Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

6INTERNATIONAL Mittwoch, 9. Oktober 2019


Italiens


Parlament


schrumpft


Die Zahl der Abgeordneten
inRom sinkt um über 300.
DieReform ist eine Spätfolge
des Unmuts in der Bevölkerung
über diePolitik, der sich
vor zehnJahren breitmachte.

ANDRESWYSLING,ROM


ItaliensParlament stutzt sich selber
zurecht: Statt 630 Abgeordnete und
315Senatoren soll es künftig nur noch
deren 400 beziehungsweise 200 geben;
hinzukommen 6 Senatoren auf Lebens-
zeit. Das Abgeordnetenhaus stimmte
am Dienstag derVerfassungsänderung
mit 553 zu 14 Stimmen zu.Dassdas
Referendum dagegen ergriffen wird,
scheint unwahrscheinlich, dieVerklei-
nerung desParlaments ist in der Öffent-
lichkeit sehr populär.

100 Millionen Euro gespart


Dass ein verkleinertesParlament eine
besserePolitik machen wird als jenes
in alter Grösse, wird bezweifelt. Die
Massnahme soll aber Einsparungen
in der Höhe von etwa 100 Millionen
Euroermöglichen. Das ist nicht we-
nig, wenn auch kaum entscheidend
für das Gleichgewicht des Staatshaus-
halts. Eine strukturelleReform bringt
dieVerfassungsänderung nicht. Gedan-
kenspiele über die Abschaffung des
Senats oder über dessen Umwandlung
in eine Kammer derRegionen wurden
fallengelassen.
Einschneidender für das politische
System Italiens wird der bevorstehende
Kampf um dasWahlsystem. Dierechts-
populistische Lega von Matteo Salvini
will mit einemReferendum das geltende
Wahlgesetz – es vereinigt Elemente von
Proporz und Majorz und kam in der
letztenWahl 20 18 erstmals zur Anwen-
dung – umkrempeln. Alle Proporzele-
mente sollen wegfallen, entstehen soll
einreines Majorzsystem mit Einerwahl-
kreisen nach britischemVorbild. Ein sol-
ches begünstigt starkeParteien, und die
Lega fühlt sich derzeit stark, sie hofft auf
denDurchmarsch in der nächstenWahl.
Ob ein nachträglichesReferendum zu
einem Gesetz überhaupt möglich ist, das
längst in Kraft ist, muss das Kassations-
gericht entscheiden.
DiestarkzersplittertenParteien der
Regierungsmehrheit fühlen sich jeden-
falls von der Lega bedroht. Sie haben
sich im Grundsatz auf eineWahlreform
in Richtung Proporzsystem geeinigt. Sie
soll in denkommenden Monaten durchs
Parlament gehen.Wie sie genau aus-
sieht, ist noch offen. Die nächsteWahl
ist erst Anfang 2023 zu erwarten. Die
amtierenden Abgeordneten und Sena-
toren haben wenig Interesse an einer
vorzeitigenAuflösung desParlaments,
da ihreWiederwahlchancen bei einer
reduzierten Zahl von Sitzen gesunken
sind. Sie werden möglichst bis zum Ende
der Legislaturperiode auf ihren Sesseln
ausharren wollen.

FürstlicheLöhne


Die Selbstamputation desParlaments
ist eine Spätfolge des grossen Unmuts
über diePolitik und diePolitiker, der
sich vor etwa zehnJahren imLand breit-
machte, in Zeiten vonWirtschaftskrise
und Skandalen ohne Ende. Damals ver-
anstaltete der Brachialkomiker Beppe
Grillo seine «Vaffa-Days», an denen
empörteVolksmengen dieregierende
«Kaste» lauthals zumTeufel wünschten.
Den Italienern wurde vorgerechnet,
dass ihrLand über eines der teuersten
Parlamente derWelt verfügte. Die Dia-
gnose war schnell gemacht: zu vielePar-
lamentarier mit zu hohen Bezügen und
Renten. Die Bruttobezüge sind mit bis
zu 16000 EuroproMonat auch heute
noch die höchsten in Europa. DieRen-
ten wurden gekürzt,auf2500 bis 7500
EuroproMonat, jenach Amtsdauer.
Doch dieForderung nach derVerklei-
nerung desParlaments blieb stehen und
fand schliesslich Zustimmung beiRech-
ten wie bei Linken. Sie hatten Angst vor
dem Unmut derWähler.

Wahlmarathon in Tunesien


Bei der Parlamentswahl wurdenetablierte Parteienabgestraft – amSonntag wählt das Land nun den Präsidenten


SARAH MERSCH, TUNIS


Eine niedrigeWahlbeteiligung und ein
zersplittertes Parlament ohne klare
Mehrheiten, so lässt sich das Ergebnis
der Parlamentswahl zusammenfassen,
die am 6. Oktober inTunesien statt-
gefunden hat. Mehr als 1500 Listen sind
in den 33Wahlkreisen angetreten. Die
Vielzahl an Kandidaten scheint viele
Tunesierinnen undTunesier aber abge-
schreckt zu haben. EinWahlkampf, der
von der Präsidentschaftswahl überlagert
und vonVorwürfendes Stimmenkaufs,
illegaler ausländischerWahlkampffinan-
zierung und der Manipulation geprägt
war, tat sein Übriges. Letztlichhaben am
Sonntag nur rund 41 Prozent derWahl-
berechtigten ihreStimme abgegeben.


SchwierigeRegierungsbildung


Bereits wurden in allen Wahlkrei-
sen die Stimmen ausgezählt.Das Er-
gebnis muss aber noch von derWahl-
behörde bestätigt werden, die unter
anderemVorwürfe des Stimmenkaufs
untersucht.Das definitiveResultat soll
voraussichtlich am Mittwoch verkün-
det werden.Viel dürfte sich am gegen-


wärtigen Stand der Dinge jedoch nicht
mehr ändern.
Ausnahmslos vondenWählern ab-
gestraft wurden jeneParteien, die sich
nach dem politischen Umbruch 2011 an
den verschiedenenRegierungen betei-
ligt hatten. Die muslimisch-konserva-
tive Nahda-Partei bleibt mit knapp 20
Prozent der Stimmen stärkste Kraft. Sie
wird aber nur rund einenViertel der 217
Abgeordneten im neuenParlament stel-
len. Seit den ersten freienWahlen 2011
hat sie in absoluten Zahlen rund zwei
Drittel ihrerWählerstimmen eingebüsst.
Noch bitterer ist derWahlausgang für
diePartei NidaaTounes, die der imJuli
verstorbene Präsident Beji Caid Essebsi
2012 gegründet hatte.Bei denWahlen
2014 wurde die Sammlungsbewegung
noch stärkste Kraft. Doch durch ihre
Koalition mit der Nahda, dem ehemali-
gen Gegner, hat sie sich gewissermassen
ihrerDaseinsberechtigung beraubt. Die
Partei zerfiel in ihre Einzelteile. Nun er-
hielt sie nur knapp ein Prozent der Stim-
men und muss sich wohl mit drei Sitzen
im neuenParlament begnügen. Zweit-
stärkste Kraft wird mit derzeit 15 Prozent
der Stimmen wohl die populistischePar-
tei QalbTounes, die der Medienmogul

und Präsidentschaftskandidat Nabil Ka-
roui erst im Sommer gegründet hat.
Eine Regierungsbildung ist unter
diesenVorzeichen nur schwer mög-
lich. Selbst wenn sich die beiden stärks-
tenParteien, Nahda und QalbTounes,
zu einerKoalition entschliessen, sind
sie für eine Mehrheit auf die Unter-
stützung weitererParteien angewiesen.
HeftigeAuseinandersetzungen zwischen
denFraktionen drohen die Arbeit des
Parlaments in denkommenden fünfJah-
ren zu lähmen.

Kandidatin Untersuchungshaft


WelchenWeg Tunesien einschlägt, wird
auch davon abhängen, wen die Bürger
amkommenden Sonntag zum Präsiden-
ten wählen. Er wird in dieser schwie-
rigen Situation vermitteln müssen. In
der Stichwahl treten zwei sehr unter-
schiedliche Kandidaten gegeneinander
an. Medienmogul Nabil Karoui,der mit
der Hilfe einerWohltätigkeitsorganisa-
tion vor allem in verarmtenRegionen
Unterstützer gewonnen hatte, sitzt nach
wie vor in Untersuchungshaft. Gegen
ihn wird wegen Steuerhinterziehung
und Geldwäsche ermittelt.

VergangeneWoche wurden zudem
für Karoui belastende Dokumente
öffentlich.Darin verpflichtet sich ein in
Kanada ansässigerisraelischer Lobbyist,
gegen eine Million Dollar für Karoui ein
Tr effen mit DonaldTr ump und Wladi-
mirPutin zu organisieren. Die Annahme
von Hilfeaus demAuslandkönnte nach
dem tunesischenWahlgesetz illegal sein.
KarouisPartei dementiert, hinter dem
Lobbying-Vertrag zu stehen.Für seine
Kritiker bestätigt derVorfall aber,dass
Karoui nicht nach denRegeln spielt.
Gegen den Medienmogul tritt der
nüchterneRechtsprofessor Kais Saied
an. Ohne nennenswerteFinanzierung
oder einePartei imRücken hat der
61-Jährige in der erstenRunde die meis-
ten Stimmen geholt. Unterstützt wird er
vor allem von jungen, vergleichsweise
gut ausgebildetenWählern. Sie erhof-
fen sich,dass derkonservativeJurist
mit seinerVision einer direkten, dezen-
tralen Demokratie die einstigenForde-
rungen derRevolution an die Spitze des
Staates trägt. Um die Chancengleichheit
zugewähren, hatte Saied nach dem ers-
tenWahlgang angekündigt,seinenWahl-
kampf auszusetzen, solange seinKontra-
hent in Haft sitzt.

Zäh, dogmatisch und unbestechlich

Kosovo bekommt mit dem 44-jährigen Albin Kurti einen «Antikolonialisten» zum Regierungschef


ANDREAS ERNST


Als AlbinKurti sich in der Nacht zum
Montag in einemFahnenmeer feiern
liess, war das einTr iumph, für den er
fünfzehnJahre gekämpft hatte. Dabei
ist der nächsteRegierungschefKosovos
erst 44Jahre alt.«Es gibt Hoffnung»,
teilte er am Morgen seinen Anhängern
viaFacebook mit. «Es gibt Hoffnung
heute, weil ihr gestern mutig wart und
dieRepublik vor dem Zerfall bewahrt
habt.Wir gehen jetzt zusammen an die
Arbeit. DerTag ist gekommen!»
Das klingt ein bisschen nach Er-
lösung. Es ist die Sprache eines Cha-
rismatikers, der notfallsRegeln bricht,
wenn es «das Gemeinwohl» erheischt.
Und tatsächlich:Kurti hatte schonTrä-
nengaspetarden imParlament gezündet,
um die Abstimmung über einen serbi-
schen Gemeindeverband zu verhindern.
Diese Unverfrorenheit machte ihn zum
meistbewundertenPolitikerKosovos,
vor allem beiJungen – aber auch zur
Hassfigur seiner Gegner.Davon gibt
es viele.Nicht nur die politischen Riva-
len aus denRängen der UCK, die er am
Sonntag deklassierte.Auch unter west-
lichenDiplomatenwar der Linksnatio-
nalistlangePersona non grata. Ehe-
maligeWeggefährten beklagen seinen
eisernenFührungswillen: Unterordnung
oderTr ennung, ein Drittes gibt es nicht.


Trotz Krawatte ungezähmt


Irgendeinmal schnitt er sich die Haare
und kaufte Anzug und Krawatte.Sonst
änderte sich wenig auf dem langen
Marsch an die Macht.Kurti warf er-
staunlich wenig ideologischenBallast
ab. Er blieb Nationalist und Kritiker äus-
serer Einmischung.Vor derWahl frag-
ten ihnJournalisten, ob er immer noch
zurVereinigungKosovos und Albaniens
stünde. Das habekeine Priorität, antwor-
teteKurti nonchalant. Zuerst gelte es das
Land aus den Klauen derParteien zu
retten, die es gekapert hätten. Aberam
Recht der Bürger, mittelsReferendum
dieVereinigung der «beiden albanischen
Staaten» zu beschliessen, hälter fest.
Auch das gespalteneVerhältnis zum
eigenen Staat ist geblieben. Bei der Sie-
gesfeier waren keine kosovarischen
Flaggen zusehen. Stattdessen flog der
schwarzeAdler aufrotem Grund, das
Wahrzeichen aller Albaner. Kurti be-
trachtet den Staat in seiner jetzigen
Form als eine Art Leihgabe der west-
lichen Protektoren, die ihm 2008 eine
Verfassung nach ihrem Gutdünken


gaben. Doch «Staaten werden nicht ge-
geben, sondern vonVölkern erkämpft»,
sagte er vorJahren im Gespräch. Um
Belgrad zu beschwichtigen, hatten die
Kosovo-Serben extensive Minderhei-
tenrechte erhalten. Doch Belgrad liess
sich nicht beschwichtigen, sondernkon-
trolliert weiter die serbische Minderheit,
die sich im neuen Staat auch nach einem
Jahrzehnt nicht zu Hause fühlt. Bevor
er mit Belgrad spreche, wolle er mit den
Serben inKosovo sprechen, wiederholte
Kurti imWahlkampf.
Doch die grössteAufgabe ist der
Umbau des neuen und schon verdorbe-
nen Staates.Aus einerVerwaltung, die
derVersorgung derRegierungsklientel
dient, sollen Institutionen werden, die
öffentliche Güter herstellen: Gesund-
heit, Bildung, Rechtssicherheit.Dabei
kommt derJustiz eine zentraleRolle zu.
Um sie schlagkräftig zu machen, sollen
Richter flächendeckend überprüft wer-
den. Nur wer professionell und nicht
käuflich ist, wird weiterbeschäftigt.Das
klingt utopisch, aber es sind dieseVer-
sprechen undKurtis persönliche Un-

bestechlichkeit, die ihm denWahlsieg
brachten.Wichtig dafür war auch die
grosse Unterstützung aus der Diaspora
in der Schweiz, in Deutschland und
anderswo.

Hoffen auf dieDiaspora


VieleAuslandkosovaren fühlen sich der
Heimat verbunden,aber profitierten
nie vom Klientelismus derRegierungs-
parteien.Im Gegenteil: IhreVettern-
wirtschaft hält sie davon ab, imLand zu
investieren. Mit dem Kapital und dem
Wissen der Diaspora, soKurtis Hoffnung,
wird sich wirtschaftlich etwas bewegen.
Weshalb istKurti für viele glaubwür-
dig? Es ist wahrscheinlich dieKongru-
enz von Biografie und Ideologie. 1975 in
Pristina geboren, wurde der Student der
Elektrotechnikwährend der Proteste
der1990erJahre politisiert.1989 hatte
Milosevic dieAutonomieKosovos kas-
siert und ein Apartheidregime etabliert.
Kurti sass zweiJahre in einem serbischen
Gefängnis, aus dem er auf internationa-
len Druck 20 01 entlassen wurde. Doch

das westliche Protektorat,das nach dem
Abzug der Serben entstanden war, be-
hagte ihm nicht: «Das Problem ist nicht
der StatusKosovos, sondern die fehlende
Freiheit seiner Bürger.Und die Ant-
wort darauf heisst Selbstbestimmung»,
sagteer ineinem Interview. 2004 grün-
dete er eine Bewegung mit genau die-
sem Namen:Vetevendosje.2 01 1 nahm
sie erfolgreich an denWahlen teil. Der
Kampf müsse in den Institutionen,aber
auch basisdemokratisch ausserhalb ge-
führt werden, sagte er damals.
Bis heute sieht er sich als Antikolo-
nialist, der gegen serbischeund interna-
tionale Bevormundung kämpft.Verhei-
ratet istKurti mit einer norwegischen
Politikwissenschafterin, die beiden
haben ein Kind und leben bescheiden.
Tr otz seinem Humor wirktKurti auch
dogmatisch, allerdings auf gebildete
Art: Er liest Gramsci,Fanon und an-
dereTheoretiker der Entkolonialisie-
rung. Und man möchte wetten, er hat
auch Lenin gelesen.Vetevendosje ist
dann die «Avantgardepartei». Und sie
klopft jetzt an dieTüreder Macht.

AlbinKurti will den verdorbenen Staatin Kosovo reformieren. VISAR KRYEZIU / AP

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