Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

36 FEUILLETON Mittwoch, 9. Oktober 2019


Da prügeln sie die schöne Schweiz zu Brei

Rossinis «Guillaume Tell» in der Opéra de Lyon ist prägnant inszeniert und musikalisch auf höchstem Niveau


ELEONORE BÜNING,LYON


Hey, hier kommt Alex! Er ist wieder
mit seinen Droogs unterwegs, alle ganz
in Weiss, bewaffnet mit schwarzen Bow-
lern, bekifft vonRossini-Klängen. Aber
diesmal erschlägt dieRasselbande des
Grauens nicht, wie in StanleyKubricks
Kultfilm«Clockwork Orange», wahl-
und sinnlos alte Männer und junge
Frauen. An diesem Premi erenabend,
im Opernhaus zu Lyon, prügeln sie
mit ihrenBaseballschlägern die schöne
Schweiz zu Brei. Und mit ihr zerman-
schen sie die alte Legende vom Echten,
Wahren, Guten.
Es ist diesdas Werk des noch leidlich
jungenRegisseursTobias Kratzer, der
schon öfters aufgefallen war mitradi-
kalen Lösungen, aber erst neuerdings,
nach seiner phantastisch doppelbödi-
gen Bayreuther «Tannhäuser»-Insze-
nierung, aufstieg zu den Superstars am
Regietheaterhimmel. Als Erstes führt
er ein pulitzerpreisverdächtigesFoto
vom Matterhorn vor. Riesengross, pur,
schwarz-weiss.


Weder Tracht noch Kuh


Dieser charakteristisch gekerbte Gip-
fel ist bekannt als ein Sinnbild für die
Reinheit der Natur oder gar die Nähe
Gottes, so wie derRütlischwur das ide-
elle Tafelsilber der Eidgenossenschaft
repräsentiert. Mehr noch: Der Schwur
st eht, nebendem Sturm auf dieBas-
tille, als Gründungsmythos für das
Menschenrecht aufFreiheit, den Bür-
germut der Demokraten, überall auf
der Welt. So hatte Schiller es sich aus-
gemalt, das «einzigVolk von Brüdern»,
das denTyrannen verjagt.So vertonte
es GioachinoRossini in dieser seiner
prachtvollen letzten Oper, die 1829 in
Paris herauskam und ein Erfolgsstück
wurde, mit ihrenRanz desVaches und
der dreifachenBauernhochzeit, Kampf
und Gebet, grossen Chortableaux, inni-
gen Liebesschwüren und gleich meh-
rere nGewittermusiken, weil die Natur
den Rechtschaffenen gerne auch zwei-
mal zu Hilfe eilt.
Allein die vierteilige«Tell» -Ouver-
türe mit dem federnden Marsch in der
Mitte und dem sentimentalen Sehn-
suchtsquintett der geteiltenVioloncelli
zu Beginn ist einWunschkonzert-Hit
erster Güte.Weil es inLyon jedoch nach
KratzersKopf geht,kommt so ziemlich
alles, was als Lokalkolorit in Kitschver-
dacht geratenkönnte, in der Neuinsze-
nierung nicht vor. KeineAlm,kein Dorf,
wederTracht nochKuh. Auch keine


Spur vom «SombreForêt», der so wun-
derkoloraturenreich besungen wird von
der schönen, mildenFürstin Mathilde
(Jane Archibald), die um der Liebe zu
einem blitzblank strahlenden jungen
Tenor-Schweizer willen (John Osborn)
doch tatsächlich am Ende die politi-
schen Seiten wechselt.
Nur den Apfel lässt Kratzer Apfel
sein. Er ist einer der wenigenFarb-
flecken im Schwarz-Weiss dieser ab-
strakten, wie ein Lehrstück auf dem
Reissbrett der Ideen platziertenKunst-
Schweiz. Und natürlich der tapfere Sta-
tisten-Knabe, von dessenKöpfchen der
Apfel im dritten Akt heruntergeschos-
sen werden muss.
Ein einsames Cello-Mädchen sägt zu
Beginn der Oper still vor sich hin, vor

dem Bergmassiv sitzend, während ein
jungesPaar, am anderen Ende der leer-
gefegten Bühne,langsam und fliessend
dazu denPas-de-deux derFrischverlieb-
ten tanzt, dieses unsterbliche, immer-
gleiche «Komm her, geh weg»-Spiel aus
Hebung, Drehung, Relevés.
Und schon entsteht einer dieser gros-
sen magischen Opernaugenblicke: die
Statistin mit dem Cello, dazu die von
DanieleRustioni, dem Chef desLyoner
Opernorchesters, mit glühender Inten-
sität ausgekostete Eröffnungsmelodie
und die von Choreograf DemisVolpi
auf sparsame Bewegungen verpflich-
teten Tänzer: Man weiss nicht einmal
genau zu sagen, wie und warum da die
Zeit stehen bleibt.Und dann,wie gesagt,
kommt Alex.

Stürmt mitTaktwechsel,Tremolo und
seinenHooligansdieBühne,sieverjagen
di eTänzer, schlagen das Cellokurz und
klein.Voilà,das Spiel hat begonnen.Die
brutaleGang,geborgtausdemKinofilm,
der sich wiederum beiRossini bedient
hatte , ist dieVorhut desLandvogts Her-
mann Gessler, der in der Oper Gesler
heisst,mit nur einem s;von dem sonoren
BassistenJean Teitgen mit drohenden
Gesten ausgestattet, tritt er freilich erst
spät selbst in Erscheinung. Zuerst ist die
Schweizer Chorbevölkerung noch weit-
gehend unter sich, ihrerseits inraben-
schwarzeKonzertkleidung gewandet.
Statt desWettbewerbs der Bogen-
schützen gibt es einen Musikwettbe-
werb. Statt Schwerter zu Pflugscharen
umzubauen,verwandelt der Chor spä-

ter seine Musikinstrumente in Waf-
fen, aus Klarinetten werden Schwer-
ter, Geigen verwandeln sich inFlitze-
bögen,Fagotte in Gewehre. Auch der
namenlose kleine Statist, derTells Sohn
mimt, erstWunderkind-Geiger,opfert
sein Mini-Instrument der guten Sache.
Seine grosse Schwester (Jennifer Cour-
cier) singt etwas schütter und zart die
entsprechende Chorknabenpartie, Papa
Tell (zuverlässig:Bariton NicolaAlaimo)
applaudiert stolz,und die glücklicheTell-
gattin Hedwige (Enkelejda Shkoza) ver-

teilt fürsorglich die Suppe, wozu der gut-
bürgerliche Mittagstisch ebensorasch
herein- wie hinausgetragen wird.Immer
dann, wenn sich von fern dasJagdhorn
einmischt in die falsche Idylle, laufen
schw arzeTränenüber diePanorama-
fototapete. Der Berg weint.

Köstlicher Klang, bittere Essenz


KratzerhatdenPlotkurzerhandaufeine
bittere Essenzreduziert, die da lautet:
GewaltgebiertGewalt.DieBühne(Rai-
ner Sellmaier) bleibt weitgehend leer,
das Licht (Reinhard Traub) unbarm-
herzig hell, die weisse Spielfläche, um-
stelltvonschwarzenStühlen,wirdbelebt
immernurvondenen,dieetwaszusingen
und zu sagen haben, nach altem Brecht-
Rezept.Auf diesem Hintergrund kann
sich die Musik wie von selbst entfalten,
fast wie in einerkonzertantenAuffüh-
rung.Herrlich der Schmelzder Duette
und Terzette, überwältigend schön und
erschreckend die bewegten Chöre, eine
Wucht die finalen Ensembles.
Immer dichter strömen die schwar-
zen Farbfluten, die das Matterhorn
nach und nach übermalen. Am Ende,
nach der Schlacht, als derTyrann end-
lich erschlagen ist,erei gnet sich der Be-
freiungsjubel vor einerrabenschwarzen
Wand. Und der kleineTellensohn steht
vom Mittagstisch auf, um sich bei einem
der toten Droogs den Bowler-Hut zu
holen:Fortsetzung folgt.

Vordem betont kargenBühnenbild kommtRossinis Musik in allen Nuancenzur Geltung. BERTRAND STOFLETH


So klingt Kraftwerk unplugged


Das Instrumental-Ensemble Zeitkratzer ze igt, wie die Düssel dorfer Elektropop -Band in ihren Anfängen tönte


CHRISTOPH WAGNER


Das experimentelle Musikensemble
Zeitkratzer schreckt vorkeiner Kontro-
verse zurück. Seit die BerlinerForma-
tion 1997 erstmals auf den europäischen
Konzertbühnen auftrat, hat sie Zuhörer
begeistert,aber auch aus derFassung ge-
bracht.Kompositionen vonJohn Cage,
Karlheinz Stockhausen und Arnold
Schönberg gehören ebenso zumReper-
toire wie Noise-Musik, freie Improvi-
sationoder Volksmusik. Der spektaku-
lärste Coup gelang der Gruppe 2004 mit
der Wiederaufführung von LouReeds
«Metal Machine Music» – zusammen
mit dem Meister himself.
Jetzt hat Zeitkratzer die ersten bei-
den Alben der Gruppe Kraftwerk von
Anfang der1970erJahre komplett in
zwei Neueinspielungenreko nstruiert.
Musik, die die spätere Elektropop-
Band Kraftwerk lieber vergessen ma-
chen würde.
Bevor sie 1974 mit dem Album
«Autobahn» zum Elektropop fand,
war die Gruppe nämlich eine von einer
Handvoll deutschen Underground-
Bands (neben Can, Faust oderTan-


gerine Dream), die dasAufnah me-
studio als Klanglabor nutzten.Hier
wurde eine Musik kreiert,die spon-
tan, meistens atonal, leicht chaotisch
und nicht selten ziemlich durchgeknallt
klang.Weil das nicht zum späteren
Image ihres maschinenhaftenRobo-
ter-Pop passte, hat sich dieDüsseldor-
fer Gruppe in den letztenJahren be-
müht, dieses Kapitel aus ihrer Biogra-
fie zu tilgen.

Ton fürTon


Die musikalische Geschichtsklitterung
erregte prompt dieAufmerksamkeit
von Zeitkratzer. Damit das akustische
Ensemble, das aus virtuosen Instrumen-
talisten besteht,dieTitel der ersten zwei
Kraftwerk-AlbenTonfür Tonnachspie-
len konnte, mussten die Stücke zuerst
den Langspielplatten abgelauscht und
minuziös auf Notenpapier übertragen
werden. «Da gibt es eine Nummer mit
demTitel ‹Atem›. Sie besteht haupt-
sächlich aus Atemgeräuschen, die nicht
einmalgross gefiltert sind»,erklärt der
BandleaderReinholdFriedl. «Dieses
Ein- undAusatmen haben wir transkri-

biert in all seinen Klang- und Geräusch-
schattierungen. Unser ganzes Ensemble
wird dabei zu einem einzigen riesigen
Blasebalg.»
Die Musik von Kraftwerk aus der
Anfangsphase atmet den Geist der frü-
hen Krautrock-Jahre, ist zudem inspi-
riert von denTonbandbasteleien der
Musique concrète. Bereits gibt es auch
die elektronischen Sounds, die später
do minierten. Die ersten Plattenwur-
den vom legendären Studio-Zauberer
Conny Plank produziert, dem vermut-
lich ein massgeblichesVerdienst an den
Aufnahmen gebührt.
«Es gibt bei diesen Stücken, etwa in
‹Ruckzuck›,schon elektronische Edi-
ting-Passagen», erklärtFriedl. DerTitel
«Ruckzuck»avancierte1970 zu einem
kleinen Underground-Hit, der ins Ohr
ging und Kraftwerk ersteAufmerksam-
keit bescherte. DerReduktionismus
und dieRepetition lassen bereits diera-
dikale Einfachheit und die motorischen
Beats erahnen,die Kraftwerkspäter be-
rühmt machten.
Was halten die Kraftwerk-Musiker
vom Zeitkratzer-Reenactment? «Wir
wollten mit Kraftwerk-BossRalf Hüt-

terVerbindung aufnehmen.Doch gab es
keinerleiReaktion von seiner Seite», er-
zähltFriedl. «Wir haben dann versucht,
die Musik so originalgetreu wie möglich
einzuspielen, weil wir wissen, dass Hüt-
ter schnell die Anwälte bemüht. Es ist
nun nicht anders als bei Beethoven.Nur
interpretieren wir in diesemFall Kom-
positionen von Kraftwerk.»

Akustischstattelektronisch


Die präziseReproduktion der beiden
Alben warkein le ichtes Unterfangen für
ein akustisches Ensemble. Doch in der
Herausforderung lag auch einReiz. Die
elektronischen Sounds wurden in akus-
tische Klänge übersetzt,wobeiFriedl die
Synthesizer-Parts beispielsweise auf dem
Harmonium spielte. «Wahrscheinlich
handelt es sich um Sounds, bei denen
auf dem Knopf desSynthesizers tatsäch-
lich ‹Harmonium› stand», so derBand-
leader. «Auch die Echo-Effekte machen
wir von Hand. Ein Instrument spielt
dem anderen hinterher,das klingt wie
ein Delay.»Trotz der ungeheuren Präzi-
sion, mit der Zeitkratzer arbeitet, bleibt
immer eine Differenz zwischenOrigi-

nal undKopie,die wie einerätselhafte
Verfremdung wirkt.Sie verleiht derAuf-
nahme eine mysteriöse Qualität, die sie
weit über einen blossen «tribute act»
hinaushebt.
Das Publikum ist gespalten. Manche
Zuhörer sind vom Kraftwerk-Programm
begeistert, andere wirken irritiert bis
aufgebracht.Was soll das, scheint sich so
mancher hartgesotteneFan zeitgenössi-
scher E-Musik zu fragen. Doch Zeitkrat-
zer erlegt sichkeine Zurückhaltung auf
ausAngst vor Missbilligung.Die Gruppe
will auch künftig über denTellerrand
schauen, was Musikstile angeht, wobei
klar ist, dass man sich damit angreifbar
macht.«Wir haben bereits in den neun-
zigerJahren Neue Musik mit Improvi-
sationverbunden und mit Noise-Musi-
kern zusammengearbeitet, was damals
ungewöhnlich war», sagt Friedl.«Und
wir wollen weiterhin ohne Scheuklap-
pen undTabus diejenige Musik machen,
die unsreizt.»

Zeitkratzer performs Songs from Kraftwerk and
Kraftwerk 2 (2017, Zeitkratzer Productions). –
Zeitkratzer performs Songs from Kraftwerk and
Kraftwerk 2 (2019, Zeit kratzer Prod uctions).

Weil es nach dem Kopf
von RegisseurTobias
Kratzer geht, kommt so
ziemlich alles, was in
Kitschverdacht geraten
könnte, nicht vor.
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