Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

Mittwoch, 9. Oktober 2019 INTERNATIONAL


Ecuadors Regierung flüchtet aus der Haupts tadt

Proteste gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise spitzen sich zu


NICOLE ANLIKER, RIO DEJANEIRO


Ausnahmezustand, Plünderungen, mehr
als 470Festnahmen undDutzende von
Verletzten: Die Proteste gegen die von
Ecuadors Präsident Lenín Moreno an-
gekündigte Streichung derTr eibstoff-
subventionen Mitte vergangenerWoche
spitzen sich weiter zu. Der Staatschef
teilte am Montag angesichts dessen mit,
seineRegierung von Quito nach Guaya-
quil an denPazifik zu verlegen.Ineiner
Fernsehansprache beschuldigte er sei-
nenVorgängerRafael Correa und des-
sen Alliierte, einen Staatsstreich gegen
seineRegierung voranzutreiben.Correa
wies dieVorwürfe am Dienstag vonsei-
nem belgischen Exil aus zurück.


Aufruf zum Streik


Die mächtige Indianerorganisation
Confederaciónde Nacionalidades Indí-
genas del Ecuador (Conaie) rief derweil
zu einem grossen Marsch nach Quito
auf. 20 000 Teilnehmer werden erwartet.
Seit Montagabend strömen Demons-
tranten in die Hauptstadt,diegegen die
Erhöhung derTr eibstoffpreise und die
Erdölförderung in ihren Gebieten pro-
testieren.Dabei kam es zur Belagerung
desKongresses und zu diversenVan-
dalenakten. Die Conaie hat für Mitt-
woch gemeinsam mit Gewerkschaften
und sozialen Bewegungen ausserdem
zu einem nationalen Streik aufgerufen.
SeitTagen blockieren indigene Orga-
nisationen wichtigeHandels- undÜber-
landstrassen im ganzenLand. Zahlrei-
che Schulen blieben am Dienstag wei-
terhin geschlossen. Demonstranten be-
setzen drei Ölfelder des staatlichen
ÖlkonzernsPetroamazonas, deren Be-
trieb deshalb eingestellt werden musste.
In der Provinz Cotopaxi wurden Blu-
menfarmen und eineMilchfabrik ge-
plündert.Von den rund 50 Sicherheits-
kräften, welche am Samstag von indi-
genen Organisationen in Geiselhaft ge-


nommen worden sind,fehltnoch immer
jede Spur.
Der Streik war am letzten Donners-
tag ursprünglich vonTaxi- undTr ans-
portunternehmen ausgerufen worden.
Ihnen schlossen sich Arbeiter und Schü-
ler aus dem ganzenLand mit Strassen-
sperren und Demonstrationen an.Vo r
allem in Quito kam es zu teilweise ge-
walttätigenAuseinandersetzungen zwi-
schen derPolizei und Demonstranten.
Moreno verhängte infolgedessen einen
60-tägigen Ausnahmezustand. Die-

ser ermächtigt ihn, dasVersammlungs-
recht und die Bewegungsfreiheit einzu-
schränken. Er kann Soldaten zurWah-
rung der öffentlichen Sicherheit ein-
setzen sowie Häfen, Flughäfen und
Grenzen schliessen.
DieTr ansportunternehmen beende-
ten ihren Streik amFreitag nach zwei
Tagen. DieRegierung gestand ihnen
eine Erhöhung der Bustarife zu.Dar-
auf übernahmen indigene Bewegungen
dieFührung der Protestaktionen. Die
Conaie erklärte denAusnahmezustand

in ihrem Einflussgebiet. In einem
Schreiben drohte sie, Sicherheitskräfte
inhaftieren und vor die «indigeneJus-
tiz» stellen zu wollen, sollten sich diese
ihrem Boden nähern. DieRegierung
äusserte sich am Montag besorgt über
die unkontrollierten Proteste.Aufseiten
derPolizei wie auch der Demonstran-
ten gab es bereitsDutzende vonVer-
letzten.Laut der Innenministerin wur-
den seit Beginn derAufstände 477Per-
sonen festgenommen. DieRegierung
zeigte sich am Dienstag offen fürVer-

handlungen unterVermittlung der Uno
oder der katholischen Kirche.
Protestevon Indigenen haben in
den vergangenenJahrzehnten in Ecua-
dor bereits drei Präsidenten gestürzt.
Moreno bekräftigte aber, die beschlos-
sene Streichung von Subventionen für
Tr eibstoff aufrechterhalten zu wollen.
Diese istTeil der Sparmassnahmen,
zu deren Umsetzungsich dieRegie-
rung im Gegenzug für einen Kredit des
In ternationalenWährungsfonds (IMF)
von 4,2 Milliarden Dollar verpflichtet
hat. Ecuador kämpft mit einem hohen
Haushaltsdefizit. Mit den zusätzlichen
Geldern soll die wachsendeAusland-
verschuldungreduziert werden.

Austrittaus der Opec


DieRegierungstreicht nicht nur die
Tr eibstoffsubventionen, sondern baut
auch staatliche Arbeitsplätze ab und
plant einigePrivatisierungen. Mit den
Subventionen versorgte Ecuador seine
Bürger seit den siebzigerJahren mit
günstigem Benzin, Gas und Diesel.
Deren Preise lagen weit unter demWelt-
marktniveau.LautMoreno verzerrte
dies dieWirtschaft undkostete dasLand
seither rund 60 Milliarden Dollar. Durch
denWegfall von Subventionen sind die
Benzinpreise um rund einViertel und
die Dieselpreise um das Doppelte an-
gestiegen. Quito hofft damit jährlich 1,
Milliarden Dollar einzusparen.
Erst letzteWoche liess Ecuador ver-
lauten, dass es zum1. Januar 2020 aus
der Organisation der erdölexportie-
rendenLänder (Opec) austreten wolle.
«Diese Massnahmesteht im Einklang
mit dem Plan derRegierung,die öffent-
lichenAusgaben zu senken und neue
Einkünfte zu generieren», hiess es in
einer Mitteilung. Hintergrund ist die
von der Opec und anderen Erdölstaa-
ten vereinbarte Produktionsdrosselung.
Ecuador strebt dagegen eine höhere
Förderung an.

Demonstrantenblockieren eine Strasse in Ecuadors Hauptstadt Quito. DOLORES OCHOA / AP


Seehofer läuft auf Grund


Deutscher Innenminister kann seine EU-Kollegen nicht vom«Malta-Deal» überzeugen


DANIELSTEINVORTH, LUXEMBURG


Es ist noch gar nicht lange her, da galt
der deutsche Innenminister HorstSee-
hofer als Hardliner in der Migrations-
politik. Der CSU-Chef, der die Migra-
tionsfrage im Sommer 20 18 als «Mutter
aller politischen Probleme» bezeichnet
hatte, wollte Lösungen beim Grenz-
schutz und bei der Zurückweisung
von Migranten wenn nötig im nationa-
len Alleingang durchsetzen. Seitsich
Deutschland,Frankreich, Italien und
Malta vor zweiWochen auf eineVe r-
teilung von Schiffbrüchigengeeinigt
haben, beruft sich Seehofer freilich lie-
ber auf die «EU-Solidarität».Mit einer
Koalition williger Staaten, so erklärte
der Innenminister, wolle er in Sachen
Migration multilaterale Krisenpräven-
tion betreiben – für den ewigen Rivalen
von KanzlerinAngela Merkel sind das
ungewohnteTöne.


Freiwillige Kooperation


In Luxemburg, beimTr effen der EU-Jus-
tiz und -Innenminister, hatte Seehofer
am Dienstag nun Gelegenheit, neben
den vier Unterzeichnerstaaten weitere
Partner für den «Malta-Deal» zu gewin-
nen. Bewusst unverbindlich formuliert,
sieht dieser vor, Migranten, die auf der
zentralen Mittelmeerroute von Seenot-
rettern aufgegriffen werden, innerhalb
von vierWochen auf alle teilnehmenden
Staaten zu verteilen.Wie vieleSchiffbrü-
chige wo landen,könnendie Länder sel-
ber entscheiden, denn dieKooperation
ist freiwillig und kann jederzeit wieder
aufgekündigt werden. Die aufnehmen-
denLänder sind dann allerdings auch
für die Asylverfahren und damit für die
Rückführung von Migranten zuständig.


Mit demVersprechen, einViertel der
Geretteten aufzunehmen, war Seehofer
sogleich vorgeprescht.Auch sein franzö-
si scher Amtskollege Christophe Casta-
ner sprach von einer solchen Quote.
Beim Innenministertreffen war Cas-
taner, der wegen desTerroranschlags
vonParis vor derRechtskommission
des französischenParlaments aussagen
musste, nun allerdings gar nicht erst er-
schienen. Und so fiel dieAufgabe, keine
Fortschritte zu verkünden, imWesent-
lichen Seehofer zu: Schon imVorfeld
des Gipfels hatte dieser beschwichtigt,
dass es in Luxemburgnicht darum gehe,
einen Beschluss zu fassen, sondern den
«Notfallmechanismus» von Malta vor
grosserRunde vorzustellen. Einen Be-
geisterungssturm löste die «gemeinsame
Absichtserklärung für einkontrolliertes
Notfallverfahren», wie das fünfseitige
Papierüberschrieben ist, dort freilich
nicht aus. Nur zwei EU-Staaten– Por-
tugalund Luxemburg – erklärten ihre
Zustimmung, zwei weitere – Irland und
Litauen – sollen nach Angaben der
Schweizer Bundesrätin KarinKeller-
Sutter dem Deal immerhin grundsätz-
lich offen gegenüberstehen.

Schweiz «nicht überzeugt»


Als assoziiertes Schengen- undDublin-
Mitglied liess es sich die Schweiz nicht
nehmen, Seehofers Pläne inAugen-
schein zu nehmen.Keller-Sutter sagte,
dass das im Malta-Papier vorgesehene
Umverteilungssystem für Flüchtlinge
«mit Mängeln» behaftet sei. Sie habe
die Diskussion mit ihrenKollegen aller-
dings auch erst als«Vordiskussion» für
ein echtesVerteilsystem begriffen, das
die Prüfung der Asylgesuche an den
EU-Grenzen umfasse, erklärte dieBun-

desrätin vorJournalisten.Mit dieser
skeptischen Haltung stehe die Schweiz
nicht alleine da. Staaten wieDänemark,
Schweden, die Niederlande oder Öster-
reich teilten die Ansicht, dass es nicht
angehe,auch solchePersonenumzuver-
teilen, diekeine Asylgründe hätten, so
Keller-Sutter, die dem Eidgenössischen
Justiz- undPolizeidepartement vorsteht.
Dass der Malta-Deal letztlich nur
eine Lösung für die Mittelmeerroute
bietet, obwohl sich die viel grösse-
ren Flüchtlingsbewegungen derzeit an
den Südostgrenzen Europas abspielen,
machten vor allem die Anrainerstaaten
Bulgarien, Griechenland und Zypern
geltend.Tr otz dem anhaltenden Zu-
strom werde die östliche Mittelmeer-
route nicht ausreichend beachtet, heisst
es in einem Dokument, das die drei EU-
St aatenin Luxemburgvorstellten.Tat-
sächlich waren Seehofer und Castaner
sowie der EU-Migrationskommissar
DimitrisAvramopoulos erst kürzlich
nach Ankaraund Athen gereist, um für
eine bessere Umsetzung desTürkei-Ab-
kommens zu sorgen.
Dieses sieht vor,dass Griechen-
land illegalauf die Ägäisinseln gereiste
Migranten zurück in dieTürkei schicken
kann, während die EU im Gegenzug
syrische Flüchtlinge aus derTürkei auf-
nimmt. Schon seit Monatensteigen die
Flüchtlingszahlen an Europas Südost-
flanke allerdings wieder an, und ange-
sichts der drohenden Invasion der türki-
schen Armee in Nordsyrien ist auf einen
Rückgang nicht zu hoffen. Der deut-
sche Innenministerkennt das Problem
und weiss,dass der Streit um die See-
notrettung im Mittelmeerderzeit nur
einen Nebenschauplatz darstellt. Seinen
moderatenTon in der Migrationspolitik
kann er sich also leisten.

Gespräche vor dem Aus


Boris Johnson signalisiert Ende der Brexit-Verhandlungen


MARKUS M. HAEFLIGER, LONDON


Vertraute von BorisJohnson haben am
Dienstag eingestanden, dassdie Chan-
cen auf eine Einigung über den Bre-
xit-Vertrag vor dem EU-Gipfel in zehn
Tagen gegen null tendieren. Anonyme
Quellen im Premierministeramt be-
zogen sich auf einTelefongespräch, das
Johnson mitAngela Merkel geführt
hatte. Dabei habe die Bundeskanzlerin
die letzteWoche unterbreitetenVor-
schläge der britischen Seite abgelehnt
und deutlichgemacht, dass die EU
ein«Vetorecht» darüber in Anspruch
nehme, dass dasVereinigteKönigreich
die Zollunion der EU verlasse. Das sei
nicht akzeptabel.

UndiplomatischeIndiskretion


Die Indiskretion wurde in Berlin und
Brüssel mit Unbehagen erwidert. Mer-
kels Sprecher sagte, man äussere sich
nicht über den Inhalt vertraulicher Ge-
spräche. EU-Rats-Präsident Donald
Tusk warf der britischen Seite in schar-
fenWorten vor, ein «dummes Spiel von
Schuldzuweisungen» zu veranstalten.
Offiziell gehen die Gesprächevorder-
hand weiter. Das nächsteWochenende
gilt als letzterTermin für eine Einigung.
Aus derAufwallung in der Downing
Street wird zweierlei deutlich. Diebri-
tischen Unterhändler sind erstens frus-
triert. Als sie vor einerWoche ihr Ange-
bot unterbreiteten,erwarteten sie, dass
der EU-Chefunterhändler MichelBar-
nier darauf eintreten würde. Für Brüssel
gehtJohnsons Plan jedoch in die falsche
Richtung. Darin soll Nordirland im EU-
Binnenmarkt bleiben – eineKonzes-
sion –,aber aus der EU-Zollunion her-
ausgelöst werden. An der inneririschen

Grenze müssten Zollformalitäten abge-
wickelt werden, die laut London ohne
grenznaheKontrollen auskommen sol-
len. Einen weiteren Haken bildet das
von London vorgeseheneVeto der der-
zeit suspendiertenRegionalregierung in
Nordirland.

Wink mit dem Zaunpfahl


Der zweite Grund für die unfreund-
licheÖffentlichkeitsarbeit vonJohn-
sons Entourage ist das Bestreben, ande-
ren Akteuren – dem Unterhaus, den Ge-
richten, der EU oder auch Berlin – die
Schuld an einem Scheitern zuzuschie-
ben.Johnsons Chefstratege Dominic
Cummings treibt einenvertragslosen
Brexit voran, obwohl dieRegierung
durch das Benn-Gesetz gezwungen ist,
eineVerlängerung der Brexit-Frist zu
beantragen, falls keine Einigung zu-
stande kommt. DerPremierminister
will sich dem Buchstaben des Gesetzes
beugen, aber dessen Inhalt durchkreu-
zen, wann immer es geht.Kommt es zur
Verlängerung, will er mit einer No-Deal-
Plattform in denWahlkampf.
Der «Spectator» veröffentlichteein
anonymes Schreiben, das demWochen-
magazin zugespielt worden war.Man
darf annehmen, dass es von Cummings
stammt. Es verdeutlicht die Obstruk-
tions-Strategieund droht EU-Mitglie-
dern, die sich dem Brexit entgegenstel-
len, mit nachteiliger Behandlung, wäh-
rend andere,die sich gegen eineFrist-
verlängerung aussprechen, bevorzugt
behandelt würden. Die Drohung soll
auch für die Sicherheitszusammenarbeit
gelten, einWink mit dem Zaunpfahl an
osteuropäische EU-Staaten. Die Anzei-
chen, dass die Brexit-Verhandlungen in
Bitterkeit enden, mehren sich.
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