Süddeutsche Zeitung - 02.10.2019

(avery) #1
von jens bisky

W

ann hat die Gegenwart be-
gonnen, jenes Kuddel-
muddel, in dem sich die
Europäer, ob sie es wollen
oder nicht, zurechtfinden
müssen? 2016, als die Briten für den Brexit
votierten und Donald Trump zum Präsi-
denten gewählt wurde? Mit der Weltfinanz-
krise und dem Zusammenbruch von Leh-
man Brothers? Mit den Terroranschlägen
vom 11. September 2001? Oder schon im
Jahr 1979, als Margaret Thatcher Premier-
ministerin wurde, im Iran die islamische
Revolution siegte und die Sowjets in Afgha-
nistan einmarschierten? Wer die Krise der
liberalen Demokratien, den dramatischen
Legitimationsverlust von Marktwirt-
schaft, Freihandel und Globalisierung,
den Aufstieg autoritärer Politiker und
rechtsnationalistischer Parteien verste-
hen will, wird am besten auf das Befrei-
ungsjahr 1989 zurückblicken.
„Der Sozialismus hat verloren, der Kapi-
talismus hat gewonnen“, hieß es damals
imNew Yorker, Francis Fukuyama prophe-
zeite der freien Marktwirtschaft wie der li-
beralen Demokratie eine alternativlose Zu-
kunft. Millionen Osteuropäer, die ihre Dik-
taturen abgeschüttelt hatten, nutzten die
gerade erstrittenen Freiheiten, um sich ei-
ne neue Existenz aufzubauen.
Internationale Finanzorganisationen
und lateinamerikanische Schuldnerlän-
der beschlossen 1989 den „Washington
Consensus“, der eine strenge Austeritäts-
politik vorsah und Liberalisierung, Deregu-
lierung, Privatisierung empfahl. Schon im
Herbst folgte die erste postkommunisti-
sche Regierung in Warschau den Empfeh-
lungen und verordnete Polen eine „Schock-
therapie“, die damals freilich noch nicht so
genannt wurde.
Dennoch wussten alle, dass dem Land
massive soziale Verwerfungen bevorstan-
den und dennoch unterstützen auch Linke
aus der Gewerkschaft Solidarność und An-
hänger der katholischen Soziallehre das
neoliberale Reformprogramm. Damals er-
reichte Polen pro Kopf lediglich ein Drittel
des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Euro-
päischen Gemeinschaft, zweieinhalb Jahr-
zehnte später war das BIP pro Kopf auf
zwei Drittel des westeuropäischen Durch-
schnitts gestiegen. In nur fünfundzwanzig
Jahren habe sich der Abstand zum Westen
halbiert, schreibt der Historiker Philipp
Ther in seinem neuen Buch „Das andere
Ende der Geschichte“. „Diese Konvergenz,
auch bei den Einkommen, ist außerge-
wöhnlich, zuletzt hatte im 19. Jahrhundert

Deutschland gegenüber England, dem Vor-
reiter der Industrialisierung, ähnlich stark
aufgeholt“.
Allerdings, fügt Ther hinzu, habe das
wilhelminische Kaiserreich, den Wohl-
stand für den Aufbau eines Sozialstaates
genutzt, während in den Ländern Ostmit-
teleuropas die Sozialleistungen von 1990
bis 2015 reduziert wurden. Erst die derzeit
in Polen regierende rechtskonservative
PiS hat mit dem Kindergeldprogramm
„500 Plus“ die Lage vieler Familien deut-
lich verbessert. Zugleich gefährdet sie mit
Reformen die Unabhängigkeit der Justiz,
versucht, Bildungsanstalten und Medien
auf Linie zu bringen, verschärft nationalis-
tische und anti-liberale Propaganda. Ist
auch das postkommunistische Muster-
land der neoliberalen Transformation auf
dem Weg in die „illiberale Demokratie“?

Die Gegenwart sieht anders aus, als es
die triumphalistisch Verblendeten, aber
auch die intelligenten Reformer nach dem
Ende des Kalten Krieges erwartet hatten.
Der Frage, was da schiefgelaufen sei, spürt
Philipp Ther in sechs Essays nach. Sie gehö-
ren zu den interessantesten unter den vie-
len neuen Zeitdiagnosen.Wie in seiner gro-
ßen „Geschichte des neoliberalen Europa“
(2014) verbindet er Sozial- und Politikge-
schichte mit Anschauung. Er kennt sich in
Berlin und Frankfurt an der Oder ebenso
aus wie in Prag und Warschau, Washing-
ton, New York, Florenz oder Wien, wo er
lehrt. Und vermeidet Rechthaberei und Be-
scheidwissertum gleichermaßen.
Wenn er fragt, ob es „eine Kontinuität
vom Neoliberalismus zum Illiberalismus“
gebe, steht die Antwort nicht von vornher-
ein fest. Ther greift Überlegungen Karl Po-
lanyis auf, der in „The Great Transformati-
on“ (1944) die Umwandlung traditioneller
Gesellschaften in liberale Marktwirtschaf-
ten untersucht hatte. Polanyi ging von ei-
ner Pendelbewegung zwischen dem Prin-
zip des freien Marktes und dem „sozialen
Schutzbedürfnis“ aus, das befriedigt wer-
den muss, wenn eine tiefgreifende Umwäl-
zung nicht aus dem Ruder laufen soll.
Auch nach 1989 gab es dieses Muster
von radikalem Umbruch und Überforde-
rung. Seit den Neunzigerjahren greifen
Rechtspopulisten das „soziale Schutzbe-
dürfnis“ auf, in postkommunistischen
Ländern wie in den Demokratien des Wes-
tens. Ihr illiberales Weltbild geht einher

mit dem Versprechen, vor Konkurrenz, Zu-
wanderung, Kriminalität zu schützen, die
nationale Kultur und tradierte Familien-
modelle zu bewahren.
Erfrischend ist, dass Ther die Rechtspo-
pulisten nicht dämonisiert, sondern vor
der eigenen Haustür kehrt. Er sucht nach
Gründen für die Schwäche von Liberalen,
Sozialdemokraten, Linken. Sein Porträt
der USA nach 1989 endet mit dem Bekennt-
nis, er sei nicht sicher, ob er als Amerika-
ner die Demokraten wählen würde, zu
groß seien die sozialen Probleme in deren
Hochburgen an der Ost- wie an der West-
küste. Knapp und scharf resümiert er den
„deutschen Sonderweg“ der Vereinigung,
der zu einem beispiellosen Zusammen-
bruch der Wirtschaft in Ostdeutschland
führte und mit der Pazifizierung der Be-
troffenen durch Sozialleistungen einher
ging, bis die 1990 vermiedenen Reformen
unter Gerhard Schröder nachgeholt wur-
den. „Während die Währungsunion eine ra-
sche Angleichung an den Westen zum Ziel
hatte, brachten Hartz IV und vor allem der
Billiglohnsektor (...) eine Anpassung der Ar-
beitskosten an die damals in Polen und der
Tschechischen Republik gängigen Löhne
mit sich“. Ther nennt das eine „Kotransfor-
mation der gesamten Bundesrepublik“. Al-
lerdings änderte das wenig am den Proble-
men Ostdeutschlands. Trotz gigantischer
Transferzahlungen haben die ostdeut-
schen Bundesländer pro Kopf ein kaum
größere Wirtschaftsleistung erreicht als
die Tschechische Republik. Spricht das für
neoliberale Reformen oder für staatliche
Hilfsprogramme? Oder für eine Mischung
aus beidem?
Ther skizziert auch den Abstieg Italiens
und fragt nach dem Verhältnis der Europäi-
schen Union zur Türkei und zu Russland.
Bei allen Unterschieden wird deutlich,
dass Globalisierung und offene Gesell-
schaften einen ausgebauten Sozialstaat
voraussetzen, wenn die Mehrheit sie dau-
erhaft akzeptieren soll, dass neben Wachs-
tumszahlen das Schutzbedürfnis ernst ge-
nommen werden muss, was für Investitio-
nen in Infrastruktur, Bildungsanstalten,
öffentliche Verwaltung – die Institutionen
des Gemeinwohls – spricht. Die Menschen-
würde stand im Zentrum der Revolutio-
nen von 1989. Philipp Ther zeigt in seinen
Essays, warum es an der Zeit ist, sie wieder
mehr in den Vordergrund zu stellen, und
was das praktisch heißt.

Philipp Ther:Das andere Ende der Geschichte.
Über die Große Transformation. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2019. 200 Seiten, 16 Euro.

Ein besonderes Rätsel bei vielen Fotogra-
fien ist die Rolle des Fotografen. Wie hat er
sich den Menschen genähert? Hat er sie
umworben? Überrumpelt? Gedrängt, sich
natürlich zu geben, oder ihre verkrampf-
ten Posen gezeigt, darauf vertrauend, dass
Gestelltes besonders entlarvend wirkt?
Wo war sein Standpunkt, was seine Metho-
de?
Bei den Bildern von Liu Heung Shing
stellt sich diese Frage nicht, weil er sich als
Fotograf praktisch zum Verschwinden
bringt. Selbst auf Bildern, auf denen die
Menschen direkt in die Kamera schauen,
ist er als Fotograf nirgends spürbar, son-
dern körperlos, fast drohnenhaft ent-
rückt. Die Fotografierten sehen so versun-
ken und selbstvergessen aus, so sehr mit
sich und ihrem Dasein beschäftigt, dass
man ihnen eine Warnung zurufen möchte,
damit sie sich dem Auge der Kamera nicht
so bedenkenlos ausliefern. Liu Heung
Shing fotografiert, als habe jemand dem
Leben die Haut abgezogen.
Und in gewisser Hinsicht war das auch
so, oder wie will man diese Jahre sonst nen-
nen, als China und die Sowjetunion, die bei-
den kommunistischen Riesenreiche, ins
Taumeln gerieten, das eine nach dem To-
de Maos, das andere durch die Konvulsio-
nen nach dem Afghanistan-Einmarsch,
nach Perestroika und Glasnost? Der gewal-
tige Bildband „A Life in a Sea of Red“ zeigt
Bilder, die Liu Heung Shing damals als Fo-
tojournalist für die Agentur AP aufnahm,
und man kann sich in ihnen verlieren wie
in einem lange verschlossenen Raum, des-
sen Tür sich endlich öffnet.
Kein anderer als Liu hätte den Schlüssel
gehabt. Geboren in Hongkong, aufgewach-
sen im maoistischen China als verachteter
Sohn von Grundbesitzern, ausgebildet in
New York, besaß Liu das Wissen aus zwei
Welten. Als er 1976 nach China kam, war er
der Idealfall eines Außenseiters, der ei-
gentlich ein Insider ist. Nur er, der die Kne-
belung selbst erfahren hatte, erkannte die
verstohlenen Gesten der Erleichterung,
las die Anspannung in den Gesichtern von
Maos Nachfolgern. Er begriff die stille Sen-

sation in den Zeichen der neuen Zeit, den
dunklen Sonnenbrillen der Jungs, der An-
kunft erster amerikanischer Staatsgäste,
dem Schwung eines Rollschuhfahrers un-
ter dem Monument des Großen Vorsitzen-
den. Der Junge umrundet den mächtigen
Sockel auf einem Bein, die Arme ausgebrei-
tet, als flöge er an den Schrecken der Ver-
gangenheit einfach vorbei.
Viele von Lius Bildern schrieben Fotoge-
schichte, wie auch jene Aufnahme nach
dem Sturm auf den Platz des Himmli-
schen Friedens (unsere Abb.) : Oben auf der
Brücke rollt ein Panzer mit zwei Soldaten
darin, unter der Brücke verbirgt sich ein
Paar auf einem Fahrrad, vier Leben, zwei
Geschichten, eine Tragödie. Das Bild war
damals auf den Titeln aller Zeitungen der
Welt. Und man wird ein wenig nostalgisch,
weil man sich kaum noch ein Bild vorstel-
len kann, das im digitalen Bildersturm die-
ser Tage diese Wirkung entfalten könnte.

So erinnert „Life in a Sea of Red“ auch
an jene fruchtbare Zeit, als die Kameras
tragbar und vielseitiger einsetzbar wur-
den, aber das Handy noch nicht erfunden
war. Als Liu im Dezember 1991 Michail Gor-
batschow fotografierte, als dieser vom Pos-
ten des Generalsekretärs der Sowjetunion
zurücktrat, stieß er an die Grenzen der
Technik: Um den winzigen Augenblick zu
erwischen, in dem Gorbatschow die Rück-
trittsurkunde zuklappte, wählte Liu eine
Belichtung, die auch zu einem unbrauch-
baren Bild hätte führen können. Sie tat es
nicht, und Liu war das Bild von der Implosi-
on der Sowjetunion gelungen. Selten sah
das Ende eines Imperiums so friedlich, so
menschlich aus wie hier. sonja zekri

A Life in a Sea of Red:Photojournalism by Liu
Heung Shing. Steidl Verlag, Göttingen 2019. 288
Seiten,195 Abbildungen 85 Euro.

Wo steht


der Fotograf?


Liu Heung Shings Bilder des Kommunismus


Wir 89er


Vom Neoliberalismus zum Illiberalismus: Der Historiker


Philipp Ther fragt nach dem „anderen Ende der Geschichte“


Paar unter Panzern: Lius Aufnahme nach dem Sturm auf den Platz des Himmlischen Friedens wurde weltberühmt.FOTO: STEIDL

Wer befriedigt das soziale
Schutzbedürfnis nach der
großen Transformation?






      1. Oktober, Zürich
        Missverstehen. Zu einer Urszene der
        Hermeneutik. Mit Cornelia Richter,
        Monika Schmitz-Emans u. a.Universi-
        tät, Tel. (0041) 44 634 47 51.









      1. Oktober, Siegen
        Kriegsversehrungen im 20. Jahrhun-
        dert in europäischer Perspektive. Mit
        Angela Schwarz, Sabine Schleiermacher
        u.a.Universität, Tel. (0271) 740 3921.









      1. Oktober, Karlsruhe
        30 Jahre ZKM. Jubiläumsfestival. Mit
        Jeffrey Shaw, Peter Weibel u. a.Zentrum
        für Kunst und Medien, Tel. (0721) 8100 -







  1. Oktober, München
    Mein Kleist: Und jeder Busen ist, der
    fühlt, ein Rätsel. Vortrag von Dagmar
    Leupold.Bayerische Akademie der Schö-
    nen Künste, Tel. (089) 29 00 77 - 0.





      1. Oktober, Halle/Saale
        Haeckels ambivalentes Vermächtnis.
        Biologie, Politik und Naturphiloso-
        phie. Mit Christina Brandt, Hauke Hei-
        denreich u.a.Leopoldina-Zentrum für
        Wissenschaftsforschung, Tel. (0345) 472
        39 118.









      1. Oktober, Frankfurt a. M.
        Die Ästhetik vermischter Empfindun-
        gen in der Gegenwartskultur. Mit
        Heinz Drügh, Marvin Baudisch u. a.Uni-
        versität, Tel. (069) 798 32 698.





  2. Oktober, Essen
    Zukunftshandeln in globalen Krisen
    und Systemwechseln: Bundesdeut-
    sche Praktiken in den 1970/80er
    Jahren. Vortrag von Frank Bösch.Kultur-
    wissenschaftliches Institut, Tel. (0201) 72
    04 - 0.





      1. Oktober, Jena
        Gesellschaft als staatliche Veranstal-
        tung? Orte politischer und kultureller
        Partizipation in der DDR. Mit Jörg
        Ganzenmüller, Bertram Triebel u. a.
        Universität, Tel. (03641) 944 400.









      1. Oktober, Berlin
        Hans Blumenberg: Neue Zugänge zum
        Werk. Mit Ralf Konersmann, Petra Geh-
        ring u. a.Akademie der Künste, Tel. (030)
        200 57 2000.









      1. Oktober, Ettal
        Naturkatastrophen. Mit Ulrich Pfis-
        terer, Friedrich Vollhardt u. a.Kontakt:
        Universität München, Tel. (089) 2180








Liu erwischte den winzigen
Augenblick, in dem die
Sowjetunion implodierte

16 FEUILLETON LITERATUR Mittwoch/Donnerstag, 2./3. Oktober 2019, Nr. 228 DEFGH


AGENDA


UM 22∶45 UHR
DIE DISKUSSION
BEI MAISCHBERGER

HEUTE


20∶15 Uhr


Doppelleben zwischen Stasi und CIA


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