Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

Mittwoch, 9. Oktober 2019 FEUILLETON 35


FilmregisseurOliver Stone findet,


die Schweiz habeden USA einiges voraus SEITE 37


Tekno, vielseitiger Star des Afrobeats,


kommt für ein Konzert nachZürich SEITE 39


Und ewig spricht Methusalem


In den Medien verschwinden die Frauen im Laufe der Jahre leise, während die Männer ewig weiterlabern.Von Viola Schenz


Der Firmenpatriarch, der nicht loslas-
sen kann, ist ein beliebtes Motiv in hei-
terenVorabend-Fernsehserien. Um die
75,immer noch mit Dienstwagen,sitzt er
als Erster in der Morgenkonferenz und
nervt die eigentlich amtierenden Mana-
ger mit seiner«Weil wir das immer so
gemacht haben»-Leier.Was ihn antreibt,
ist die Gewissheit, es alsVeteran besser
zu wissen als die Emporkömmlinge und
unersetzlich zu sein.Ausserdem hat er
daheim wenig zu tun oder zu sagen.
Das Pikante an dieserFigur: Die
Medien spielen sich darin selber, der
präsenile Besserkönner ist dort ein ver-
breitetes Phänomen.Franz Josef Wag-
ner etwa,Weltdeuter beider «Bild»-Zei-
tung(«PostvonWagner»),hatmit76Jah-
ren gerade seinen «Chefkolumnisten»-
Vertrag verlängert. Karikaturist Dieter
Hanitzsch startete imJuni 20 18 im bibli-
schenAltervon85JahrenbeiderMünch-
ner «Abendzeitung».Was noch nichts
ist gegenWolf Schneider, Journalist und
Grosskritiker,der auch mit 94 unermüd-
lich mahnt und jüngst seinx-tes gesell-
schaftskritisches Buch veröffentlichte
(«Denkt endlich an die Enkel! Eine
letzteWarnung, bevor alles zu spät ist»).
In Zeitungsverlagen zwischen Mün-
chen und Hamburg gleicht so manche
Pensionierung einer Drehtür. Kaum
war derKollege draussen, ist er schon
wied er drinnen: Als «Sonderkommen-
tator»,«Autor für besondereAufga-
ben» oder «Editor-at-Large» finden
altgediente Redaktoren auf kurzem
Dienstweg eineWeiterbeschäftigung. So
auch beimFernsehen:Jan Hofer, Nach-
richtensprecher der ARD, 67 oder 69
Jahre alt – sein Geburtsjahr und -name
sind geheimnisumwoben –, verliest wei-
ter wacker dasWichtigste vomTage.
Da machtes nichts, dass er im vergan-


genen März live vor der Kamera einen
Schwächeanfall erlitt oder dieserTage
mit Kollege Claus-ErichBoetzkes über
seineVermögensverhältnisseplauderte,
versehentlich live und bei offenem Mi-
krofon,so dass die Zuschauer mithören
konnten. Er habe eine Neubewertung
seiner Immobilien bekommen, ver-
riet Hofer. «Und?Da arbeitest du hier
noch,Alter – warum?», fragte Boetzkes.
«Weiss ich auch nicht», meinte Hofer.

Plötzlich hinter derKamera


Ja gut, möchte man sagen, warum nicht?
Wenn sie eskönnen,wenn sie bei Lesern
und Zuschauern beliebt sind, sollen sie
halt weitermachen. Man kann einwen-
den, dass nach zahlreichen Krisen Me-
dienjobs inzwischenrar sind und der
Fairness halberJüngereihre Chance
bekommen sollten. Oder dass Ältere
eventuell nicht mehr den Blick haben
für zeitgemässeThemen. Bemerkens-
wert ist jedenfalls, dass es sich beim hin-
ausgeschobenenRuhestandfast immer
um Männer handelt. IhreKolleginnen
verschwinden diskret,bekommen plötz-
lich Jobs hinter der Kamera zugewiesen.
Luzia Braun etwa, die 2011 als Mode-
ratorin desKulturmagazins «Aspekte»
(ZDF)abtrat und mit 57 stellvertre-
tendeLeiterin wurde.Ähnlich erging es
der Moderatorin Maria vonWelser beim
ZDF-Gesellschaftsmagazin «ML Mona
Lisa». So gesehen ziehen sich man-
che dann doch lieber freiwillig zurück:
Monica Lierhaus (Sportschau ARD,
dann Sky) kündigte vergangenenJuni
mit 49 (!) an, «mit 50Jahren nicht mehr
vor der Kamera» zu stehen.
Nach einemges ellschaftlichen Ge-
setz dürfen betagte Männer nocheinmal
aufdrehen,Frauen hingegen haben bitte

schön abzutreten.Gerade dasFernsehen
als visuelles Medium ist da gnadenlos.
Mitnichtenaber sindFrauen alleine Op-
fer böser männlicher Entscheidungsträ-
ger. Im Gegenteil – der Umgang mitei-
nanderkann sogar brutaler sein.Kolle-
ginnen habenKonkurrentinnen gern los,
Zuschauerinnen lästern in Zeiten hoch-
auflösender Bildschirme erstrecht er-
barmungslos über Geschlechtsgenos-
sinnen: «Ist da eine neueFalte?» Und
wenn dakeine neueFalte ist: «Hat sie
gebotoxt?»Weibliche Solidarität ist und
bleibt eine selteneTugend.
Während Frauen also leise ver-
schwinden, geben sich Männer in den
unendlichenWeiten ihres Lebensabends
einer Art betreutemWeiterwursteln
hin.Inden USA, wo es arbeitsrecht-
lich keine berufliche Altersgrenze nach
oben geben darf, wirken mancheLate-
Night-Talkshows wie Methusalem-Auf-
tritte: Die ehemaligen Granden führen
selbstbewusst ihre Schreibtischsitzungen
fort. Larry King (bis 2010 «Larry King
Live», CNN) bestreitet selbst als 85-Jäh-
riger noch eigenePolit-Talkshows (in-
zwischen auf Hulu oderRT Ame rica).
David Letterman(bis 2015 «Late Night
with David Letterman», NBC) ist mit 72
auf Netflix zu sehen («My Next Guest
Needs No Introduction withDavid Let-
terman»).Jay Leno, 69 (bis 2014 «The
Tonight Show withJay Leno», NBC),
macht mit «Jay Leno’s Garage» wei-
ter,die fünfte Staffel starteteEnde Au-
gust. Man möchte ihnen zurufen:Leute,
habt ihr nichts Besseres zu tun? Spielt
mit den Urenkeln, ziehteuch VHS-Kas-
setten mit euren Show-Highlightsrein,
macht all die Dinge, von denen ihr auf
eurer Bühne immer schwärmt!
Nur wenigen Alphamännchen ge-
lingt derrechtzeitige, also elegante Ab-

schied.Jon Stewart, der1999 mit seiner
satirischen Nachrichtensendung«The
Daily Show» (Comedy Central) die
politischeTalkshow genial neu erfand,
machte 2015 mit nur 52Jahren und auf
dem Höhepunkt seiner Karriere Schluss.
Ausgerechnet Stewart, dem man gerne
nochJahrhunderte zugeschaut hätte.
Er werde fortan wochentags mit seiner
Familie zu Abend essen, kündigte er
seinen Abschied an, mit kleinerTräne
im Augenwinkel.Aus mehreren Quel-
len habe er gehört, dass dies ganz ent-
zückende Menschen seien.
GüntherJauch, 63, ewiger Gastgeber
von «Wer wirdMillionär?» (RTL),ver-
sprach dieserTage zum 20-Jahr-Jubi-
läum der Quizsendung in einem «Bild»-
Interview über seine berufliche Zukunft:
«Ich weiss, dass dieFriedhöfe voll von
unersetzlichen Fernsehmoderatoren
sind, und werde mich bemühen, den
richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen.»

Was tun?


Insofern stochert der neue Kinofilm
«Late Night» in einer offenen gesell-
schaftlichen Wunde.Die grandiose
EmmaThompson spielt eine erfahrene,
zickige Moderatorin, die weder mit
ihremjungenTeamnochmitjungenThe-
men kann.Als die Einschaltquote sinkt,
soll sieersetzt werden – durch einen jün-
geren Comedian.Die Botschaftist klar:
Selbstverständlich würde einem Mann
so was nicht widerfahren. «Ageism» –
ein brisantesThema, das der#MeToo-
Kreuzzug übersehenhat.Eigentlich sind
dieUSAjadamitbeschäftigt,Benachtei-
li gungen wegen Hautfarbe, Geschlecht,
Religion, Ethnie oder Sexualität zu ver-
teufeln; nur die Altersdiskriminierungs-
bastion ist bisher nicht geschleift.

«DasAlteristdasEinzige,womitdich
Leute noch diskriminieren und Scheisse
reden können», sagte diePop-Sänge-
rin Madonna vor vierJahren, mit 53,in
einem Interview mit demMagazin «Rol-
ling Stone». Inzwischen wird emsig an
dem Problem gearbeitet, zuvorderstim
superprogressiven Kalifornien.Weil in
Hollywood Schauspielerinnen klagen,
dass Casting-Agenturen und Produk-
tionsfirmensiefürzualthaltenundihnen
schon mit Ende dreissigFilmrollen ver-
wehren, müssen in Kalifornien seit 20 17
per GesetzFilmwebsites und -daten-
banken auf Anfrage Altersangaben zu
Schauspielerinnen entfernen, ebenso zu
Schauspielern–dennsonstwärenjawie-
derum die Männer diskriminiert.
Doch hier liegt die Crux:Jugend-
und Altersverherrlichung stehen sich
gendermässig unvereinbar gegenüber.
Um Geschlechtergerechtigkeit zu er-
reichen, müsste man denJugendwahn,
der beiFrauen gerade zumTabu erklärt
wird,gegen dasPatriarchat einsetzen. Im
Gegenzug müssten die Männer vom Al-
tersprivileg anFrauen abgeben. Einen
solchen Spagat wird die aufgeklärteste
Westküstenelite nicht hinbekommen.
Was also tun? Gar nichts. Das Pr o-
blem löst sich von alleine, demografisch.
In den alternden westlichen Gesellschaf-
ten wird künftig eine Seniorenmehrheit
den Ton angeben; sie wird automatisch
nach alternden Schauspielern, Modera-
toren, Sprechern verlangen – und Schau-
spielerinnen, Moderatorinnen, Spreche-
rinnen. Denn der Mensch möchte sein


  • Achtung, Wortspiel – Alter Ego vor
    sich haben,in Filmen,in d er Werbung,
    in den Nachrichten. Und laut denVer-
    einten Nationen sind die am schnellsten
    wachsende Bevölkerungsgruppe welt-
    weit – na?– ältereFrauen.


Einer unter vielen betagten Männern vor der Kamera:David Letterman talkt auchmit 72 Jahren munterweiter. BRIAN SNYDER / REUTERS

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