Mittwoch, 9. Oktober 2019 INTERNATIONAL
Das unerwiderte Liebeslied der Landfrauen
Polens rechtsnationale Regierung überzeugt die Wähler mit Tradition und Sozialpolitik – aber die Provinz stirbt aus
IVO MIJNSSEN,KONSKIE
Die rüstigenDamen sitzen um den ge-
decktenTisch. Als ihr Akkordeonist und
ihrTr ommler die ersten Klänge eines
polnischen Liebeslieds anstimmen, stel-
len sie die Kaffeetassen ab und wischen
die letzten Krümel Zwetschgenkuchen
aus ihren Mundwinkeln. Es ist ein Dia-
log zwischenVerliebten, den die Mit-
glieder derFolkloregruppeRogowi-
anka im unscheinbaren Klubraum ein-
üben, lebensfroh, frech, herausfordernd.
Doch denPart des Mannes übernehmen
dieFrauen: Männer gibt eskeine mehr
im Chor.Von einst dreissig Mitgliedern
sind acht übrig geblieben. IhrDurch-
schnittsalter liegt um die siebzig.
Musik im Blut
«Wir hoffen auf weitereRentnerinnen»,
sagtJadwigaKolba lachend, einerobuste
Frau mit blondierten Haaren, die wie
die anderen Sängerinnen aus dem Dorf
Rogow stammt,gleich ausserhalb der
KleinstadtKonskie.«DieJungen inter-
essiert das kaum – sie spielen lieber auf
ih ren Handys und hörenRockmusik.»
Sie aber habe das Singen im Blut. Die
Frauen zeigen stolz ihreTr ophäensamm-
lung, die sie nicht nur für ihre musika-
lischenAuftritte, sondern auch für ihre
Kochkünste erhalten haben: DieRogo-
wianki sind nämlich auch einLandfrau-
enverein, der letztesJahr unter anderem
den ersten Preis einesWettbewerbs in
Karpfenzubereitung gewonnen hat.
Gesungen haben sie auch schon am
Jubiläum der nationalenPolizei inWar-
schau und für die Gattin des – libera-
len – ehemaligen PräsidentenKomo-
rowski. Obwohl politisch unabhängig,
erhalten Gruppen wieRogowianka von
der nationalkonservativenRegierungs-
parteiRecht und Gerechtigkeit (PiS)
seit deren Machtübernahme 20 15 zu-
sätzliche finanzielle Unterstützung. Jan
Buklad, der Akkordeonist, leitet heute
sechs weitereFolkloregruppen in der
Region, derWoiwodschaft Heiligkreuz.
Als die Rogowianki1986 gegründet
wurden, waren sie noch die Einzigen.
Die PiS präsentiert sich alsVerteidi-
gerinvonPolensTr aditionen undkommt
damit in ländlich geprägtenRegionen
besonders gut an: 20 15 gewann sie im
Kreis (Powiat)Konskie, in dem auch
Rogow liegt, fast die Hälfte der Stim-
men–verglichen mit 37,6 Prozent lan-
desweit. Bei denParlamentswahlen vom
- Oktober kann sie in Heiligkreuz laut
Umfragen mit gegen 60 Prozentrech-
nen. Die wichtigste Oppositionspartei
Bürgerplattform (PO) ist hier kaum prä-
sent, weder aufWahlplakaten noch mit
Büros. Siekonzentriert sichaufdie grös-
seren Städte, wo sie ihreBasis hat.
Im KreisKonskieregiert der Sta-
rost (Landrat) Grzegorz Piec, welcher
der PiS angehört. Erresidiert in einem
mit EU-Geldern sanierten, sozialisti-
schen Büroblock am Stadtrand. «Die
Bevölkerung hier istkonservativ, tradi-
tionsbewusst und katholisch»,weissder
46-jährige ausgebildeteForstingenieur.
Um zu unterstreichen,wie stark er sich
damit identifiziert, hat er eine Minista-
tue von Marschall Pilsudski hoch zu
Ross auf sein Pult gestellt.An derWand
hängt der Säbel eines polnischenAdli-
gen neben dem Gemälde eines Heiligen.
«Weiter wiebisher»
Piec, der für das polnische Unterhaus,
den Sejm, kandidiert, strotzt vor Zu-
versicht. Er selber werde zwar kaum
gewählt, da er auf einem hinteren Lis-
tenplatz stehe,doch die Umfragen für
seinePartei seien so gut, dass sein ein-
zigerWahlslogan«Weiter wie bisher»
laute. Zwar wirktKonskie ärmlich. Ein
Kino oderTheater gibt es nicht, dafür
allein an der Hauptstrasse drei Pfand-
häuser.Doch Piec kann sich rühmen,
dass die Arbeitslosigkeit im Kreis seit
2015 so gut wie halbiert wurde und nun
bei 9,7 Prozent liegt.Das ist fast drei-
malso hochwieder polnischeDurch-
schnitt, doch auch der Provinz geht es
heute umWelten besser als in den neun-
zigerJahren.
Noch wichtiger für den Erfolg der
Nationalkonservativen ist jedoch ihre
Sozialpolitik. Die PiS hat ein wahres
Feuerwerk an neuenLeistungen ge-
zündet: DieFamilien unterstützt sie mit
einem Kindergeld, sie machte die Er-
höhung desPensionsalters rückgängig
und zahlt zusätzlicheRenten aus. Junge
Arbeitnehmer unter 26Jahren müssen
keine Einkommenssteuer mehr bezah-
len, und der Mindestlohn soll bis 2023
auf umgerechnet 10 00 Franken pro
Monat verdoppelt werden.
DiePiSkommunizierte die Massnah-
men mit sicherem taktischem Gespür,
um wichtigeWählergruppen anzuspre-
chen. Sie nimmt für sich in Anspruch, als
erstePartei seit derWende eineSozial-
politik zu betreiben, die diesen Namen
verdient. Dies ist zwar eine Übertrei-
bung, aber das zusätzliche Geld hat die
Nationalkonservativen sehr beliebt ge-
macht. Ein grosserTeil der Bevölkerung
kümmert dasmehr als demokratiepoli-
tisch bedenklicheJustizreformen, Skan-
dale um dubiose Immobiliengeschäfte,
die privateVerwendung von Regie-
rungsflugzeugen undVerleumdungs-
kampagnen gegen unliebsame Richter.
Jan Buklad legt seine Handorgel –
Marke«Weltmeister» – zur Seite. «Wer
kann gegen höherePensionen sein?»,
fragt er rhetorisch. «Die Liberalen
haben nur dasRentenalter erhöht, nie
dieRenten. Bei der PiS ist das umge-
kehrt», meint er anerkennend.Vergli-
chen etwa mit Österreich habePolen
auch so noch viel aufzuholen. Mit ihren
umgerechnet 300 bis 450Franken pro
Monat lebten sie sehr bescheiden, ge-
ben die Sängerinnen vonRogowianka
zu bedenken.
Ganz zufriedensind sie aber nicht
mit derrechtsnationalistischenRegie-
rung. Der Zustand des Gesundheits-
systems habe sich verschlechtert, fin-
den sie unisono. Unter der PiS sei der
Zentralisierungsprozess weitergegan-
gen –weg von den Dörfern, hinein in die
regionalen Zentren. Die älterenFrauen
sind zwar gesund. Doch sie blicken mit
einiger Sorge der Zukunft entgegen.
Überaltertes Land
Nicht nur die Seniorinnen kritisieren die
Gesundheitspolitik. In Meinungsumfra-
gen wirdsie noch vor der Sozialpolitik
als das mit Abstand wichtigsteThema
desWahlkampfs genannt. Sie ist auch
der Punkt, an dem die Oppositions-
parteien ansetzen: Die PO fordert eine
klare Erhöhung derAusgaben für die
Gesundheit. Bei denPensionserhöhun-
gen hat die wirtschaftsliberalePartei
hingegen eineKehrtwendegemacht und
will sogar weiter gehen als die PiS.
DieRegierung behauptet zwar, dass
sie mehr in die Gesundheitsversor-
gung investiere als ihreVorgängerin-
nen, doch Ärztevereinigungen bezeich-
nen die Berechnungsgrundlagen als irre-
führend. Unbestritten ist, dass die Löhne
der Mediziner sehr tiefund dieWarte-
schlangen lang sind.Verbesserungs-
potenzial sieht auch der Starost Grze-
gorz Piec und betont die neuen Inves-
titionen in der Höhe vonumgerechnet
mehreren hunderttausendFranken in
das SpitalvonKonskie. «Aber es gibt ein
Problem beim Zugang zu medizinischen
Dienstleistungen, weil die jungen Ärzte
insAusland abwandern», räumt er ein,
«das Lohngefälle ist einfach zu gross.»
Der Ärztemangel ist nur einSym-
ptom von Polens demografischem
Malaise,wobei die Bevölkerungsent-
wicklung in ländlichenRegionen wie
Heiligkreuz besonders ungünstig ist:
Polens Gesamtbevölkerung stagniert
zwar, da der Abwanderung nachWes-
ten die Zuwanderungaus der Ukraine
gegenübersteht.Doch innerhalb des
Landes ziehen immer mehr Menschen
in das Einzugsgebiet der grossen Städte.
In derWoiwodschaft Heiligkreuz hat
sich die Schrumpfung letztesJahr laut
der Statistikbehörde sogar noch be-
schleunigt.
DieJungen verschwinden, und die
Alten bleiben zurück, nicht nur bei
denRogowianki. Deshalb werden auch
immer weniger Kinder geboren:Leb-
ten in Heiligkreuz 2010 noch so gut wie
gleich vielePersonen unter 14 und über
65 Jahren, sokommen nun 1,38Rentner
auf jedes Kind.Dem Starost Piecbleibt
wenig anderes als ein Schulterzucken
übrig:«Wirkönnen dieJungen ja nicht
davon abhalten, in die Städte zuziehen.»
Immerhin, so Piec,gebe die PiS
mit dem 500+ genannten Kindergeld
Gegensteuer: «InPolen ist esTr adition,
dass dieFrau das Kind erzieht.Wenn
wir ihr das durch 500+ ermöglichen, ist
das ein Gewinn für alle», findet er. Die
Regierungspartei liess sich das 20 16 ein-
geführte Programm bis April umgerech-
net bereits17,5 MilliardenFrankenkos-
ten. Nun wird es ausgebaut: Statt ab dem
zweiten erhalten dieFrauen bereits für
das erste Kind einen steuerfreien Zu-
schuss von125 Franken pro Monat.
Wenig wirksamesKindergeld
Ausbezahlt wird dieser in bar durch die
Mops genannten Sozialhilfezentren,
etwainStarachowice, 60 Kilometer öst-
lich vonKonskie. Fast 30 00 Familien
profitieren in der Kleinstadt mit ihren
50000 Einwohnern von 500+, das etwa
einen Drittel der gesamten Sozialaus-
gaben ausmacht, wie Dorota Ciesliker-
klärt. Die Direktorin des Mops freut sich
zwar darüber, dass Hunderte vonFami-
lien, die bisher von Sozialhilfe lebten,
durch das Kindergeld mehrRessourcen
zurVerfügung haben. «Doch darüber
hinaus bringt das Programm wenig.»
Die Erfahrungen, die Cieslik und ihre
Kolleginnen in der Praxis machen, bestä-
tigen viele Kritikpunkte von Experten.
So ist in Starachowicekeine Erhöhung
der Geburtenrate festzustellen – ge-
nauso wenig wie inPolen, wo dieKenn-
zahl nach einer leichten Zunahme 20 18
wieder zurückgegangen ist. Dies erstaunt
Cieslik nicht. Sie bezweifelt, dassPolin-
nen nur aufgrund des Kindergelds län-
gerfristige Entscheidungen treffen.
Zum einen wisse niemand, wie lange
das Programm wirklich finanzierbar sei,
zum anderen sei Geld nicht unbedingt
der entscheidendeFaktor: «DieRegie-
rung kümmertsich viel zu wenig um
Kindergarten- und Krippenplätze sowie
ausserschulische Angebote. Zudemläuft
500+ mit dem Ende des18.Lebensjahrs
aus –Hilfebei derFinanzierungdes Stu-
diums gibt eskeine.» Dies wäreinPolen,
wo die Eltern ihreHoffnung auf sozia-
lenAufstieg stark mit Bildung verbin-
den, aber besonders wichtig.
Aus Sicht der Sozialarbeiterinnen
hat das Programm sogarkontrapro-
duktive Effekte. Sie sind überzeugt da-
von,dasses dieFrauen zuPassivität er-
zieht. Anreize, zu arbeiten, schaffe es
keine, und die mangelnde Infrastruktur
für die Betreuung erschwere dieRück-
kehr in den Beruf nach derBabypause.
«Mehrere meiner Mitarbeiterinnen sind
in den letztenJahren deshalb nicht zu-
rückgekommen»,beklagt Cieslik. Um
effizienter zu wirken, müsste 500+ ihrer
Meinung nach mit einerReihe vonFör-
dermassnahmen verzahnt werden.
«Schlussmit den Fragen!»
Die sozialenWohltaten, die die PiS über
dasLandregnen lässt, sind bei denWäh-
lern jedoch so beliebt, dass dieRegie-
rungspartei wenig Grund hat, die Kri-
tik zu berücksichtigen. Mit derKom-
bination von Sozialpolitik undkonser-
vativem Gesellschaftsbild hat sie eine
machtsicherndeFormel gefunden.
Fragen zur längerfristigenFinanzier-
barkeit und zur zunehmenden Schief-
lage desPensionssystems wischt sie zur
Seite: DiePolen, das hat die PiS ver-
standen,wollen nachJahrzehnten des
Übergangs ihren Lebensstandard ge-
niessen. Genug von denFragen hat nun
auchJadwigaKolba von derFolklore-
gruppeRogowianka. «Schluss jetzt, ich
will singen!», ruftsie gebieterisch in die
Runde. Die rüstigenDamen gebenein
letztes Liebeslied zum Besten, bevor sie
auf ihrenFahrrädern in die Nacht ver-
schwinden.
Polen ist ein Land derKontraste–die boomenden Städte stehen der oft tristen Provinz gegenüber. R. ESPINOZA / FLICKRVISION/ GETTY
Regierungspartei steht vor dem Sieg
mij. · Polens rechtsnationale Regie-
rungsparteiRecht und Gerechtigkeit
(PiS) steht vor einem neuerlichenWahl-
sieg. In denletzten Umfragenkommt sie
auf fast 50 Prozent der Stimmen, was 10
Prozentpunkte mehr wären als vor vier
Jahren. Bereits das damaligeResultat
reichte knapp für eine absolute Mehr-
heit im Unterhaus, dem Sejm, weil der
Wahlsiegereinen Bonus an Sitzenerhält.
Eine Zweidrittelmehrheit, mit der sie die
Verfassung ändernkönnte, ist dennoch
eher unwahrscheinlich.
In ihrerRegierungszeit sorgte die
PiS für zahlreicheKontroversen, wobei
dieJustizreformPolen aus Brüssel ein
Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7
des EU-Vertrags einbrachte. Innenpoli-
tisch punktete diePartei jedoch mit ihrer
Sozialpolitik und einer kulturkämpferi-
schen Bewirtschaftung des Stadt-Land-
Grabens. So warnte die Regierung
immer wieder vor den angeblichen Ge-
fahren, die der traditionellen, katholi-
schen Lebensweise derPolen durch die
«LGBT-Ideologie» drohten.
Die Stärke der PiS ist jedoch auch
die Schwäche der Opposition. Diese
zeigt sich zerstritten und führungs-
schwach. Symptomatisch dafür war
die Entscheidung der grössten Oppo-
sitionspartei Bürgerplattform, ihren
Spitzenkandidaten Grzegorz Schetyna
wegen seiner grossen Unbeliebtheit
Anfang September durch eine wenig
bekanntePolitikerin auszutauschen. Im
Vorfeld derParlamentswahl zerbrach
auch das kurzzeitige Bündnis mit der
Bauernpartei PSL an unüberwindbaren
inhaltlichen Gegensätzen. Die PSL tritt
ebenso mit einer eigenenWahlallianz
an wie die Linke.Diesekönnte mit
13 Prozent der Stimmen drittstärkste
Kraft werden.
Einigkeit demonstriertdie Opposi-
tion im Kampf um den Senat, der gegen-
über dem Sejm eineKontrollfunktion
ausüben kann. Hier haben dieParteien
Einheitskandidaten für 99 der 100Wahl-
kreise aufgestellt.Das Problem der eige-
nen inhaltlichen Schwäche lösensie da-
mit aber nicht.
NZZ
Dorota Cieslik
Direktorin
Sozialhilfezentren
Mops
Grzegorz Piec
Starost (Landrat)
des Kreises
Konskie
xx Kilometer NZZ Visuals/xxx.
KonskieKonskie StarachowiceStarachowice
HEILIGKREUZHEILIGKREUZ
Warschau
POLEN
300 Kilometer NZZ Visuals/joe.