Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

Mittwoch, 9. Oktober 2019 ZÜRICH UNDREGION 19


Die Zürcher FDP spricht von «Planwirtschaft in Reinkultur»


dfr.·Der Stadtzürcher SP-Präsident
Marco Denoth hat in derWohnpolitik
die nächste Eskalationsstufe gezündet.
In einem NZZ-Interview sprach er da-
von, dass im Kampf gegen hohe Mieten
und Gentrifizierung eine gläserne De-
cke erreicht sei.Darum brauche es nun
«massiveEingri ffeinGrund-undBoden-
rechte».Grundeigentummüsse«entwer-
tet»werden;einMitteldazuwärenErhal-
tungssatzungsgebiete wie in München.
Die provokantenAussagen haben
heftigeReaktionen ausgelöst. In den
Kommentarspalten der NZZ hat das
Interview zu über hundert Leserrück-
meldungen geführt.Für den Zürcher
FDP-Präsidenten Hans-Jakob Boesch
sind Denoths Ideen «Planwirtschaftin
Reinkultur». Die rot-grünenParteien
arbeiteten schon lange daran,denWoh-
nungsmarkt immer stärker zuregulie-
ren, sagt er auf Anfrage. «Am liebsten
hätten sie alleWohnungen in der Stadt

in staatlichem Besitz.» Die Praxis zeige,
dasssolcheplanwirtschaftlichenModelle
nicht funktionierten. DieVerfehlungen
der DDR,aber auch von Städten wie
Wien und Stockholm seien mahnende
Beispieledafür.«DerStaatsolltesichauf
seine Kernkompetenzenbeschränken»,
sagt Boesch. «DerWohnungsmarkt ge-
hört–mitAusnahmederUnterstützung
für diesozial Schwachen – nicht dazu.»
Die Linkegebe vor,mehr und billi-
gereWohnungenschaffenzuwollen.Mit
ihren Vorschlägen erreichesie aber ge-
nau das Gegenteil.In d er Stadt Zürich
entstünden zu wenigeWohnungen –
unter anderem wegen des schon heute
stark regulierten Immobilienmarkts.
Tatsächlich hat die Zahl derWohnun-
gen in der Stadt im letztenJahrzehnt
um bloss 8,6 Prozent zugenommen,
während es im kantonalen Mittel 12,
Prozent waren. «Die Nachfrage ist wei-
terhin hoch, kann aber nicht befriedigt

werden», sagt Boesch.Wenn nun ganze
Quartiere unter eineArt «soziale Käse-
glocke»wieinMünchengestelltwerden
sollen, dann halte dies private Eigentü-
mer noch mehr davon ab, ihre Liegen-
schaften auszubauen oder zu sanie-
ren. « Das wäre ein weiterer, massiver
Bremsklotz für die innereVerdichtung
und fürenergetische Sanierungen», sagt
der FDP-Präsident. Zudem würden die
Mieten andernorts in die Höhe getrie-
ben, weil das Angebot künstlich klein
gehalten werde.
EineErhaltungssatzungführeausser-
dem dazu, dass sichPersonen zu lange
in einer zu grossenWohnung aufhielten


  • etwa dann, wenn ihre Kinder schon
    ausgezogenseien. «Da werden falsche
    Anreize gesetzt», kritisiert Boesch. Die
    FDPwerdesichvehementgegen«eigen-
    tumsvernichtendeVorschläge», wie sie
    der Zürcher SP-Präsident vorgebracht
    habe, zurWehr setzen.


Das Münchner Modell hat Schwächen


Der Zürcher SP -Präsident preist di e «Erhaltung ssatzung» als Mittel gegen die Gentrifizierung an – das Instrume nt wirkt aber nur bedingt


STEPHANIE LAHRTZ (TEXT), MATTHIAS
FERDINANDDÖRING (BILDER), MÜNCHEN


Langsam geht die 78Jahre alte Hilde-
gard Gutekunst, nach mehrerenBand-
scheibenoperationen nur noch mit Krü-
cken unterwegs, über rotbraune Plättli
undausgetretene,knarzendeHolzstufen
in ihreWohnung im ersten Stock der
Ehrengutstrasse18 in München. So ist
das schon seit 49Jahren, auch wennes
frühernatürlichschnellerging.Aberwie
lange wird das noch ihrWeg sein? Die
lebhafte,energischeSeniorinistsehrbe-
sorgt. Denn das Haus hat kürzlich wie-
der einmalden Besitzer gewechselt.
Keiner weiss, wer der oder die Neue
ist und was nun passiert. Ihre letzte
Hoffnung ist der Münchner Stadtrat.
Denn der wird bald darüber entschei-
den,ob die Stadt das fast 120Jahre alte,
dank dervanillegelbenFassade mit den
rosaroten Querstreifen im Erdgeschoss
so unbeschwert wirkende Haus kaufen
wird. Möglich wäre das, weil die Ehren-
gutstrasse in einem sogenannten Erhal-
tungssatzungsgebiet liegt. Ein sperriges
Wort,aber für Hildegard Gutekunst hat
es den Klang eines Zauberworts.


Wirklich einAllheilmittel?


Geht es nach dem Stadtzürcher SP-Prä-
sidenten Marco Denoth, dann soll der
Münchner Zauber bald auch in Zürich
wirken.IneinemInterviewmitderNZZ
schlug er das Mittel der Erhaltungssat-
zungvor,umWohnquartiere vorGentri-
fizierungundVerdrä ngungzubewahren
(siehe Zusatz). Doch ist diese «soziale
Käseglocke», wiesieauchschongenannt
wurde , wirklich ein Allheilmittel?Das
Ehepaar Gutekunst hofft es. «Wo sollen
wir denn hin, wenn das jetzt hier auf-
wendigsaniertwird?», fragtsi e.DasPaar
zog ein, als der Sohn einJahr alt war.
Damals steckten die beiden ihre gan-
zen Ersparnisse in dieWohnung, bau-
ten in Eigenregie einBad, Stromleitun-
gen, Heizung ein. «Eine saftige Miet-
erhöhungkönnen wir uns nicht leisten»,
sagt Frau Gutekunst.Derzeit zahlen sie
gut 10 00 Euro, viel Geld für die beiden
Rentner. Er war früherKunstschmied,
si e arbeitete in einerWäscherei und
einer Kantine.
Das Erhaltungssatzungsgebiet ist ein
Instrument aus dem deutschen Bundes-
baugesetzbuch.München wendetess eit
über 30Jahren an. Eine Stadt kann sol-
che Gebiete ausweisen, wenn dort ers-
tens die älteren Häuser ein «erheb-
li ches Aufwertungspotenzial» haben,
sprich die eine oder andereRenovie-
rung vertragenkönnten. So erinnern
die aufgeplatzten Betonplatten im Hin-
terhof oder die abblätternde Farbe der
Wohnungstüren in der Ehrengutstrasse


18 zwar an die guten alten Zeiten –
aber sie wirken eben auch erneuerungs-
bedürftig. Zweitens müssen in den Alt-
bauten eines solchen GebietsPersonen
mit einem nicht so hohen Einkommen
und schlechten Chancen auf dem allge-
meinenWohnungsmarkt leben. Mittler-
weile gelten die Erhaltungssatzungen
unbefristet.Alle fünfJahre muss jedoch
überprüft werden,ob di eVoraussetzun-
gen dafür noch gegeben sind.

Aufkauf vonHäusern


Derzeit gibt es 23 Erhaltungssatzungen
in München, die meisten davon in der
Innenstadt. In den ausgewiesenen Ge-
bieten gibt es rund160000 Wohnun-
gen mit etwas mehr als 281000 Ein-
wohnern. Somit lebt knapp einFünf-
tel aller Münchner in solchen Gebie-
ten. Dort gelten verschiedeneRegeln
für die Hausbesitzer. So müssen sämt-
liche Renovationspläne vom Sozialamt
derSt adtMünchengebilligtwerden.Auf
diese Weise kann verhindert werden,
dass Wohnungen luxussaniert werden,
indem sie nobleFussböden oder riesige
BalkonebekommenodereineSaunaim
Keller installiertwird. Und dass dann
die Mietenrake tengleich in den weiss-
blauen Himmel schiessen.
Gestattet werden laut dem Sozial-
amtnurMassnahmen,diewirklichnötig
sin dund dem allgemeinenStandar ddes
Quartiers entsprechen. Zudem unter-
li egt seit 2014 die Umwandlung von
Miet- in Eigentumswohnungen einer
Genehmigung seitens der Stadt. Diese
werderestriktiv gehandhabt, um die

Verdrä ngung der angestammten Mie-
ter zu verhindern,so wird betont. Zu-
demverfügtdieStadtMünchenüberein
Vorkaufsrecht, wenn – wie nun bei der
Ehrengutstrasse18 – der Besitzer wech-
selt. Entscheidet sich die Stadt gegen
einen Kauf, weil zum Beispiel dieVor-
abprüfung ergeben hatte, dass die Mie-
tenschonhochsindundesbereitseinen
Milieuwandel gegeben hat, dann gelten
für den neuen Besitzer weiterhin die
Vorgaben der Erhaltungssatzung.
Allerdingskannderpotenzielleneue
Eigentümer die Stadt ausstechen, wenn
er eine Abwendungserklärung unter-
schreibt. Die ihm dort gemachtenAuf-
lagen wurden 2018 massiv verschärft.
So ist unter anderem ein Mietpreisde-
ckel festgeschrieben, es gibt Kriterien
für dieAuswahl der Mieter, oder man
darf nur eine leerstehendeWohnung
für den Eigenbedarf verwenden. Zu-
dem muss sich der neue Eigentümer an
die erwähntenRegeln für Erhaltungs-
satzungenhalten.SolltederneueEigen-
tümer dieAbwendungserklärung unter-
schreiben, dann gelten dieAuflagen je-
doch nur für die privaten Mieter, nicht
für Gewerberäume.
DieVerschärfunghatoffenbarInves-
torenabgeschreckt.Denn2018 und20 19
hat die Stadt mehr als 230 Millionen für
den Aufkauf vonHäusern in Erhal-
tungssatzungsgebieten ausgegeben. Die
Wohnungen wurden dann den städ-
tischen Wohnungsbaugesellschaften
übertragen. Der FDP-Fraktionsvor-
sitzende im Münchner Stadtrat kriti-
sierte daher die«Verschwendung von
Steuergeldern». Zwar wird das Instru-

ment auch vonvielen bürgerlichenPoli-
tikern unterstützt. Bei manchen mögen
die imkommendenMärz anstehenden
Kommunalwahlen dieLiebe befeuert
haben. Doch FDP und CSUgehen die
Verschärfungen,dievorwenigenMona-
ten für Häuser auf zuvor unbebauten
Flächen in solchen Gebieten beschlos-
sen wurden, viel zu weit.Das verhin-
dere dringend benötigte neueWoh-
nungen, kritisieren sie.Aus ganz Mün-
chen ein Erhaltungssatzungsgebiet zu
machen, wie von manchen Stadtpoliti-
kern gefordert,ist laut der Stadtverwal-
tung rechtlich nicht möglich. Denn man
könne ja nicht bestehende Luxuswoh-
nungen unter Schutz stellen.

Porsche stattKleinwagen


Beatrix Zurek vom Mieterverein Mün-
chen sagt: «Die Erhaltungssatzungen
können nicht einzelne Mieter schüt-
zen.» Siekönnten allerdings einVier-
tel vor einerrasanten Gentrifizierung
schützen.Aber eine schleichende Miet-
preiserhöhung durch Renovierungen
gibt es inHäusern in einemErhaltung s-
satzungsgbiettrot zdem.Das geschah
auch an der Ehrengutstrasse18 in den
letztenJahren. «Immer wenn jemand
auszog, wurde etwas in derWohnung
saniert. Und dann wurde die Miete um
mehrerehundert Euroerhöht»,berich-
tet Frau Gutekunst.«Wir haben uns
immer dagegen gewehrt,bei uns wur-
den nur einige neueFenster und ein
kleinerBalkon installiert.»
Auch gegen den beliebten «Eigen-
bedarfstrick» schützt das Instrument

nicht.Gutekunst junior und die Schwie-
gertochter wohnten früher zwei Eta-
gen höher. «Doch dann wurde ihnen
wegen Eigenbedarf gekündigt», berich-
tetdi eMutter,immernochvollerEmpö-
rung. «Als sie auszogen, wurde jedoch
erst einmal viele Monate aufwendigre-
noviert.Dann zog der Sohn des Haus-
eigentümers ein, wohnte aber nur ein
Jahr dort.»Das ist die gesetzlich vorge-
schriebene Minimalzeit, damit Eigen-
bedarf anerkannt wird. «Dann zog der
wieder aus, und nun ist dieWohnung
teuer an jemandFremdes vermietet.»
DieschleichendeVeränderungdesMie-
termilieusläss t sich auch imViertel der
Ehrengutstrasse sehen. Hier parkieren
bei unserem Besuch mehr SUV und
deuts che Premiummarken als Klein-
wagen.Während im Café Zimt an der
kl einen Kreuzung ein Kind auf einem
neuen Smartphone eines amerikani-
schen Herstellers wischt,rollt langsam
ein Porsche-Cabrio vorbei.

Auswüchsewurden verhindert


Beatrix Zurek vom Mieterverband wie
auch das Sozialamt oder Stadtpolitiker
betonen,dass ohne dieAusweisung von
Erhaltungssatzungsgebieten die Mieten
in vielen Bezirken noch viel drastischer
gestiegen wären. In zahlreichen unge-
schützten Münchner Innenstadtlagen
müssen die Bewohner mittlerweile fast
die Hälfte des Haushaltseinkommens
für die Miete ausgeben, Quadratmeter-
preise von18 bis 25 Euro sind dieRe-
gel.LeiderseinämlichdiealteFormder
Erhaltungssatzung ein eher stumpfes
Schwert gewesen, meint Zurek. Hätte
es vor zehnJahren bereits die jetzt gül-
tigen Regeln gegeben,wären viele Mie-
terverdrängungen nicht möglich gewe-
sen,findet sie.
Die nun gültigen Bestimmungen
in den Gebieten schränken allerdings
den Handlungsspielraum für Investo-
ren deutlich ein. Kritisch sieht Stephan
Kippes vom Immobilienverband IVD
Süd zudem dieTatsache, dass einAbriss
der Häuser und damit Nachverdichtung
nahezu verunmöglicht wurde. Zudem
höreervieleBefürchtungen,dasswegen
der nun verschärftenRegeln Investoren
kein Inte resse mehr anAltbauten in Er-
haltungssatzungsgebieten hätten, weil
kaum noch Möglichkeiten für dieWei-
terentwicklung der Häuser bestünden,
betonter im Gespräch.
Das Ehepaar Gutekunst hat andere
Sorgen. Sie wie auch die anderen Be-
wohner der Ehrengutstrasse18 hoffen
inständig, dass sich die Stadt als weisse
Ritterinerw eist – dass sie das Haus
dem freienWohnungsmarktentzieht.
«Das ist doch unser Zuhause», sagt Frau
Gutekunst zumAbschied.

DerMünchner Stadtratwirdentscheiden, ob er das Haus an der Ehrengutstrasse kaufen wird. Das120 Jahre alte Gebäudeliegt in einemsogenanntenErhaltungssatzungsgebiet.

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