Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

38 FEUILLETON Mittwoch, 9. Oktober 2019


Die Entstehung des Populismus


Wenn der Staat Politik auf dem Rücken des Steuerzahlers macht, riskiert er einen Vertrauensverlust


TITUS GEBEL


DerWähler in Europa ist ein undankba-
resGeschöpf.Nie war der Lebensstan-
dard höher, die Demokratie verbreite-
ter, gab es mehrFreiheiten.Trotzdem
erdreistet sich ein immer höherer Pro-
zentsatz der Bevölkerung, sogenannte
populistischeParteien zu wählen.Das
kann nur mit den sozialen Netzwerken
zusammenhängen,welche die Menschen
mitFake-News aufhetzen.Vermutlich
spielt auch eineRolle, dass sich viele als
Globalisierungsverlierer fühlen und mit
den Änderungen unserer modernen Ge-
sellschaft nicht mehr zurechtkommen.
Sie sind leichte Beute für populistische
Rattenfänger. Stimmt’s?
So etwa lauten die Begründungen
derjenigen – nennen wir sie Establish-
ment –, die demPhänomenerstarkender
populistischerParteien in immer mehr
Ländern desWestensratlos gegenüber-
stehen.Was aber, wenn das Establish-
ment selbst Ursache desWählerverhal-
tens ist, das es beklagt?
Vielleicht haben diesePopulisten das
Gefühl, dass der Gesellschaftsvertrag
vom Establishment zunehmend zu ihren
Lasten abgeändert wird, ohne dass sie
dazu befragt werden. Bei aller berech-
tigten Kritik an demKonstrukt eines
Gesellschaftsvertrageskonnte man bis-
her davon ausgehen, dass zumindest in
westlichen Gesellschaften tatsächlich
eine Art ungeschriebeneVereinbarung
gegeben war.


Aus derNähe betrachtet


Dieser «consent of the governed» er-
laubte es denRegierungen,im Rahmen
der verfassungsmässigen Ordnung neue
Regeln zu erfinden. Dies scheint inzwi-
schen immer weniger derFall zu sein.
Um zu ergründen, warum das so ist, ist
einPerspektivwechsel hilfreich.
Versetzen wir uns in dieLage eines
gewöhnlichen Bürgers, also eines an-
geblichenVertragspartners dieses Ge-
sellschaftsvertrages. Diesem Bürger,
etwa einerVerkäuferin im Supermarkt
(es könnte auch einVerkäufer sein), er-
zählt man nun, sie sei schuld daran, dass
Menschen in Afrika und Asien in Armut
lebten, und müsste daher die Benachtei-
ligten dieserWelt in grosser Zahl auf-
nehmen.Wie viele genau, bleibt offen.
Grenzen seien von gestern, heute sei die
Welt offen und tolerant.Ausserdem sei
das gut für dieWirtschaft und dieRente.
DieVerkäuferin fragt sich, was ge-
nau ihreSchuldsein soll und ob die Neu-
ankömmlinge tatsächlichWirtschaft und
Rente stabilisieren.Nach ihrer Beobach-
tungarbeiten viele nicht, sondern bezie-
hen Sozialleistungen. Sie hat zeitlebens
in die sozialen Sicherungssysteme einbe-
zahltund kann sich nun leicht ausrech-
nen,dass bei einerimmergrösseren Zahl
von Nutzniessern, die nicht einbezahlen,
für sie am Ende weniger übrig bleibt.
Mit Sorge betrachtet sie auch, dass
viele Zuwanderer Muslime sind, deren
Ideologie nicht unbedingt zurLandes-
kultur passt, etwa was die Stellung der
Frau, dasVerhalten gegenüber Anders-
gläubigen und dasAushalten von Kritik
an ihrerReligionangeht.Sie befürchtet,
dass das noch erheblicheKonflikte ge-
ben wird, was gegenüber dem bisheri-
gen Leben eine deutlicheVerschlechte-
rung bedeutet.
UnsereVerkäuferin sieht weiter, dass
ihr Supermarkt jetzt einen Sicherheits-
dienst hat,das war früher nicht derFall.
Auch bemerktsie, dass zahlreiche Zu-
wanderer gegenüberFrauen wenig bis
garkeinenRespekt an denTag legen.
Sie ärgert sich auch, dass sie nicht mehr
allein durch den Stadtpark joggen oder
im Sommer unbeschwert knappe Klei-
dung tragen kann. Immer seltener hört
sie ihre Muttersprache in den Schlangen
an den Kassen. Sie fragt sich, wie sich
Menschen überhaupt noch an Gesetze
halten sollen, wenn sie sie nichtkennen,
noch nie von ihnen gehört haben, sie
nicht mal lesenkönnen?
UnsereVerkäuferin hat wie viele ge-
lernt, ihren Unmut zu diesenThemen
nicht mehr offen zu äussern. Eine ehe-


maligeFreundin hat ihr vorgeworfen,
«rechts» zu sein, und ihr deshalb die
Freundschaft gekündigt.Auch erwartet
der Eigentümer der Supermarktkette
von seinen Mitarbeitern ein Bekenntnis
zu Ausländerfreundlichkeit und Diversi-
tät. Würde sie sagen, dass sie einePartei
wählt, die sich dagegen ausspricht, wäre
ihr Arbeitsplatz in Gefahr.

Teilhabe am Sozialstaat


Bisherkonnte die Bürgerin davonaus-
gehen, dass sie ineinem (National-)Staat
lebt. Nach der Drei-Elemente-Lehre
von GeorgJellinek versteht man dar-
unter ein soziales Gebilde, dessenkon-
stituierende Merkmale ein von Grenzen
umgebenesTerritorium (Staatsgebiet),
eine darauf als Bevölkerung ansässige
Gruppe von Menschen (Staatsvolk) so-
wie eine auf diesem Gebiet herrschende
Regierung mit Gewaltmonopol sind
(Staatsgewalt). Aussenstehendekonn-
ten nur unter bestimmtenVorausset-
zungen Mitglied des Staatsvolkes wer-
den; dieVoraussetzungen dafür wurden
vom Staatsvolk beziehungsweise dessen
Vertretern festgesetzt.
Aus dieser Stellung als Staatsbürger
ergeben sichkonkreteRechtspositio-
nen. Denn die geschriebenen und unge-
schriebenenRegeln einer Gesellschaft,
ihre Institutionen, ihr Sozialsystem so-
wie ihre Infrastruktur wurden meist über
einen langen Zeitraum aufgebaut und
finanziert.Wer daran als Bürger mitge-
wirkt hat, auch wennesdurch erzwun-
gene Steuer- und Abgabenzahlungen
war, hat eine eigentumsähnlicheRechts-
position erworben. Neben der sozialen
Sicherung sind dies Nutzungsrechte an
Infrastruktur (Schulen, Kindergärten,
Krankenhäuser,öffentliche Strassen und
Gebäude), Hilfe imAusland(Botschaf-
ten,Konsulate) und vor allem Sicherheit
(Polizei, Armee,Grenzschutz).
Wer nun fordert, jeder Beliebige
dürfe an dieser eigentumsähnlichen
Rechtsposition durch Einwanderung
partizipieren, unterscheidet sich imPrin-
zip nicht von einemKommunisten, der

verlangt, jeder müsse seineWohnung
und seinVermögen mit allen Bedürfti-
gen teilen.Das ist faktisch eineTeilent-
eignung der bisherigen Bevölkerung.
Eine Menschenrechtsideologie, die
von angeborenen (Teilhabe-)Rech-
ten spricht und den Eindruck erweckt,
mankönnte solcheRechte wie per-
sönliches Eigentum besitzen und an
jeden beliebigen Ort der Erde mitneh-
men,verkennt: RechtesindVerhältnisse
zwischen einem, der einRecht bean-
sprucht, und einem anderen, der die-
sen Anspruch anerkennt.
Wenn jemand ein bedingungsloses
Recht auf eine materielle Zuwendung
hat, etwaein Zuwanderer aufTeilhabe
am Sozialstaat, muss es jemand ande-
ren geben, der eine Pflicht hat, diese zu
erbringen, und zwar ohne dafür irgend-
welcheRechte zu erhalten, da sie ja auf
der anderen Seite bedingungslos sind.
Ein solchesPostulat ist nicht nurrecht-
lich, sondern auch moralisch ein äusserst
fragwürdiges Unterfangen.
Der bisherige gesellschaftliche Deal,
dass dieRegierung versucht, denWohl-
stand derRegierten imRahmen der ge-
gebenen Normen zu mehren, wurde ein-
seitig aufgekündigt. Die neuenRegeln
lauten, dass eine beliebige Anzahl von
Aussenstehenden jetzt Anspruch hat,
an dem von denRegierten erschaffenen
Wohlstand zu partizipieren, und dass die
eigenen kulturellen und gesellschaft-
lichen Normen nicht mehr für alle ver-
bindliches Leitbild sind.
Aber gehört nicht zuFreiheit und
Selbstbestimmung auch dasRecht, dar-
über zu entscheiden, mit wem man zu-
sammenleben will?

Das Geldverliert anWert


Aber das ist noch längst nicht alles, was
unsererVerkäuferin zugemutet wird.
Sie mag von Cantillon-Effekt und Geld-
mengentheorienoch nie etwas gehört
haben.Was sie aber merkt, ist, dass die
Mieten immer teurer werden, ihr Ein-
kommen aber nicht im gleichen Masse
steigt.Das istkein Wunder, denn die

Geldplanwirtschafter haben Null- oder
gar Negativzinsen festgelegt. Noch ein
historisch einzigartiges Experiment, des-
senVerwerfungen unsereVerkäuferin
ausbaden muss.
Daaus Anleihen und Spareinlagen
keine nennenswerten Zinserträge mehr
zu generieren sind, legen alle, die eskön-
nen,in Immobilien an.Das steigert die
Immobilienpreise und letztlich auch
die Mieten. DerTraum vom Eigenheim
rückt für immer grössere Bevölkerungs-
schichten in immer weitereFerne.Auch

was man unsererVerkäuferin bisher er-
zählt hat, dass sie sparen und für ihr Al-
ter vorsorgen müsse, erscheint dies zu-
nehmend sinnlos. Sieweiss nicht einmal
mehr, ob ihreWährung in zehnJahren
noch existieren wird.
Stattdessen ist unsere Verkäuferin
jetzt auch noch daran schuld, dass sich
dasWeltklima ändert. Sie soll inZu-
kunft gefälligst auf den hart ersparten
Urlaubsflug sowie auf Fleisch undAuto-
fahren verzichten. Ihre ganze Lebens-
weise soll sie umstellen, weil in hundert
Jahren die globaleDurchschnittstempe-
ratur um ein bis fünfGrad steigen wird,
so genau weiss man das nicht.
Dass bisher sämtliche CO 2 -Modelle
bei derVoraussage derTemperaturent-
wicklung versagt haben: geschenkt.Dass
etwa die deutsche Energiewende bisher
200 Milliarden Euro gekostet hat und
der Effektauf dasWeltklima exakt null
beträgt: geschenkt.Vielleicht arbeitet ihr
Bruder imKohlebergbau in derLausitz.

Sie kann ihm nicht erklären, warum die
Zerstörung seines Arbeitsplatzes sinn-
voll ist,obwohl es den Klimawandel in
keinerWeise messbar beeinflusst und
sichkeines der grossenKohleländer von
diesem«Vorbild» anleiten lässt.Das Ge-
fühleiniger hüpfender Kinder und vie-
ler Journalisten, etwas total Gutes getan
zu haben, scheintreal zerstörte Existen-
zen mehr als aufzuwiegen.

Nicht um Zustimmunggefragt


Der bisherige Gesellschaftsvertrag
wurde also nicht nur inRandbereichen,
sondern grundlegend zulasten der Bür-
ger geändert. Diese müssen nun einen
Umbau von Bevölkerung und Lebens-
weise, ein nie da gewesenes Zinsexperi-
ment und eine Einschränkung ihrer ge-
samten Lebensweise hinnehmen. Aller-
dings ohne dass sie dazu um ihre Zu-
stimmung gefragt worden wären.
Was macht nun unsereVerkäufe-
rin, wenn sie damit nicht einverstanden
ist?Wenn sie ihr berechtigtes Interesse
wahrnehmen will, dass der Gesellschafts-
vertrag nicht derart schwerwiegend ge-
ändert wird?Was bleibt ihr überhaupt
übrig, wenn sie nicht einmal offen diese
Meinung äussern kann, ohne Nachteile
befürchten zu müssen?Vielleicht bei der
nächstenWahl ein Kreuz bei populisti-
schenParteien,dieAbhilfe versprechen?
Entweder wir leben in der besten
allerWelten und sind voll auf dem rich-
tigenKurs, oder die Situation hat sich
für viele Menschen so zum Nachteil ver-
ändert, dass sie an den Institutionen zu
zweifeln (oder zu verzweifeln) beginnen.
Beides zugleich ist nicht möglich. Nur
eine Seite liegt hier richtig. Ich würde
dabei nicht unbedingt aufs Establish-
ment wetten.

Titus Gebelist Unternehmerund promovier-
ter Jurist. Er gründete unter anderem die Deut-
scheRohstoff AG und ist Autordes Buches
«Freie Privatstädte – mehr Wettbewerb im
wichtigs ten Markt der Welt», in dem er einen
Weg zu einem Gesellschaftsvertrag aufzeigt,
der nicht einseiti g geändert werden kann.

Wohin geht dieReise? Unsicherheiten könnender Anfang desPopulismus sein. LUKAS SCHULZE / GETTY


Eine beliebige Anzahl
von Aussenstehenden
hat jetzt Anspruch, an
dem von den Regierten
erschaffenenWohlstand
zu partizipieren.
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