchweizerFrauen dem westlichenLandesteil eini-
ges zu verdanken. DieRomands hätten denFrauen
das nationale Stimmrecht nicht erst1971 gegeben,
sondern schon zwölfJahre früher. Neuenburg,
Genf und dieWaadt sagten bei der Abstimmung
von1959 Ja,alle Deutschschweizer Kantone Nein.
Allein dafür: Merci lesWelsches!
WestschweizerFrauen waren es auch, die als
erste zum Streik vom14.Juni aufgerufen haben.Das
war 2019 so und auch schon1991. Damals hatte eine
Genferin, die Sozialdemokratin Christiane Brunner,
die Streikbewegung in die Deutschschweiz getra-
gen. ZweiJahre später wollte Brunner Bundesrätin
werden. Sie wäre die zweite in der Geschichte des
Landes gewesen, doch sie erschien den Männern im
Parlament zu aufmüpfig und unangepasst. Sie wähl-
ten an ihrer Stelle einen Mann. DieFolge war eine
bisher einzigartigeWelle von Solidarität, dieFrauen
über Parteigrenzen hinweg erfasste.


Die «biedere» Dreifuss


Merci sagen sollten Deutschschweizerinnen auch
Ruth Dreifuss, der Genferin, die eineWoche
nach Brunners Nichtwahl in dieRegierung ge-


wählt wurde. Und zwar für das grossartige Inter-
view, das sie damals demFernsehen gab. Drei-
fuss sagte, sie sei gewählt worden, weil ihr biede-
resAussehen diePolitiker beruhige. Sie entspre-
che dem, was man von einerFrau in derPolitik
erwarte: «ledig, keine Familie, so etwas zwischen
Mann undFrau, die alles aufgeopfert hat und da-
du rch vielleicht Anrecht auf Anerkennung hat».
Nie hat eine Schweizerin schöner formuliert, was
Gleichstellung oft bedeutet:Frauen passen sich in
eineWelt mit männlichen Normen ein. Selten ist
es umgekehrt.
Der Romandie (und den Städten aus der
Deutschschweiz) hat diesesLand die Mutter-
schaftsversicherung zu verdanken. Bürgerliche
Abweichler aus der lateinischen Schweiz drück-
ten imParlament auch die Pflicht zur Lohnana-
lyse in grossenFirmen durch.Woher rührt diese
welscheAufgeschlossenheit gegenüber Anliegen
vonFrauen?
Manche sagen,Westschweizer Bürgerliche seien
Etatisten und damit verkappte Linke. Tatsächlich
darf das Private in derRomandie politischer sein.
Aber das unterschiedlicheVerständnis von der Be-
ziehung zwischenStaat und Individuum greift als
alleinige Erklärung zu kurz. Geschlechterpolitik
undFamilienpolitik haben immer auch mitAuffas-
sungen desWeiblichen zu tun.

Die «tüchtige» Frau


Die DeutschschweizerAuffassung wurde – und das
ist die Ironie dieser Geschichte– von einem Gen-
fer geprägt, vonJean-JacquesRousseau. Die parla-
mentarische Debatte zumVaterschaftsurlaub hat
dafür kürzlich ein schönes Beispiel geliefert. Es gab
in dieser Diskussion einVotum, das sehrrousseau-
istisch war.Formuliert hat es derSVP-Hardliner
Andreas Glarner.
Glarner sagte, er habe «nicht unbedingt das
dringende Bedürfnis» verspürt, die Kindernach
der GeburtTag undNacht zu sehen. Er habe aber,
fügte er an, eine «tüchtige»Frau gehabt, «die voll

in ihrerRolle als Mutter aufging». Glarner dankte
seiner Urgrossmutter, der Grossmutter, Mutter
und der Ex-Frau, dass sie «dies alles ohne staat-
liche Hilfe» geschafft hätten. Es ging einRau-
nen durch den Saal, als Glarner seinVotum hielt.
Dabei hat er doch nur ausgesprochen, was viele
denken.
Manch einPolitiker in Bern dürfte Glarners
Vorstellung dessen teilen, was eine «tüchtige»Frau
ist. Nämlich: eine gute Mutter, also eine, die voll
in dieserRolle aufgehtund sich uneingeschränkt
für dieFamilie hingibt, besonders für die Kinder.
Therese Schläpfer, auchSVP, stellte in der gleichen
Debatte die rhetorischeFrage, ob es «schlussend-
lich ganz profan» nur darumgehe, «möglichst das
Maximum anFerien undFreizeit zu ergattern». Das
Kind werde vorgeschoben, umFerien zu erhalten.
«Aber danach: ab in die Krippe!»
«Ab in die Krippe» ist für vieleVertreter der
SVP nachwie vor gleichbedeutend mit dem Zerfall
der Gesellschaft.Das wäre an sichkein Problem.
Das Problem ist, dass die Idee, gute Mütter seien
aufopfernde Mütter, weitüberrechtskonservative
Kreise hinausAnhänger hat – und Anhängerinnen.
Geschlechterforscher aus Basel haben das
mehrfach nachgewiesen. 2017 befragten sie junge,
noch kinderloseFrauen aus der Deutschschweiz,
wie sie sich das Leben als Mutter vorstellen. Die
Forscherreduzierten dasFazit der Gespräche auf
eine einzigeAussage:«WennKinder da sind,kom-
men die an erster Stelle.Sonst muss mankeine
Familie haben.»

Ein soziales Konstrukt


Frauen stellen die eigenen Bedürfnisse weit zu-
rü ck, wenn sie Kinder bekommen: Dieses Mut-
terbild erscheint uns natürlich. Aber es ist ein
sozialesKonstrukt, zurückzuführen unter ande-
ren aufJean-JacquesRousseau (der die eigenen
Kinder, dies nur en passant, insWaisenhaus gab).
In RousseausWahlheimatFrankreich war es da-
mals üblich, dass adelige und bürgerlicheFrauen
die Kinder nachder Geburt zu einer Amme gaben.
Das Stillen war etwas für arme Leute; wer genug
Geld hatte, wahrte Distanz zum Nachwuchs. Rous-
seau schrieb gegen diesen Zustand an.Frauen hät-
ten aufgehört, Mütter zu sein, klagte er.Von der
Frage, ob Kinder nach der Geburt bei den Müt-
tern bleiben, machteer praktisch den Erfolg der
Republik abhängig.
Rousseaus Ansichten entfalten bis heuteWir-
kung.Andreas Glarners naiv-ehrlichesVotum im
Parlament ist ein Beweis dafür und auch die Zwei-
fel, die viele Mütter undVäter bei der Krippen-
und Kitabetreuung plagen. Ein Artikel im«Tages-
Anzeiger» hat es kürzlich vorgeführt. «Krippen
schaden Kindern nicht», titelte das Blatt auf der
Frontseite. DerText versprach «Erleichterung für
alle Eltern, die ab und zu ein schlechtes Gewissen
plagt, wenn sie ihre kleinen Kinder morgens in die
Ki ta bringen».
In Frankreich habenFrauenkein schlechtes Ge-
wissen, wenn sie die Kindervon eineranderenPer-
son betreuen lassen. Hier hatteRousseaus Appell
an dieFrauenkeinen durchschlagenden Erfolg.
Französinnen pochten immer auf eine eigene Indi-
vidualität.Französinnen sind mehrFrau als Mutter,
so h at es die Philosophin undFeministin Elisabeth
Badinter formuliert.
EineFolge davon ist, dass französische Eltern
viel entspannter umgehen mit ihrem Nach-
wuchs. Sie haben ein unaufgeregteresVerhält-
nis zu ihm.Französische Kinder werden in das
Leben von Müttern undVätern integriert – und
nicht zum Sinn und Zweck dieser Leben gemacht.
Der Unterschiedist entscheidend, besonders für
Frauen. Und das französische Modell strahlt auf
die Romandieaus.

Ein überhöhtes Mutterbild


WestschweizerFrauen werden weniger auf ihre
Rolle als Mutterreduziert und definieren sich
selbst weniger dadurch. Ein Indiz dafürkönnte
sein, dass sie weniger lang stillen als Deutsch-
schweizerinnen. Westschweizerinnen arbeiten
nach der Geburt auch doppelt so häufigVollzeit.
Bei Müttern mit kleinen Kindern ist der Unter-
schied besonders frappant:Jede zweiteRomande
mit einem Kind imVorschulalter arbeitet mehr
als zweieinhalbTage dieWoche. In den Deutsch-
schweizer Kantonen liegt der Prozentsatz zwi-
schen 12 und 46.
Nun ist das Angebot an Krippen und Kinder-
tagesstätten in derRomandie grösser und auch
günstiger, das ist eine Erklärung für diese Zahlen.
Aber diese Krippenpolitik musste einmal entschie-
den werden. Und politische Entscheide fallen nie
im ideenfreienRaum.
Wenn in derFamilienpolitik vonKosten und
Nutzen dieRede ist, von «Forderungsmentalität»
und «Soziallasten», spielt immer eineVorstellung
dessen mit, was eine gute Mutter ist.Würden wir
uns alle eingestehen, dass wir einem überhöhten
Bild der Mutter anhängen, wirkönnten viel ehr-
lichere Debatten führen. Andreas Glarner hat sein
Ideal offengelegt.Auch dafür kann man einmal
Danke sagen.

Rousseau war


ein Denker der Freiheit,


aber den Frauen hat er


wenig Freiheiten beschert.


Er gab ihnen zwei Aufgaben:


den Männern gefallen


und Kinder erziehen.

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