Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

Mittwoch, 9. Oktober 2019 SPORT43


Der Vereinfacher

Der Captain Stephan Lichtsteiner ist zurück im Nationalteam– und begegnet Autoritätsfragen auf seine Art


BENJAMINSTEFFEN, LAUSANNE


Manch einer stellt sich dieWelt und eine
Mannschaft etwaskomplizierter vor –
dass es tiefeFragen zum Zusammen-
leben gibt,zur gegenseitigen Akzep-
tanz. Um dieAuswahl der Schweizer
Fussballer drängten sich jüngst solche
Themen auf, speziell um Stephan Licht-
steiner. Der langjährige Captain war für
die letzten beiden Zusammenzüge nicht
nominiert worden, aus plausiblen Grün-
den eigentlich, mangels Spielpraxis.
Und doch stellte sich oft dieFrage,
ob es demTr ainer VladimirPetkovic lie-
ber wäre,wenn Lichtsteiner, 35Jahre
alt, als Nationalspieler zurückträte. Und
vielmehr noch: ob es nicht Lichtsteiners
Autorität untergrabe, wenn seine Leis-
tungenbald reichen für das Nationalteam
und bald dochnicht. Und:Wie verändert
sich eine Hierarchie, wenn der Leitwolf
vorübergehend ausgeschlossen wird?Wie
willkommen ist er bei derRückkehr?
Stephan Lichtsteiner sagt: «Captain
zu sein, heisst nicht, dass du derKönig
bist.Dukommst nicht herein und wirst
von allen auf Händen getragen.»


KeineRevolte


Am Montag ist er nach gut sechsmona-
tiger Absenz zum Nationalteam zurück-
gekehrt, am Dienstag stellte er sich den
Medien. Dreisprachig, gelassen, direkt,
einmal sagt er, in allerRuhe: «Jetzt ist
dann malgut, dass auch ihr das verstan-
den habt, wie die Hierarchie ist.» Licht-
steiner hat die Gabe, Dinge zu vereinfa-
chen, es braucht nichtalles gewälzt und
hinterfragt zu werden, es ist so,wie es ist.
Am Dienstag sagt Lichtsteiner inLau-
sanne, letztlich sei es egal, ob er in den
letztenLänderspielen dabei gewesen
sei. «Esgeht um Leistung.Wenn du als


Captainkeine Leistung zeigst, hast du
keineGlaubwürdigkeit.» Ob er willkom-
men ist, bleibt vor diesem Hintergrund
sekundär. Lichtsteiner bricht diekom-
plizierten Dinge auf das Essenzielle her-
unter, und vielleicht lässt sich auch nur
so,indiesem geordnetenDenken, eine
solche Karriere schaffen: Serienmeister
mitJuventusTurin, 105Länderspiele.
Ob seineAutorität Schaden erlitt?
Vielleicht ist es gerade so: dass ihm
der Umgang mit der SituationAutori-
tätgegeben hat. Er beriefsich niedar-
auf, der Captain diesesTeams zu sein,
er stellte nie irgendeinen Anspruch. Ob
er am Samstag gegenDänemark spielt?
Es geht um Leistung. Und wenn gefragt
wird, ob seine hierarchischePosition dar-
unter gelitten habe, so ist es doch auch
so zu sehen: Es gabkeinen Spieler, der

Lichtsteiner öffentlich infrage gestellt
hätte,keineRevolte, für die der Zeit-
punkt wie gerufen gewesen wäre.Der
Vize-Captain Granit Xhaka sagte, wenn
Xherdan Shaqirianeiner hierarchischen
Benachteiligung knabbere, überlasse er
ihm die Captainbinde–aber damit sen-
dete er vielmehr ein etwas gönnerhaf-
tes Signal an Shaqiri als umstürzlerische
Zeichen an Lichtsteiner.

Auf der anderen Seite:Behrami


Xhaka erweckte nie den Eindruck,
Lichtsteiner in denRücken fallen zu
wollen – ein Szenario, das nicht undenk-
bar wäre, wennes dem Captain generell
anRückhalt fehlte. Es gibt solche Ge-
schichten, etwa aus Deutschland, von
der WM 2010, die der Captain Michael

Ballack verletzt verpasste. Während des
Turniers sagte sein Stellvertreter Philipp
Lahm, er wolle noch mehrVerantwor-
tung übernehmen:«Wieso soll ich das
Kapitänsamt wieder freiwillig zurVer-
fügungstellen?»Ballack absolvierte da-
nach nie mehr einLänderspiel.
Auch die Schweizer kennen Sor-
gen mit angejahrten Häuptlingen, bloss
nicht: mit Lichtsteiner. Valon Behrami
trat 20 18 enttäuscht zurück, weil er sich
vonPetkovic aussortiert wähnte;Aus-
senstehenden blieb der Eindruck eines
gröberen Missverständnisses.
Lichtsteiner beteuerte am Dienstag
wiederholt,wie klar alles sei mitPet-
kovic. Probleme? Nie! Bei Behrami er-
schien alles furchtbarkompliziert, ver-
letzt, zerbrochen. Mit Lichtsteiner wirkt
alles so einfach.Auch nicht schlecht.

DerCaptain ist zurück: Stephan Lichtsteiner trainiertwieder mit dem Nationalteam. CYRIL ZINGARO/KEYSTONE


Wo hört das Foul auf, und wo beginnt die Straftat?


Der Handball-NationalspielerNicolas Raemy wird hart gefoult und zeigt seinen Gegenspieler an – dieser löst den Vertrag in der Schweiz auf


CHRISTOF KRAPF


EndeJuli hat Milan SkvarilPost von der
Staatsanwaltschaft des Kantons Bern
erhalten. Skvaril, Handballer des HSC
Suhr Aarau, las in diesem Brief,dass
gegen ihn ein Strafverfahren läuft. Nico-
lasRaemy, Rückraumspieler beiWacker


Thun und im Schweizer Nationalteam,
hat Anzeige gegen den Tschechen Skva-
ril eingereicht.Raemy wirft dem Gegen-
spieler unter anderem schwereKörper-
verletzung vor.


Sperre nachträglich reduziert


DerVorfallereignete sich im vergange-
nen April im Play-off-Viertelfinal zwi-
schenWacker und Suhr Aarau. Skvaril
foulteRaemy hart und drückte dem am
Boden liegenden Gegner den Unterarm
in den Nacken,Raemy fiel zwei Spiele
verletztaus.Für die Attacke bekam
Skvaril dieRote Karte und zwei Spiel-
sperren, die nach einemRekurs des HSC
Suhr Aarau auf einereduziert wurden.
Das Verbandssportgericht des Schwei-
zerischen Handballverbandes (SHV)
taxierte das Einsteigen von Skvaril zwar


als «rücksichtslos», erkannte aberkeine
Verletzungsabsicht. Die «Aargauer Zei-
tung» machte denFall am vergangenen
Wochenende publik.
DerFall schlägt in der Szene hohe
Wellen, auf höchster Stufe ist es im
Schweizer Handball dieerste Anzeige
wegenKörperverletzung.BeiWacker
Thun äussertesich der Präsident Georges
Greiner im«T hunerTagblatt» und sagte:
«Eine derart brutaleAktion habeich in
50 Jahren Handball nichterlebt.Ausser-
gewöhnliche Ereignisse erfordern aus-
sergewöhnliche Massnahmen.»
Wegen des laufendenVerfahrens will
sichRoland Schneider, derVerbands-
richter beim SHV, zuRaemys Anzeige
nicht äussern. Zu einem ähnlich gelager-
tenFall aus einer tieferen Schweizer
Handball-Liga teilte der SHV aber 20 17
mit:«Wir habenkeinVerständnis, wenn
normaleVorkommnisseauf dem Spiel-
feld und in den Spielregeln geregelte
Verstösse ausserhalb unsererVerbands-
justiz behandelt werden.»
Raemy will sich auf Anfrage nicht
äussern und verweist auf seinen An-
walt Stefan Schmutz. Dieser sagt: «Bei
der Aktion wurde einerote Linie über-
schritten, dasFoul war nicht mehr Be-
standteil des Handballs und seinerRe-
geln. Deshalb haben wir uns für eine
Anzeige entschieden.» Näher will sich
Schmutz nicht zumFall äussern.
Raemy hat schon in derVergan-
genheitKopfverletzungen erlitten. Im
Herbst 20 16 warer unglücklich mit

einem Gegenspieler zusammengeprallt
und litt danach fast zweiJahre lang an
einem Schleudertrauma. In dieser Zeit
fehlte der Linkshänder auch der Natio-
nalmannschaft. Ob die frühereVerlet-
zung den Entscheid zur Anzeige be-
günstigt hat, willRaemys Anwalt nicht
kommentieren.

Anzeigehinterlässt Spuren


Im vorliegendenFall steht dieFrage im
Zentrum, ob es sich beimFoul um eine
Aktion innerhalb der Spielregeln gehan-
delt hat oder nicht. Um die Spieler vor
überharten Attacken zu schützen und
die Spielregeln durchzusetzen, unter-
halten die Sportverbände eigene Straf-
kammern, die Bussen und Spielsperren
aussprechenkönnen.
Das zivile Gericht wird hingegen
über denVorwurf derKörperverlet-
zung urteilen müssen und darüber, ob
Skvaril den GegenspielerRaemy mit

Absicht verletzte. Wer Kontaktsportar-
ten wie Handball oderFussball betreibt,
nimmt allerdings einVerletzungsrisiko
in Kauf und weiss, dassFouls zum Spiel
gehören.
Ein Verhandlungstermin in der
Causa steht noch nicht fest. Der an-
gezeigte Skvaril hat denVertrag mit
dem HSC Suhr Aarau aufgelöst. Offi-
ziell gibt der NLA-Klub «persönliche
Gründe» für den Abgang an. Noch

letzte Saison war Skvaril der besteTor-
schütze von Suhr Aarau, dieseSai-
son wurdendie Leistungen allerdings
schlechter. Misha Kaufmann, derTr ai-
ner des HSCSuhr Aarau, sagte der
«Aargauer Zeitung»: «Es war klar er-
sichtlich, dass ihn die Anzeige belas-
tet.» Skvaril wird wohl in die Heimat
Tschechien zurückkehren und dort die
Karriere fortsetzen; dem Strafverfahren
Milan Skvaril will er sich stellen.
Handballer

Nicolas Raemy
Handballer

Gang zum St rafrichter
muss Ausnahme sein
Kommentar auf Seite 11
Diese Fouls landeten beim Zivilrichter

„Kevin Miller gegenAndrew McKim.
Ein Ellbogencheck vonKevin Miller
vom HCDavos beendet imJahr 20 00
die Eishockey-Karrierevon ZSC-Lions-
StürmerAndrew McKim. Das Zürcher
Bezirksgericht verurteilt Miller 2005
wegenKörperverletzung zu einer be-
dingtenFreiheitsstrafe von drei Mona-
ten. Im März 2007 spricht das Zürcher
Obergericht Miller frei, ehe das Bundes-
gericht den Amerikaner schuldig spricht.
In den USA wurde Miller 20 14 zueiner
Schadenersatzzahlung von 1,6 Millionen
Franken verurteilt.

„Gabet Chapuisat gegen Lucien
Favre. Gabet Chapuisat,Verteidiger
vonVevey,foult Servettes LucienFavre
1985 mit gestrecktem Bein.Favreerlei-
det eine schwere Knieverletzung und
fällt acht Monate aus. Er klagt wegen

vorsätzlicher Körperverletzung vor
einem Zivilgericht, als ersterFussballer
überhaupt in der Schweiz.DasGericht
spricht Chapuisat schuldig und verur-
teilt ihn zu einer Busse von 50 00 Fran-
ken. InVevey wird Chapuisat fristlos
entlassen.

„SandroWieser gegen GillesYapi.
Wegen einesFouls von Aarau-Fussbal-
ler SandroWieser erleidet der FCZ-Spie-
ler GillesYapi Anfang November 20 14
acht Knieverletzungen. Der FCZ-Präsi-
dent Ancillo Canepa zeigtWieser dar-
aufhin wegen schwerer Körperverletzung
an,Wieser wird 20 15 zu einer bedingten
Geldstrafe von180 Tagessätzen und zu
einer Busse von 10 000 Franken verur-
teilt. In zweiter Instanz wirdWieser frei-
gesprochen;Canepa hatte dieAnzeige zu-
rückgezogen. krp.

Roger Federer


brilliert in China


Belinda Bencic in Linz schon out


(sda)· RogerFederer hat den ersten
Einsatz am Masters-10 00 -Turnier in
Schanghai erfolgreich bewältigt. Der
Weltranglisten-Dritte schlug den Spa-
nier AlbertRamosViñolas 6:2,7:6 (7:5).
Belinda Bencic hingegen scheiterte in
Linz in der1. Runde gegen die Deut-
sche Qualifikantin Anna-LenaFriedsam
(WTA166) mit 4:6, 6:2, 2:6 und wird das
Saisonfinale der besten acht kaum mehr
erreichen.
In China nimmt die Begeisterung für
Federer jeweils besondereAusmasse an,
und denBaselbieter scheint die Unter-
stützung zusätzlich zu beflügeln.Dass
er sich in der Millionenmetropole sehr
wohl fühlt, zeigenseinedortigen Er-
folge. Zweimal, 2014 und 2017, haterdas
Masters-10 00 -Turnier gewonnen, und
zweimal, 2006 und 2007, hat er mit dem
Sieg an denATP-Finals herausragende
Saisons gekrönt.
Federer verzückte das Publikumim
Qi-Zhong-Stadion auch mit dem ersten
Auftritt in diesemJahr.Vorab im Start-
satzwar erRamosViñolas,der Nummer
46 desATP-Rankings, in allen Belangen
überlegen. Zweimal nahm er dem Iberer
denAufschlag ab, er selber gab bei eige-
nem Service lediglich zwei Punkte ab.
Im zweiten Set vermochteRamos
Viñolas das Geschehen ausgeglichen zu
gestalten. Die Chance auf eine neuer-
liche Überraschung, vierJa hre nach dem
Sieg gegenFederer am gleichen Ort,
bekam der Linkshänder jedoch nicht.
Der Spanier, indiesemJahrTurniersie-
ger in Gstaad, ging imTiebreak zwar
4:1 inFührung.DochFederer fand den
Rhythmus schnell wieder und gewann
sechs der letzten sieben Punkte. Fede-
rers Gegner imAchtelfinal wirdDavid
Goffin oder MichailKukuschkin sein.
Auf eine Niederlage Bencics deutete
in Linz zunächst gar nichts hin, ging sie
doch 4:0 inFührung. Doch sie verlor die
nächsten sechs Games zum 4:6. Im zwei-
ten Satz schien sie diePartie zu drehen,
ehe sie imFinalset doch alles verlor. Seit
dem Halbfinal am US Open hat dieTop-
Ten-Spielerin nur noch zweiPartien auf
WTA-Stufe gewonnen und damit ihre
Position imRennen um dieTeilnahme
an den WTA-Finals nicht verbessert.Vor
ShenzenfindenkommendeWoche noch
zweiTurniere, inLuxemburgund Mos-
kau, statt.

EM-Qualifikation, Gruppe D


Samstag Dienstag
Dänemark - Schweiz 18.00 Schweiz - Irland 20.45
Georgien - Irland 15.00 Gibraltar - Georgien 20.45



  1. Irland 5/11 4. Georgien 5/4

  2. Dänemark 5/9 5. Gibraltar 5/0

  3. Schweiz 4/8

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