Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

Mittwoch, 9. Oktober 2019 FEUILLETON 39


Nichts ist so ansteckend wie Afrobeats

Nigeria nimmt eineSchlüsselrolle inder internationalen Pop-Szene ein.Tekno ist einer ihrer grösstenStars –nun kommt er nach Zürich


ADRIAN SCHRÄDER


Dass man zu wildfremder Musik tanzt,
istkeine Selbstverständlichkeit. Spielt
ein DJjedoch neuePop-Stückeaus
Nigeria, füllt er denDancefloor im Nu.
Schleichend hat sich Afrobeats, wie das
Genre inReferenz an den verstorbenen
PionierFelaKuti genannt wird, global
zu einer festen Grösse entwickelt. Der
nigerianische Einfluss ist aus der gegen-
wärtigenPop-Musik nicht mehr weg-
zudenken. UndLagos, die zweitgrösste
Stadt Afrikas, hat sich zur Metropole des
Worldbeat aufgeschwungen.
Doch warum bloss?Was macht den
nigerianischen Soundso speziell? Es ist
urbanePop-Musik, die mit nichts hinter
dem Berghält.Daistder R’ n’B-Schmelz,
da sind die künstlich überzeichneten
Stimmen, die gummigen Klänge des
Synthesizers, da sind dieTexte, die oft
nicht über ein paar Anmachfloskeln hin-
ausgehen. Und doch üben viele Afro-
beat-Tracks einen unwiderstehlichen
Sog aus.Dank den ineinanderfliessen-
den Rhythmen, dank derKombination
allerElemente, dank der fröhlichenUn-
verfrorenheit.


Kurz vor demDurchbruch


«Die Musik ist in Nigeria der Schmier-
stoff für jede Form von Festivität.
Darum sind die Stücke sehr rhythmus-
intensiv, sehr schnell, sehr fröhlich», sagt
die Tänzerin und SängerinKorra Obidi,
die mit ihren Choreografien auf Insta-
gram täglich mehr als 20 0000 Follower
unterhält.Auch Städte wie Nairobi in
Kenya,Accra in Ghana oderDurban in
Südafrika haben sehr lebhafte Musik-
szenen, auch dort wird hochaktuelle
Tanzmusik produziert. Aber nirgends
werden derzeit so viele Stars geboren
wie in der Hauptstadt Nigerias. In den
siebzigerJahren kreierte hierFelaKuti
mit Afrobeat einen eigenen Musikstil.
Mit kultischenPartys inKutis eigenem
Klub, dem Shrine, wurden Stücke zele-
briert, die niemals enden wollten.
Fela Kuti hatte mehrere musikalische
Söhne. Sein Erbe wird unterdessen aber
auch von einer jüngeren Generation ge-
pflegt und weiterentwickelt zu unter-
schiedlichen Afrobeats. Die Namen der
Protagonisten lautenWizkid,Davido,
D’Banj,Tiwa Savage oderTekno. Alle-
samt Nigerianer, stehen sie kurz vor
dem grossenDurchbruch. «Jeder von
ihnen hat das Zeug zum internationa-
len Superstar», ist der LondonerRadio-
moderatorAdesope Olajide überzeugt.
Schon baldkönnten nigerianischePost-
erboys von denWänden europäischer
Kinderzimmer lachen.
Die Szene entstand bereits in den
neunzigerJahren. «Damals fingen die
jungen Musiker damit an, ihreForm von
Hip-Hop zu kreieren. Zuerst waren das


Adaptionen: Man nahm einen belieb-
ten amerikanischen Hip-Hop-Beat und
rappte in afrikanischem Pidgin-Slang
darüber», erklärt derRadiomoderator
Olajide.Nach ein paarJahren verfügten
die Musiker über genügend Selbstver-
trauen, um eine eigene Identität zu ent-
wickeln und diereicheMusiktradition
Westafrikas in ihreTracks einfliessen zu
lassen.Durch die Brücke nach London


  • eine der wichtigsten «nigerianischen
    Städte»–gewanndie Szene nach der
    Jahrtausendwende an Professionalität,
    Aktualität undResonanz.
    WichtigeVorarbeit leistetenD’Banj
    und sein Produzent undFörderer Don
    Jazzy; beide sind schon seit demJahr-
    tausendwechsel aktiv. Sie standen so-
    gar eine Zeitlang bei KanyeWest unter
    Vertrag. D’Banjs Song«OliverTwist» er-


reichte 2012 die Spitze der englischen
Charts.Seither stehtauch dieVerbin-
dung zur amerikanischen Musikindus-
trie.Wizkidkollaborierte für die Stücke
«OneDance» und «Come Closer» mit
Drake, Davido mit Chris Brown, Burna
Boy mitFuture.

Partys ohne Schlägerei


Der nigerianischePop bietet heute Pul-
ver für die Klubs rund um den Globus.
Zum Beispiel in Berlin, wo Aziz Sarr
(alias MistaWallizz), ein Deutscher mit
senegalesischenWurzeln,seitJahren
Afrobeats-Partys ausrichtet.Daertönt
alles, was unter dem breitenDach des
Afrobeats gedeiht: vonR’ n’ Büber Afro-
house bis Coupé Décalé, von Sounds aus
Ghana bis Beats aus Südafrika.

SeinePartyreihe hat Aziz Sarr ver-
gangenesJahr auch nachAfrika expor-
tiert, zurückan ihren Ursprung. Im Afro-
beatsregieren Hedonismus und Optimis-
mus: «Ichkennekeinen Afrobeats-Song,
in dem es darum geht, jemanden abzu-
knallen», sagt der 38-Jährige. «Es geht
eigentlich immer umsTanzen, um Anzie-
hung, ums Kennenlernen, umFrauen, um
Spass. Das sieht man auch an denPartys.
In neunJahren alsVeranstalter hatten
wir noch nie eine Schlägerei. Es istkein
Sound, der aggressiv macht.»
Das gilt auch für den 26-jährigen
Augustine MilesKelechi, der ursprüng-
lich ausBauchi stammt, der Haupt-
stadt des gleichnamigen Gliedstaates.
Er ist einerderHauptakteure der letz-
tenJahre – sowohl unter seinemKünst-
lernamenTekno als auch als Produzent

undTexter. Mit «If» schrieb er fürDa-
vidoeinen der grössten Hits. In den letz-
ten fünf Jahren warer überall präsent,
bis er im September 20 18 bei einem
Auftritt in Ghana seine Stimme ver-
lor. Die überreizten Stimmbänder und
der übersäuerte Magen setzen ihn meh-
rereMonateausser Gefecht. Er soll
Hunderttausende von Dollarsfür Arzt-
besuche ausgegeben und sich schliess-
lich einer Operation unterzogen haben.
Jetzt attackiert er wieder an allen musi-
kalischenFronten.
Sein Markenzeichen: ein kantigerPuls
mittlerenTempos mit nervös tippeln-
denKeyboardsounds, der mit entspann-
ten Gesangslinienkontrastiert.R’ n’ Bauf
zwei Ebenen. Seine Songs haben kurze
Titel wie «Pana», «Go» – oder «Better»,
seine aktuelle Single. Jüngst warTekno
auch im «LionKing»-Soundtrack zu
hören, wo er auf Einladung vonPop-
Queen Beyoncé gemeinsam mit Lord
Africana, Mr Eazi undYemi Alade eine
galoppierende Afrohouse-Nummer gab.
Auch das macht ihn zum Anwärter auf
den internationalenDurchbruch.

Ein Macho-Geschäft


Die Chancen, dass auch eineFrau die-
sen Sprung schafft, sindderzeit hingegen
gering. «Es gibt viele Sängerinnen», sagt
derRadiomacherAdesope. «Aber die
meisten spielen leider eine untergeord-
nete Rolle.» Das nigerianischePop-
Business sei eben eine brutale Industrie,
ein Macho-Geschäft, sagt die Tänzerin
Korra Obidi, die selber jahrelang ver-
sucht hat,in ihrem Heimatland als Sän-
gerin durchzustarten. «Aber wenn man
es dann einmal geschafft hat, dann hat
man es geschafft. Nigerianer sind loyal.
Und sie lieben gute Musik.»
Für ihren internationalen Erfolg
haben die nigerianischen Musiker eine
simple Erklärung: «Alleskommtirgend-
wann zurück zum Ursprung»,lässt sich
Burna Boy verlauten, der Star der
Stunde. Seine Musik bezeichnet er als
Afrofusion. «Ich belege meine Pizza
mit allem Möglichen,aber derTeig sind
Afrobeats.» Diesen Sommer beschwerte
sich der selbstbewusste Pizzaiolo laut-
hals darüber, dass er seinen Namen auf
dem Plakat des prestigeträchtigen US-
Festivals Coachella nichthabe lesen
können. Er verstehe nicht, wieso andere
Namen grösser gedruckt seien.
Es ist auch dieseForm von Selbst-
vertrauen, die den Sound vonLagos ins
internationale Bewusstsein gedrückt
hat. Afrobeats seien «unstoppable», fin-
det deshalbPartyveranstalter Sarr. «Das
istkeinTr end. Überall, wo Afrikaner zu
Hause sind, ist diese Musik zu Hause.
Und alle anderen werden angesteckt.»

Konz ert von Tekno: Zürich, Escherwyss,
12.Oktober.

Königsweg


zu «Ulysses»


Zürcher James-Joyce-Stiftung
lanciert neueLesegruppen

zz.· Ja mesJoyce’ «Ulysses» gilt als schwie-
rigerRoman.Das ist zwar nicht rundweg
falsch, doch höchstens die halbeWahr-
heit.Das volle Lesevergnügen eröffnet
sich insbesonderein der gemeinsamen
Lektüre. Demnächst starten in der Zür-
cherJamesJoyce Stiftung (ZJJS) gleich
zwei neue Ulysses-Lesegruppen unter
der Leitung vonFritz Senn. EinzigeVor-
aussetzung sind Neugier und Englisch-
kenntnisse, sowie (nach einer Schnup-
perphase) dieJa hresmitgliedschaft im
Freundeskreis der ZJJS. Die erste Lese-
gruppe trifft sich ab 24. Oktober, jeweils
donnerstags16.30-18.00, die zweite ab19.
November, jeweils dienstags17.30-19.00,
in denRäumlichkeiten der Stiftung an
der Augustinergasse 9 (im Museum
Strauhof,2.Stock). Bitte umVoranmel-
dung an 044 / 211 83 01 oder info@joyce-
foundation.ch.

Die Strasse führt ins Nirgendwo


Israels Irrwege willAbraham B.Yehoshua inseinemneuen Roman aufzeigen –und verläuft sichdabei selbst


STEFANASABIN


Vor dieserAuskunft hat jeder Angst:
dass hinter der zunehmendenVergess-
lichkeit doch eine ernste Störung steckt.
Und tatsächlich – als Zvi, die Hauptfigur
im neuenRoman des israelischen Alt-
meisters AbrahamB.Yehoshua, einen
Neurologen zuRate zieht, erfährt er:
Die Beschwerden sind «nicht vollkom-
men gegenstandslos. Es hat sich tatsäch-
lich auf einem derFrontallappen eine
Atrophie gefunden, die für eine leichte
Neurodegeneration spricht.»Tr otz der
rücksichtsvoll verklausuliertenFormu-
lierung versteht Zvi, dass ihm der Arzt
den Beginn einer Demenz ankündigt.


Moralische Knacknuss


Zvi ist Ingenieur,war jahrzehntelang
imBauministerium für die Planung von
Strassen,Tunnels und Brücken verant-


wortlich; dasDasein alsRentner, das
Einkaufen und das Abholen der Enkel
von der Schulefindet er nicht wirklich
befriedigend. Sokommtdie Empfeh-
lungdes Neurologen, geistig aktiv zu
bleiben, gerade zur richtigen Zeit. Denn
bei einemFest im MinisteriumlerntZvi
seinen jungen Amtsnachfolgerkennen,
und als dieser ihm von einem schwieri-
gen Projekt berichtet, bietet er sich ihm
als unbezahlter Hilfsarbeiter an.Bei
dem Projekt handelt es sich um denBau
einer geheimen Strasse in derWüste für
dasVerteidigungsministerium.
Mehrmalsreisen also der junge Inge-
nieur und sein «unbezahlter Hilfsarbei-
ter» in die israelischeWüste, besichtigen
die Stelle,an der die Strasse gebaut wer-
den soll, und stellen fest, dass man dafür
einen Hügelabtragen oder einenTunnel
durch diesen Hügel bauen müsste. Beide
Varianten haben nicht nur eine bautech-
nische, sondern auch eine politische und

schliesslich eine humanitäre Dimension,
weil eine palästinensischeFamilie auf
dem Hügel wohnt. DerTunnel, für den
sich die Ingenieure schliesslich entschei-
den, gibt demRoman seinenTitel.

Die Diagnose verfängtnicht


Er ist eine Art Alterswerk insofern, als
Yehoshua thematischeFäden, die sich
durch sein Gesamtwerk ziehen – etwa
dieVerschränkung vonFamilien- und
Gegenwartsgeschichte oder dasAuf-
einanderprallen von israelischer und
palästinensischer Realität –, wieder
aufnimmt, aber diesmalnur lose ver-
knüpft.Auch derVersuch, wie in frü-
herenRomanen gesellschaftlicheKon-
flikte alskollektive psychische Störun-
gen zu begreifen, ist wenig stringentrea-
lisiert, weil dieFiguren eher skizzenhaft
porträtiert werden und die Beziehungen
zwischen ihnen unklar bleiben.

Daund dort lockernkomische Episo-
den denRoman auf; so verläuftZvi sich
in der Oper und landet schliesslich auf
der Bühne,eine jungePalästinenserin,
die in Israel studiert, muss in derThea-
tergruppe gleich wieder diePalästinen-
serin spielen. Insgesamt aber ist es ein
durchausernsterRoman, der gewisser-
massen die Demenz eines Einzelnen als
Symptom einer ganzen Gesellschaftaus-
legen möchte.Aber der Handlung,die
hauptsächlich in Dialogen erzählt wird,
mangelt es an Spannung – wohl nicht
zuletzt, weildie satirisch gemeinteWen-
dung,dass diegeheime Strasse in der
Wüste ins Nirgendwo führt,vorherseh-
bar ist. Die dichterische Kraft, auf der
Yehoshuas literarischerRuhm beruht,
sucht man in diesemRoman vergebens.

Abraha m B. Yehoshua: Der Tunnel. Aus dem
HebräischenvonMarku sLemke.Verlag Nagel
& Kimche, München 2019. 380S., Fr. 35.90.

Erfolgreichals Sänger,Produzent undTexter:AugustineMiles Kelechi aliasTekno. PD

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