Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

44 SPORT Mittwoch, 9. Oktober 2019


Die Schweizer Kunstturner können an den WMdas


beste Ergebnis seit den fünfziger Jahren erreichen SEITE 42


Der Captain Stephan Lichtsteiner ist zurück und begegnet


den Problemen u msNationalteamauf seine Weise SEITE 43


«Ich habe keine Geheimnisse»


Der frühere Formel-1-Weltmeister KimiRäikkönen ist nun bei Alfa Romeo unterVertrag und sagt, es sei schmerzhaft, hinterherzufahren.


Dennoch spricht er auchmit 40Jahrennicht vomAufhören. Das Interviewführte Elmar Wagner


Sie wohnen seitzehn Jahren inBaar.Wie
oft fahren Sie mit demAuto an den Fir-
menhauptsitz in Hinwil?

Das hängt stark davon ab, was gerade
ansteht.Das kann mehrmals proWoche
sein, aber auch nur einmal pro Monat.


Und dann stehen Sie mit IhremAuto im
Stau auf dem Seedamm Richtung Rap-
perswil-Jona?

Nein, ich versuche die Stosszeiten zu
vermeiden.


Sie leben schon lange in der Schweiz.
Warum eigentlich?

Vor meiner Zeit in derFormel 1 lebte
ich ein paarJahre in England, dann
absolvierte ich den Militärdienst inFinn-
land. Und mit 21Jahren unterzeichnete
ich denVertrag mit dem Sauber-Team
und bezog denWohnsitz gleich in Hin-
wil, weil es praktisch war. Kurz darauf
zog ich nachWollerau,und seit zehnJah-
ren lebe ich nun inBaar, am Zugersee.


Fühlen Sie sich unterdessen auch ein we-
nig als Schweizer?

Ja, denn hier ist mein Zuhause, hier fühle
ich mich wohl. InFinnland dagegen bin
ich nur zwei-, dreimal proJahr.


Was schätzen Sie an der Schweiz?
Mit denWäldern,denFeldern,den Seen
erinnert mich die Schweiz sehr anFinn-
land.Dort wuchs ich in der Nähe von
Helsinki auf, auf demLand. Heute lebe
ich auch auf demLand, nicht weit weg
von der Grossstadt.


Vermissen Sie Ihre Heimat nicht?
Doch, ab und zu.Früherreiste ich noch
öfter nachFinnland, zum Beispiel, um
Motocross zu fahren. Jetzt passiert das
viel weniger, auch weil ich wenig Zeit


habe. Ich kann mir nicht mehr vorstel-
len, ständig inFinnland zu leben.Wenn
ich in derFormel 1 aufhöre, werde ich
mit derFamilie in der Schweiz bleiben.

Sie lieben offenbar auch das hiesige Eis-
ho ckey: Sie sind Aktionär des EV Zug.
Ich liebe Eishockey generell, nicht nur
den EV Zug. Ich habe es in meiner
Jugend selber gespielt,draussen, auf gros-
sen Feldern. Und bevor ichFan des EV
Zug wurde, habe ich öfter Spiele der ZSC
Lions besucht. Damals, als meinLands-
mannAri Sulander dort noch Goalie war.

Dann müssten Sie jetzt den HCDavos
unterstützen,weil Waltteri Immonen
dort neu als Assistenzcoach arbeitet. Er
ist einFreund von Ihnen und wirkte vor-
her im EV Zug.
Nein, nein, ich wechsle meineVorliebe
nicht. Ich bleibe dem EV Zug treu.

Peter Sauber verhalf Ihnen 2001 zum
Einstieg in dieFormel1. Haben Sie noch
Kontakt zu ihm, dem Ex-Teambesitzer?
Ich sehe ihn ziemlich häufig, allein
in dieser Saison zweimal anRennen.
Meine Beziehung zu ihm ist immer noch
speziell, denn ohne ihn wäre ich in der
Formel 1 nicht am selben Ort. Mein Le-
ben wäre völlig anders verlaufen.

Jetzt sind Sie zurück – nicht beiPeter Sau-
ber, aber imTeam, das er aufgebaut hat.
Das ist ein gutes Gefühl.

Aber Sie fahren bei AlfaRomeo Racing
nicht mehr um Siege mit, sondern im Mit-
telfeld hinterher. Das muss schwierig sein.
Nein, denn wirkennen unsere natür-
lichen Grenzen. Es gibt nur wenige
Teams, die einAuto zum Siegen haben.
Wir gehören nicht dazu, noch nicht.

Einen Sportler mit Ihrem Ehrgeiz muss
das doch ärgern.
Natürlich möchte ich gewinnen,aber dazu
müssen viele Dinge stimmen. Und bei
Alfa Romeo gibt es da gewisse Limiten.

Was fehlt demTeam?
Wir haben zwar gute Leute, sind aber
nichtsogross wie Mercedes ,Ferrari,
Red Bull oder McLaren.Mit einem klei-
neren Budget ist vieles schwieriger. So
müssen wir zum Beispiel viel länger war-
ten, bis neueTeile für die Boliden pro-
duziertsind. Und in unserem Business
kann man sich die zusätzliche Zeit da-
für schlicht nicht leisten.

Was vermissen Sie alsRennfahrer, ver-
glichen mit IhremJob beim vorherigen
ArbeitgeberFerrari?
Überhaupt nichts, denn auch beiFerrari
ging es auf und ab. Klar war ich dort
häufig weiter vorn platziert –aber daich
immer gewinnen möchte, machte mich
ein dritter Platz auch nicht zufrieden.

Bietet Ihnen das kleinereTeam von Alfa
Romeo Racing denn auchVorteile?
Ja, mehrFreiheit ausserhalb derRennen.

MehrFreiheit?
Ja, ich muss weniger öffentlicheAuftritte
absolvieren, weniger Interviews geben.
Das heisst: Ich kann mehr Zeit mit mei-
ner Familie verbringen, ich habe mehr
Lebensqualität. Ich kann das nicht hoch
genug gewichten.

Sie betonen oft den Stellenwert der
Familie.
Sie war mir immer wichtig, nun ist sie
no ch wichtiger. Denn die Kinder sind
nur einmal jung, diese Zeit mit ihnen
möchte ich geniessen.

Was macht einFormel-1-Rennfahrer
eigentlich zwischen denRennen?Da
muss es vielFreizeit geben.
Ich habe ein sehr normales Leben, fast
wie meine Nachbarn. Ich gehe einkau-
fen, fahreRad, spiele draussen mit den
beiden Kindern.

Undwas ist mit der Fitness?
Ich gehe natürlich in den Kraftraum,
nicht täglich,aber häufig. MeineTage zu
Hause sind jedenfalls gut gefüllt, häufig
gar voller alsTage anRennen.

Wie verstehen Sie sich mit dem Alfa-
Romeo-Teamchef FrédéricVasseur?
Unsere Mentalität istsehr ähnlich, wir
sind beideRacer, und da versteht man
sich fast blind.Das habe ich sofort ge-
merkt, als wir uns vor gut einemJahr
erstmals trafen.Ausserdem mag ich es,
dass er eine sehr direkte, klareAnspra-
che hat. Da weiss man, woran man ist.

Warum sind Sie eigentlich immer noch
in derFormel 1?
Ich liebe es eben,Rennen zu fahren –
jedenfalls solange dasFahren dasWich-
tigste bleibt und die anderenAktivitäten
nicht überhandnehmen.

Sie haben also immer noch den gleichen
Sp ass auf derRennstrecke wie früher.
Sicher, wenn es rundläuft.Wenn die
Resultate aber so sind wie jüngst, ist es
eher schmerzhaft.

In wenigenTagen werden Sie 40.Vor
Jahren behaupteten Sie in einem Inter-
view, in diesem Alter seien Sie nicht
mehr in derFormel1.
Ja, das war eigentlich meine Absicht.
Aber mit 50 werde ich hoffentlich nicht
mehr dabei sein.

Ist dasRennfahren eine Sucht für Sie?
Nein, das Fahrenvon Rennen bean-
sprucht zwar am meisten Zeit in meinem
Leben, aberes ist nicht dasWichtigste –
und das war es noch nie.Das alltägliche
Leben ist mir viel mehr wert,jenseits von
Siegen oder siebenten Plätzen.

Es könnte aber sein, dass Sie über den
Zweijahresvertrag hinaus in derFor-
mel 1bleiben.
Alles ist möglich. Ich habekeinen Plan
über dieVertragsdauer hinaus.

Sie haben letztesJahr dieAutobiogra-
fie «Der unbekannte Kimi Räikkönen»
veröffentlicht.Das Buch machte Schlag-
zeilen,weil Sie darin auch über alkoho-
lische Exzesse sprachen.Würden Sie
nochmals so viel von sich preisgeben?
Ich konnte selber entscheiden,was mein
Autobiograf schrieb und was nicht.Da
stand nichts drin, was ich nicht wollte.

Doch das Buch löste auch negative
Reaktionen aus.
Das war nicht anders zu erwarten.Aber
die Autobiografie gibt nur einen klei-
nenTeil von mir preis,sie zeigt nicht den
ganzen Kimi.

Sie behalten also kleine Geheimnisse.
Ich habekeine Geheimnisse.Aber ich
muss nicht alles vor der Öffentlichkeit
auspacken.

Als Sie2001 in dieFormel 1 einstiegen,
waren Sie der wilde Newcomer.Wieweit
unterscheidet sich Ihre Generation von
jener der heutigenJungen wie MaxVer-
stappen oder Charles Leclerc?
Ich finde nicht, dass sich die jungeFah-
rerg eneration durch irgendwelche Cha-
rakteristika auszeichnet. Der Unter-
schied zu uns älterenFahrern besteht
primär darin, dass wir erfahrener sind.

Geben Sie Ihrem jungenTeamkollegen
AntonioGiovinazziTipps?
Wenn er auf mich zukommt, gebe ich
ihm Tipps.Aber wir haben unterschied-
liche Ingenieure, die für uns arbei-
ten, und ich bin nicht sein Lehrer.Wir
schauen jeweils dieDaten des andern
an, und hierkönnen wir am meisten ler-
nen – er von mir, ich von ihm.Das hilft
beimAusbalancieren derAutos.

Aber Sie sind der Leader.
Nein,ich bin nicht wichtigerals derTyp
neben mir. MeineAufgabe ist dasRenn-
fah ren.

«DasFahrenvon Rennen ist nicht dasWichtigste. Dasalltägliche Lebenist mir viel mehrwert»KimiRäikkönen über seine Prioritäten. GETTY


Formel-1-Einstieg


bei Peter Sauber


wag.· Kimi Räikkönen stieg 2001 bei
Sauber in dieFormel 1 ein; derTeambe-
sitzerPeter Sauber ebnete ihm denWeg.
Obwohl nur mit einer Superlizenz für
vier Rennen ausgestattet, überzeugte er
gleich bei derPremiere:Rang 6imGP
vonAustralien.Unterdessen ist der bald
40-jährigeFinne der dienstältesteFah-
rer in derFormel1. Er erzielte in seiner
Karriere 21 Siege und 103Podestplätze.
2007 gewann er den bisher letztenWelt-
meistertitel fürFerrari.
Seit dieser Saison fährtRäikkönen
für das in Hinwil domizilierteTeam
Alf a RomeoRacing. Nach starkem
Start schaffte eres zuletzt nicht mehr in
die Punkteränge. Räikkönen wohnt mit
seinerFrau und den beiden Kindern in
Baar (ZG). In der Öffentlichkeit ist er
ein Mann der knappenWorte; auch des-
wegen hat er den Übernamen «Iceman».
Das Gespräch mit ihm fand in der neuen
Shell-Tankstelle in Oftringen statt.
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