Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

Mittwoch, 9. Oktober 2019 INTERNATIONAL 3


ANZEIGE


«Wir sind bereit»


Die Vorbereitung en für den Einmarsch der Türkei in Nordostsyrien sol len abgeschlos sen sein


VOLKERPABST, ISTANBUL


Die türkischeRegierunglässt sich von
den widersprüchlichen Signalen aus
Washington nicht beeindrucken und
hält an ihren Plänen für einen Ein-
marsch inSyrien fest.Das Verteidi-
gungsministerium erklärte in der Nacht
auf Dienstag, dass dieVorbereitungen
dafür abgeschlossen seien. DasAussen-
ministerium in Ankara veröffentlichte
eine Stellungnahme,in der es nochmals
die Gründe für einen türkischen Ein-
marsch darlegt.Ineindeutiger Anspie-
lung auf DonaldTr ump erklärteVize-
präsidentFuat Oktay zudem,dass sich
dieTürkei durch Drohungen nicht ein-
schüchtern lasse.
Der amerikanische Präsident hatte
am Montag perTweet gedroht, die tür-
kischeWirtschaft zu zerstören, falls die
türkische Armee bei der Operation
in Nordostsyrien zu weit gehen sollte.
NacheinemTelefongespräch am Sonn-
tagabend mit dem türkischen Staats-
präsidenten RecepTayyip Erdogan
hatteTr ump den Befehl erteilt, ame-
rikanischeTr uppen aus dem syrischen
Grenzgebiet abzuziehen,und damit de
facto grünes Licht für die von Ankara
langegeforderte türkische Invasion in
die kurdischkontrollierteRegion öst-
lich des Euphrats gegeben.


Flüchtlingeansiedeln


DieTürkei will eine Pufferzone entlang
ihrer südlichen Grenze schaffen, aus der
die kurdischenVolksverteidigungsein-
heiten (YPG) vertrieben werden sollen.
Ankaraunterscheidet nicht zwischen
YPGund der verbotenen Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) und betrachtet die
kurdischenTr uppen in Nordostsyrien
als Staatsfeinde.Zudem willdieTürkei
in der Pufferzone einenTeil der 3,6 Mil-
lionen syrischenFlüchtlinge imLand an-
siedeln. Selbst wenn das ganze syrische
Grenzgebiet östlich des Euphrats unter
türkischeKontrolle gebracht würde, ist
es schwer vorstellbar, dass sich dadurch
dieFlüchtlingsproblematik in derTür-
kei nachhaltig entspannen würde.Die
Umsiedlung von ein bis zwei Millionen
Menschen in das unterWasserknappheit
leidende Gebiet scheint illusorisch.
Ankarahat in den vergangenenTa -
gen zusätzlicheTr uppen in das Grenz-
gebiet verlegt.Auch das medizinische
Personal wurde laut Medienberichten
verstärkt. Zudem erklärten syrische Op-
positionelle amFreitag, dass mehr als


40 protürkischeRebellengruppen, die
derFreienSyrischen Armee angehören,
unter ein einheitliches Oberkommando
gestellt worden seien. Es ist anzuneh-
men,dass die Türkei bei einem Ein-
marsch auf die Unterstützung ihrer syri-
schenVerbündeten zurückgreifen wird.

EtappenweiserVorstoss

Am Dienstag kursierten Berichte über
erste türkische Luftangriffe im äussers-
ten NordostenSyriens. Die gewöhnlich
sehr gut informierteSyrische Beobach-
tungsstelle für Menschenrechte in Lon-
don erklärte allerdings, dass es sich
hi erbei umFalschinformationen des
Regimes vonSyriens PräsidentBashir
al-Asad handle. Bestätigt wurde aller-
dings, dass am Montag ein türkischer
Militärkonvoi beiJarablus die Grenze
überquert habe. Dieses Gebiet westlich
des Euphrats liegt in der türkischen Ein-
flusszone in Nordsyrien, als Beginnder
Operation kann das nicht gelten.

Der Leiter des Büros der Denk-
fabrik MarshallFund in Ankara, Özgür
Ünlühisarcikli, geht davon aus, dass
sich die türkische Operation zumin-
dest zu Beginn auf das Gebiet zwischen
den GrenzstädtenTelAbyad undRas
al-Ainkonzentrieren werde.Aus dieser
Regionhaben sich die amerikanischen
Beobachter zurückgezogen. Zudem
ist das Gebiet stärker arabisch besie-
deltalsandereTeile desvornehmlich
kurdisch geprägten Grenzgebiets. Laut
Ünlühisarcikli verfügt dieTürkei dort
über starke lokaleVerbündete.Ent-
sprechend dürfte derWiderstand der
Bevölkerung gegen einen türkischen
Einmarsch geringer sein.
Ob türkischeTr uppen letztlich ver-
suchen, das ganze Grenzgebiet östlich
des Euphrats unter ihreKontrolle zu
bringen oder sogar über die geplante
Pufferzone hinaus bis nachRakka oder
Deir al-Zur vorzudringen, werde sich
erst später zeigen.Dass eine zumindest
begrenzte Militäroperation aber unmit-

telbar bevorsteht, davon ist derPolit-
beobachter überzeugt.

Kritik von der Opposition

Syrien ist in derTürkei längst auch
zu einem innenpolitischenThema ge-
worden. Regierungstreue Printmedien
machten am Dienstag mit teilweise
bombastischenTitelseiten auf.«Wir
kommen» oder «Esgeht los»,laute-
ten einige Schlagzeilen.Oppositions-
parteien wie die prokurdische HDP
oderdiekemalistische CHP, die sich
nach den Erfolgen bei den Lokal-
wahlen auch aussenpolitisch profilie-
renwillund einenneuen Ansatz in der
Syrien-Politik fordert, lehnen die Inva-
sionspläne ab. Ünlühisarcikli vom Mar-
shallFund geht davonaus, dass mit
Ausnahme der HDP und ihrer An-
hänger der Grossteil der Bevölke-
rung den Beginn der Operation aus
patriotischem Pflichtgefühl unterstüt-
zenwerde.

Training vor der Invasion–die Kämpfer derFreien Syrischen Armeeunterstützen die türkische Armee. AP


Die Kurden fürchten die Türkei aus gutem Grund


Der türkische Präsident weckt in Syrien vergangen geglaubte Geister


INGAROGG, JERUSALEM


Von Henry Kissinger stammt der be-
rühmte Satz, verdeckte Operationen
sollten nicht mit Missionstätigkeit ver-
wechselt werden. Gesagt hat er ihn1975,
nachdemWashington denKurden im
Irak die Unterstützungentzogenund die
Aufständischen damit auf Gedeih und
Verderb dem irakischenRegime ausge-
liefert hatte. Es war nicht das erste Mal
und sollte nicht das letzte Mal sein, dass
die Amerikaner dieKurden im Stich
liessen. Als Saddam Hussein Ende der
achtzigerJahre Giftgas einsetzte und
Zehntausende vonKurden in Massen-
gräbern verscharrte, schauten die Ame-
rikaner (und die Europäer) nicht nur
tatenlos zu, sondern machten gegen
besseresWissen Iran dafür verantwort-
lich. Begonnen hatte der Sündenfall des
«Verrats» aus kurdischer Sicht jedoch
vielfrüher: Nach dem ErstenWeltkrieg,
als sie um einen vermeintlich verspro-
chenen eigenen Staat gebracht wurden.
DieFakten sindzwarkomplexer,
aber was zählt, ist, wie dieKurden die
Geschichte interpretieren.Das jüngste
Kapitel in dieser«Verratsgeschichte»
hat deramerikanische Präsident Donald
Tr ump geschrieben, indem er derTürkei


soetwas wie grünes Licht für einen Ein-
marsch in Nordostsyrien gab.Hierbei
dürfen die weiterreichenden Pläne, die
der türkische PräsidentRecepTayyip
Erdogan für dieRegion hat, nicht ver-
gessen werden. Erdogan will nicht nur
den«Terrorkorridor»beseitigen, wie er
das von den kurdischenVolksverteidi-
gungseinheiten (YPG)kontrollierte Ge-
biet zwischen Euphrat und irakischer
Grenze nennt. Der Öffentlichkeitmacht
er den Einmarsch mit der Ankündigung
schmackhaft, syrische Flüchtlinge aus
derTürkei zurückzuschaffen.

Kurdische Lehren ausAfrin


Dabei rühmt sich Erdogan der angeb-
lich erfolgreichen Militäroperationen im
Nordwesten vonSyrien, unter ihnen die
Vertreibung der YPG aus Afrin. Mehr
als 10 0000 Kurden, die damals vor dem
Einmarsch derTürken flohen,leben
bis heute inVertriebenenlagern nahe
Aleppo. Ihre Häuser haben mit derDul-
dung Ankaras verbündete syrische Isla-
mistengruppenkonfisziert und anVer-
triebene aus ehemaligenRebellenhoch-
burgen verteilt. Zugleich sind türkische
Tr uppen nicht in derLage oder willens,
dem Unwesen der Islamisten Einhalt zu

gebieten. Beinahe täglich werden kurdi-
sche Zivilisten entführt und nur gegen
hohe Lösegeldzahlungen wieder frei-
gelassen odergar ermordet.«Es gibt
so viele Entführungen, dass wir sie gar
nicht dokumentierenkönnen», sagt ein
Aktivist, der nicht namentlich genannt
werdenmöchte. Zudem machen die Isla-
mistenJagd auf angeblicheYPG-Unter-
stützer, werfen sie ins Gefängnis und fol-
tern sie. Die türkische Besetzung habe
zuweitverbreitetenMenschenrechts-
verletzungen geführt, heisst es in einem
BerichtderMenschenrechtsorganisa-
tion Amnesty International vomAugust.
Was Erdogan schon in Afrin nicht ge-
lingt, dürfte im Osten desLandes noch
viel schwieriger werden. Die YPG und
ihreVerbündeten haben im Kampf
gegen den IS 11 000 Kämpferinnen und
Kämpfer verloren, mehr als 20 000 wur-
den verletzt.Das sindTausende von
Familien,auf deren Loyalität die YPG
zählenkönnen und die es nicht hinneh-
men werden, dass dieKurden wieder
verlieren, was sie unter grossen Opfern
errungen haben. Schon gar nicht wer-
den sie zusehen, dass von Ankara unter-
stützte Islamisten die Herrschaft über-
nehmen, die vorJahren teilweise ge-
meinsame Sache mit dem IS machten.

Nach Schätzungen der Uno leben
in derRegion rund 758 000 Zivilisten,
unter ihnen mehrals 11 5000 Vertrie-
bene. Unter den Einheimischen gibt es
eine beträchtliche christliche Minder-
heit.Wie vieleKurden sind die Chris-
ten Nachfahren der Überlebendender
Massaker vor hundertJahren im Osma-
nischenReich.

LeidvolleVergangenheit


Jenseits der vereinfachten Geschichte
vonVerrat haben sieguten Grund,
Ankara und seiner syrischen Hilfstruppe
zutiefst zu misstrauen. Erdogan hat er-
klärt, er wolle von den YPG begangenes
Unrecht wieder zurechtrücken.
Unter denKurden wie den Chris-
ten ruft Erdogans geplante Ansiedlung
von Arabern Erinnerungen an die ethni-
schenVertreibungen derVergangenheit
wach. Noch sind die Einzelheiten über
denUmfangder türkischen Militäroffen-
sive unklar. Doch eines ist schon jetzt
klar: Nicht nur müsste sich dieTürkei auf
eine weitereAufstandsfront einstellen, in
derRegion wäreeine neue Massenflucht
programmiert.Davor warnen heute die
irakischenKurden, also diejenigen, die
Kissinger vor 45Jahrenfallenliess.

Republikaner


rebellieren


wegen Syrien


Trump übersc hreitet Schmerzgrenze


PETER WINKLER,WASHINGTON


Ein Präsident, derreflexartig seinen
Instinkten und nicht den Anleitun-
gen seiner Experten folgt, machtTele-
fongespräche mit ausländischenFüh-
rern stets zu einer Zitterpartie. Donald
Tr umps Gespräch mit dem ukrainischen
Präsidenten Selenski, in dem er Ende
Juli unverblümtWahlkampfhilfe ein-
forderte, löste die Impeachment-Unter-
suchung desRepräsentantenhauses aus.
Jenes am Sonntagabend mit dem tür-
kischen Staatschef Erdogan, das einen
Rückzug der Amerikaner ausSyrien
und denVerrat an den kurdischenVer-
bündeten zurechtfertigen schien, rief
Bestürzung hervor, nicht nurunter den
Verbündeten in derRegion, sondern
auch im Capitol inWashington.
Sogar Mitch McConnell, derrepu-
blikanische Mehrheitsführer im Senat,
kritisierte denKurs desWeissen Hau-
ses. Dies zeigte, dass die Schmerz-
grenze deutlich überschritten war.
Ohne den Präsidenten persönlich zu
nennen, meinte er, amerikanische Inter-
essen würden am besten vertreten, in-
dem Amerika Führerschaft beweise,
und nicht, indem es sich zurückziehe.
McConnell machte auch darauf auf-
merksam, dass sich derKongress be-
reits im Januar unmissverständlich
gegen einen überstürzten Abzug des
amerikanischen Militärs ausSyrien aus-
gesprochen habe.Die Bedingungen, die
zu jenerStellungnahme geführt hät-
ten, seien weiterhin gegeben,erklärte
McConnell und drohte damit offen mit
einem weiterenKongressbeschluss zum
Thema, falls dies nötig würde.
Im Gegensatz zur Ukraine-Affäre, in
der sich nur einige wenigerepublikani-
sche Dissidenten öffentlich vonTr ump
distanzieren,ist dieamerikanischeAus-
senpolitik einThema, das vielen am
Herzenliegt, auch jenen, die sonst be-
dingungslos zum Präsidenten halten.Ein
Paradebeispiel ist Senator Lindsey Gra-
ham aus South Carolina. Er hatte seine
Wandlung vom harschen Kritiker zum
energischenVerteidigerTr umps vor kur-
zem noch offen damit begründet, dass er
«relevant bleiben» wolle, weil nur dies
in derPolitik zähle. Er hatte sich of-
fenbareiniges auf seinen Einfluss auf
Tr ump in aussenpolitischen Angelegen-
heiten eingebildet undreagierte nun mit
dem Zorn des enttäuschten Liebhabers,
sprach von einem Flecken auf der Ehre
Amerikas und einer bedingungslosen
Kapitulation vor denTerroristen.
Ähnlich wie Graham argumentier-
ten auchdie Senatoren Marco Rubio,
Ben Sasse und MittRomney, die ehe-
malige Uno-Botschafterin Nikki Haley
und die Abgeordnete imRepräsentan-
tenhaus Liz Cheney.AmAbend schritt
dasWeisse Haus zur Schadensbegren-
zung und liess über einen ungenann-
ten Mitarbeiter ausrichten, das sei alles
nicht so gemeint gewesen. Es sei nurein
kleinesamerikanischesTr uppenkontin-
gent inSyrien verschoben worden, um
den Eindruck zu vermeiden, die ameri-
kanischenTr uppen hätten etwas mit der
türkischen Invasion zu tun, die Erdogan
angekündigt habe.

Wissenschaftlich fundierteAnlage-
kompetenzüber6000Aktienund
21 000Obligati onen. http://www.swiss-rock.ch

INVESTIERENSIE,


WOWISSENNICHTMIT
GLAUBENVERWECHSELT
WIRD.
Free download pdf