Süddeutsche Zeitung - 02.10.2019

(avery) #1

Axel Noack, 69, engagierte sich als evan-
gelischer Pfarrer von Bitterfeld-Wolfen
1989/90 in der DDR-Bürgerbewegung.
1997 bis 2009 war er Bischof in Magdeburg.


SZ: Neulich war ich in Mecklenburg in ei-
nem alten Faltboot aus der DDR unter-
wegs. Vom Ufer aus riefen Leute: „Die gu-
te alte Zeit!“ Nimmt die Ostalgie zu?
Axel Noack: Die Geschichte beschreibt eine
Stimmung: Wir hatten im Vergleich zum
Westen die schlechteren Bedingungen und
haben trotzdem einiges gut gemacht.
Wünschen sich viele Leute die DDR zu-
rück, als gute alte Zeit?
Die DDR wünscht sich kaum einer zurück.
Dass Menschen aber dort auch gute Er-
lebnisse hatten, liegt nahe, genauso, dass
jeder sich lieber daran erinnert als an die
schlechten oder gar an das eigene schlech-
te Verhalten. Vielleicht steckt darin aber
schon eine Reaktion auf das, was nach der
Wende aus dem Westen kam: Bei euch im
Osten war alles schlecht.
So mancher Einheitsfrust kommt aber
schon aus den Brüchen der Wendezeit:
Viele Menschen wurden arbeitslos, Le-
bensleistungen zählten nicht mehr. Wenn
Menschen aus dem Osten das heute im
Westen erzählen, heißt es schnell: Ihr seid
undankbar, euch geht es doch gut heute.
Es stimmt ja beides: Den meisten geht es


heute gut. Aber die Umbruchzeit war hef-
tig. 75 Prozent mussten sich beruflich neu
orientieren. Da sind viele dann gut ange-
kommen, aber nicht alle. Das ist eine Her-
ausforderung für das vereinte Deutsch-
land. Wer hört sich die Geschichten derer
an, die nicht so gut angekommen sind?
Die gehen oft so: Erst wurden wir von der
DDR betrogen, dann von der BRD.
Oft erzählen diese Geschichten von der
Entwertung dessen, was in der DDR viel
wert war. Ein Trabant war eine Kostbar-
keit – und ich habe dann meinen für eine
symbolische Mark abgegeben. Wo ist die-
ser Wert hin? Man kann sagen: Der Preis
existierte nur unter den Bedingungen
einer Mangelwirtschaft. Kann man aber
auch sagen: Der böse Kapitalismus hat’s
geklaut? Dies kann man auf ganz viele
Bereiche übertragen.
Ossis wählen häufiger AfD als Wessis. Es
gibt mehr Vorbehalte gegenüber der De-
mokratie und der pluralen Gesellschaft.
Weil doch einiges Misstrauen gegenüber
dem neuen System geblieben ist?
Dass Ostdeutsche rechts sind, weil sie
Ostdeutsche sind, halte ich für Unsinn. Die
Menschen sind hier nicht anders als im
Westen, aber sie leben in einer anderen
Zusammensetzung. Das wird viel zu wenig
thematisiert. Es sind bis 1961 Hunderttau-
sende in den Westen gegangen, es haben

dann trotz der Mauer viele DDR-Bürger
das Land verlassen, nach 1989 wieder Hun-
derttausende. Es sind die Bürgerlichen ge-
gangen, viele aus unseren Kirchengemein-
den. Wir mussten ja den Konfirmanden
schweren Herzens sagen: Wenn ihr eine
Lehre machen wollt, müsst ihr in den Wes-
ten gehen. Die Entbürgerlichung des Lan-
des ist ein bleibender Erfolg der DDR.

Ab 1990 kamen die Bürgerlichen zuhauf
aus dem Westen, um Politik, Wirtschaft
und Verwaltung neu zu organisieren.
Das hat manchmal das Gefühl von der
Übernahme verstärkt. Problematischer
finde ich aber, dass von all den Beamten

und Wirtschaftsfachleuten, die die Zivil-
gesellschaft hier stärken könnten, nur so
wenige bleiben. Nach der Pensionierung
gehen fast alle wieder zurück in den Wes-
ten. Es fehlt die Mitte. Da darf man sich
über die Wahlergebnisse nicht wundern.
Und auch nicht über das Gefühl, chancen-
los gegenüber dem Westen zu sein?
Es gibt hier einen Spruch: Die deutsche
Einheit ist hergestellt, wenn der letzte Ossi
aus dem Grundbuch ausgetragen ist. Das
ist tatsächlich ein Problem. Gerade in der
Niedrigzinsphase kaufen Kapitalanleger
den vergleichsweise billigen Boden hier.
Das ist im Westen natürlich prinzipiell
auch nicht anders. Im Osten aber sagen die
Leute: Wir sind Bürger zweiter Klasse. Die
Marktwirtschaft wurde nach der Wende
heiliggesprochen. Das ist sie nicht, und al-
les, was nun falsch läuft, wird nicht als Pro-
blem eines fehlbaren Systems gesehen,
sondern als Zeichen, dass alles faul ist.
Trägt der Beitritt der DDR zur Bundes-
republik bis heute dazu bei, dass sich Ex-
DDR-Bürger in der Bundesrepublik nicht
heimisch fühlen?
Ich hätte auch damals gerne vieles neu dis-
kutiert. Aber da gab es bald Ernüchterung.
Der mächtigste Spruch der Wende war:
„Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt
sie nicht, gehn wir zu ihr.“
Enttäuscht Sie das noch heute?

Nein. Man hätte vieles besser und anders
machen können, aber so schlecht ist die
Vereinigung nun auch nicht gelaufen.
Auch in den Kirchen wurde gegen die Be-
denken vieler ostdeutscher Christen das
westliche Staat-Kirche-System übernom-
men, das viel Geld brachte, die Soldaten-
seelsorge, den Religionsunterricht. Aber
vieles, was die Kirchen in der DDR unab-
hängig gemacht hatte, ging verloren.
Was in einer Diktatur wichtig war, schien
auf einmal nichts mehr zu zählen. Und wir
haben schon sehr um das Staat-Kirche-
Verhältnis gerungen. Aber ich blicke nicht
traurig auf die DDR-Zeit zurück. Man
kann vieles aus dem Leben in der Diktatur
nicht auf das Leben heute übertragen.
Die Kirchen haben an Relevanz verloren
verglichen mit denZeiten, als sie der DDR-
Opposition ein Dach boten.
Zum Glück! Es sind schlimme Zeiten,
wenn man eine Partei in der Kirche grün-
den muss.
Wie groß war der Einfluss der Kirchen in
der Wendezeit wirklich?
Er war vorbei, als die Honeckers ins Kir-
chenasyl kamen. Als dann die Kirchensteu-
er eingeführt wurde, gab es massenhaft
Austritte, von Leuten, die gar nicht in der
Kirche waren. Der Mensch ist liebenswert.
Aber anders, als wir dachten.
interview: matthias drobinski

Natürlich bringe es gar nichts, Regionen
gegeneinander auszuspielen, sagt Klaus
Kaiser, Sozialarbeiter aus Hagen. „Aber
wenn Firmen aus unserer Gegend im Os-
ten subventionsgestützt expandieren,
und gleichzeitig hier Stellen abbauen,
dann schürt das natürlich Neid und Miss-
gunst.“ Kaiser erlebt die Folgen des Struk-
turwandels täglich unmittelbar. Hagen
das ist tiefstes Ruhrgebiet; das, was man
früher „Ruhrpott“ nannte. Kaiser ist Ge-
schäftsführer einer privaten Einrichtung
für Jugendhilfe. Er betreut unter ande-
rem unbegleitete jugendliche Flüchtlin-
ge, weiß, wie schwer deren Integration
fällt – und kennt daher nur zu gut die sozi-
alen Spannungen, die sich im Laufe der
vergangenen Jahre und Jahrzehnte in der
Stadt aufgebaut haben.

Als besonders schmerzhaft wird in Ha-
gen bis heute die mit Steuergeld unter-
stützte Produktionsverlagerung des
alteingesessenen Zwiebackfabrikanten
Brandt ins thüringische Ohrdruf im Jahr
2002 empfunden. Rund 500 Stellen gin-
gen verloren; heute beschäftigt die Hage-
ner Firmenzentrale noch 65 Mitarbeiter.
Klaus Kaiser nennt solche politischen
Entscheidungen „problematisch“ – und
mit der Einschätzung ist er nicht allein.
Im August kam das Institut der deut-
schen Wirtschaft in Köln (IW) in einer
bundesweiten Studie zum Ergebnis, dass
gleich vier Ruhrgebietsregionen wirt-
schaftlich abgehängt zu werden drohen.
Besonders düster sieht es in der Gegend
zwischen Duisburg und Essen aus sowie
in der Region Emscher-Lippe, die Bott-
rop, Gelsenkirchen und Recklinghausen
umfasst. Auch Dortmund und Bochum
tauchen in der Liste der 19 gefährdeten
Regionen auf – und eben Hagen mit
10,4Prozent Arbeitslosenquote und mit
mehr als einer Milliarde Euro Schulden.
Zumindest wurde – auch durch Zuzug
aus Südosteuropa – der schleichende Ein-
wohnerrückgang gestoppt. Tatsächlich
wächst die Bevölkerungszahl seit 2014
wieder Jahr für Jahr ein wenig. Allerdings
ziehen noch immer mehr Bürger mit deut-
schem Pass fort, als sich in der Stadt nie-
derlassen. Hagen zählt heute laut Statisti-
schem Jahrbuch etwa 195000 Einwoh-
ner, inzwischen haben 39 Prozent von
ihnen Migrationshintergrund.
„Wichtige Themen, die das Lebensge-
fühl der Menschen hier ausmachen, blei-
ben aber oft auf der Strecke“, findet Kai-
ser. „Schauen Sie sich mal die Sportstät-
ten bei uns an oder die Sauberkeit der
Straßen.“ Die Stadt bemühe sich zwar
„redlich“, wie er formuliert, aber habe
eben ihre Dienstleistungen aus finanziel-
len Gründen zurückgeschraubt. Er begeg-
ne immer öfter einer „harten Haltung,
die in Richtung rechtes Gedankengut ten-
diert“, sagt Kaiser. „Das Grundgefühl vie-
ler Menschen ist: Wir müssen kämpfen
und arbeiten, überall ist es dreckig, Fehl-
verhalten wird nicht geahndet, man kann
nachts nicht mehr in die Stadt gehen.“

Eine große Herausforderung für Ha-
gen stellten sogenannte Problemhäuser
dar – Schrottimmobilien, zum Teil ohne
Wasser und Strom, bewohnt von Zuwan-
derern aus Rumänien und Bulgarien, die
von Schleppern in diesen Häusern unter-
gebracht werden. Schimmel und Ungezie-
fer, eine Folge der baulichen Mängel an
den verwahrlosten Häusern, griffen auf
die Nachbarschaft über, und dort zögen
dann die Mieter weg. Das Land Nord-
rhein-Westfalen startete 2017 ein Modell-
vorhaben, das den Kommunen Mittel für
Ankauf und Abriss oder Renovierung der
Problemhäuser zur Verfügung stellt.
Die Fronten in der Stadt seien aber
schon so verhärtet, dass solche einzelnen
Maßnahmen wie der Abriss eines solchen
Problemhauses die Spannungen nicht ab-
bauen würde, sagt Klaus Kaiser. Und
auch wirtschaftlich sieht es nicht allzu
blühend aus für die Stadt. Seit einem hal-
ben Jahr legt die Arbeitslosenquote lang-
sam aber stetig zu, die Zahl der offenen
Stellen sinkt. alexander menden

von cornelius pollmer

N

och vor dem offiziellen Jahres-
bericht zum Stand der Deut-
schen Einheit erschien in die-
sem Frühjahr ein Buch, das
sich ebenso als Bestandsauf-
nahme lesen lässt. Der Autor Matthias
Krauß legte in seinem Bericht dar, „was
sich für die Ostdeutschen seit der Wende
verschlechtert hat“, und er stellte ihm ein
Zitat von Erich Kästner voran, das in sei-
ner leisen Melancholie die Lage des Lan-
des womöglich besser fasst, als viele Hun-
dert regierungsoffizielle Seiten mit Pro-
zentzahlen und Entwicklungsdaten dies
vermöchten. Dieses Zitat geht so: „Die gro-
ße Freiheit ist es nicht geworden, die klei-
ne Freiheit – vielleicht!“
Beiden Berichten liegen naturgemäß
dieselben Daten zugrunde, unterschied-
lich aber kann und darf deren Interpretati-
on ausfallen. Es lässt sich betonen, dass die
Wirtschaftskraft des Ostens von 43 Pro-
zent des West-Niveaus im Jahr 1990 auf 75
Prozent im vergangenen Jahr gestiegen ist



  • oder eben, dass es gegenwärtig keinen
    Anlass zu der Hoffnung gibt, der noch im-
    mer bestehende Abstand ließe sich in ab-
    sehbarer Zeit irgendwie überwinden. Es
    lässt sich betonen, dass im Jahr 2017 die
    Wanderungsbilanz der ostdeutschen Flä-
    chenländer gegenüber dem Westen erst-
    mals positiv war – oder eben, dass vom
    Fortzug von Millionen oft gut ausgebilde-
    ter und junger Menschen nach der Wende
    der Westen noch immer profitiert und dass
    der Osten noch lange strukturell darunter
    leiden wird, ökonomisch und im Übrigen
    auch auf vielen zivilgesellschaftlichen Ebe-
    nen. Es lässt sich betonen, dass mit der An-
    siedlung des Fernstraßenbundesamts
    oder Agenturen wie jener für Disruptive In-
    novationen der Osten nun endlich von ei-
    ner Dezentralisierung der Bundesverwal-
    tung profitiere – oder eben, dass bis heute
    das Umweltbundesamt in Dessau-Roßlau
    die einzige große Behörde mit Hauptsitz
    im Osten und dort übrigens so gut ange-
    bunden ist, dass die meisten ihrer Mitarbei-
    ter von und nach Berlin pendeln.


Noch uneindeutiger, aber nicht unbe-
dingt widersprüchlich wird es, betrachtet
man die demoskopischen Berichte zum
Stand der Einheit. Nur ein Beispiel: Jeweils
mehr als die Hälfte der Befragten sagen,
sie persönlich würden sich als Gewinner
der Wiedervereinigung bezeichnen. Und
sie stimmen, zweitens, zu mehr als 50 Pro-
zent der Aussage zu, sich wie Bürger zwei-
ter Klasse zu fühlen.
Was fängt man nun an, mit solchen
Messwerten der Sachen und des Gefühls?
Je nach Laune so einiges. Es gibt zwischen
tendenziellen Schön- und Schlechtred-
nern inzwischen eine stattliche Gruppe
von Meinungsinhabern, denen die Ein-


heitseuphorie ähnlich fremd ist wie das
Jammern und die nüchtern festhält, der
Osten werde weiter nach Kräften aufho-
len, ohne aber je einzuholen. Diese drei
Gruppen lohnen eine genauere Betrach-
tung.
Die Schlechtredner gibt es im Osten wie
im Westen. Zu ihnen gehören im Osten die
harten Ostalgiker genauso wie jene, die
das gegenwärtige System (Chiffre: Berlin)
mehr ablehnen, als sie das alte wirklich ver-
missen würden. Zu den Schlechtrednern
im Westen gehören wiederum vor allem je-
ne, für die die DDR ganz eindeutig ein Un-
rechtsstaat war (stimmt) und sonst nichts
(stimmt nicht). Die sich nicht ernsthaft für
biografische Brüche und reale Verluste im
Osten interessieren – sondern vor allem
das viele Geld sehen, das dorthin transfe-
riert worden ist, und die sich nun wün-
schen, die da drüben mögen endlich nor-
mal wählen und ansonsten in Dankbarkeit
verstummen, denn wer ein großes Eis be-
kommen hat, der soll dann bitte auch auf-
hören zu quengeln.

Die Schönredner Ost haben von der Ein-
heit persönlich profitiert und schließen
von sich lieber aufs Ganze, als sich mit Ver-
werfungen auseinanderzusetzen, die die-
selbe Einheit für andere bedeutete, teilwei-
se schon in der eigenen Familie. Die Schön-
redner Ost unterscheiden sich gar nicht so
sehr von den Schlechtrednern West, und
was ihnen an Ignoranz fehlt, das machen
sie mit naivem Pathos locker wett.
Am interessantesten ist in Ost wie West
die Gruppe dazwischen, und das geht nur
los damit, dass ein so komplexes politi-
sches und soziales Ereignis wie der Beitritt
der DDR zur BRD natürlich nicht mit ei-
nem schlichten Plus oder Minus zu fassen
sein kann. Es gibt in dieser Gruppe ehrli-
che Dankbarkeit für die umfangreichen
Strukturhilfen des Westens – und gleich-
zeitig eine manchmal auch zornige Trauer
über das Ausbluten vieler Regionen in den
Jahren nach 1989. Es gibt in größeren Tei-
len dieser Gruppe die Bereitschaft, zum
Beispiel über Wahlen die anhaltende Ei-
gensinnigkeit des Ostens herauszuarbei-
ten – und gleichzeitig eine nachgeschalte-
te Staatsräson, welcher die Überzeugung
zugrunde liegt, dass auf Provokation zu-
weilen auch Mäßigung folgen muss.
Es gibt in dieser Gruppe den berechtig-
ten Anspruch, nicht alle Erfahrungswerte
und Errungenschaften des Ostens nur des-
halb zu missachten, weil die DDR ein Staat
des Unrechts war. Diesem Anspruch
wohnt die Ahnung inne, dass es nicht be-
dingungslos gut wäre, sollte sich ein Satz
des Schriftstellers Thomas Brussig be-
wahrheiten, der mal gefragt wurde, was
von der DDR bleiben werde. Brussig sagte:
„Das einzige, was von der DDR bleiben
wird, ist ihr Ende.“ Es gibt in dieser Gruppe
schließlich die pragmatische Ansicht, dass
doch ein Deutschland möglich sein müsse,
das seine Zusammengehörigkeit schätzt,
ohne fortbestehende Unterschiede wegre-
den oder verschweigen zu müssen.
Von dieser pragmatischen Sicht zwin-
gend zu unterscheiden ist jenes bequeme

Wunschdenken, demzufolge der Osten,
der Westen und die Einheit doch längst
kein Thema mehr seien. Sehr vieles
spricht dagegen, unter anderem die Zeit.
Gewiss scheint es im Schatten gegenwärti-
ger Großthemenlagen manchmal klein-
lich oder anachronistisch, die deutsche Tei-
lung in gegenwärtige Diskurse zu verlän-
gern. Ein besserer Schutz der Umwelt, glo-
bale Fluchtbewegungen und Kriege – was
sollte es nützen, angesichts solcher Her-
ausforderungen weiter Stuhlkreise zu bil-
den, um über den Osten und den Westen
zu sprechen? Die Aufmerksamkeitskon-
kurrenz ist enorm groß geworden und dies
mit guten Gründen.
Der Osten wird sich dennoch weiter be-
merkbar machen. Er hat dies über Wahlen
bereits getan. Und die Frage muss vorläu-
fig offen bleiben, wie er das tut, wenn die

Konjunktur sich weiter deutlich ab-
schwächt, wenn im Westen sich Wohl-
stands- und damit Erbmasse weiter und
zunehmend konzentriert, und so fort.
Vor gerade diesem Hintergrund ist be-
achtenswert, was außerhalb von Jahresbe-
richten und Staatsaktredemanuskripten
im Osten 30 Jahre nach dem Mauerfall pas-
siert, im Kleineren, hier und da. Es gibt da
etwa das Zeitgeschichtliche Forum in Leip-
zig, das seine Dauerausstellung um die
Zeit nach ’89 erweitert hat und ostdeut-
schen Transformationsleistungen eine
Bühne gibt. Da gibt es die sogenannte
„Dritte Generation Ost“, die eine Verständi-
gung jener Ostdeutschen organisiert, die
zur Wende sehr jung oder sogar noch Klein-
kinder waren. Da gibt es auch eine sich wie-
der politisierende Gesellschaft im Osten,
die ja nach wie vor nicht geschlossen

rechtsextrem wählt, sondern in der es
auch viele bewundernswerte Initiativen
und Akteure gibt, die unter teils widrigen
Bedingungen versuchen, den und damit ih-
ren Laden zusammenzuhalten.
In einem Interview mit derZeitzu Be-
ginn dieses Jahres sagte Bundeskanzlerin
Angela Merkel, sie tue sich schwer „zu sa-
gen, das Land sei so gespalten wie nie zu-
vor. Das Land war vielleicht nie so ver-
söhnt, wie man dachte“. Dieselbe Angela
Merkel sagte einige Jahre zuvor, die Wie-
dervereinigung des Landes sei „gelingbar
und gelungen“.
Wie sehr das Land versöhnt oder gespal-
ten ist, wie weit die Einheit schon gelun-
gen oder hoffentlich noch gelingbar, bleibt
letztlich eine Frage, deren Antwort nie-
mand von oben oder mit Statistiken dekre-
tieren kann.

„Die Marktwirtschaft wurde heiliggesprochen“


Woher kommt dieser Frust im Osten? Das hat viel mit Besitzverhältnissen und mit Abwanderung zu tun, sagt Axel Noack, der langjährige Bischof von Magdeburg


Axel Noack.FOTO: IMAGO

Was


den Neid schürt


Auch manche Stadt im Ruhrgebiet
fühlt sich benachteiligt

Ohne


die Grenze


In den ostdeutschen Bundesländern wagen viele
den Versuch, mehr wertzuschätzen,
was mit der früheren DDR zu tun hat.
In Nostalgie wollen sie jedoch nicht verfallen

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auchden Podcast.
 sz.de/nachrichtenpodcast

2 THEMA DES TAGES HF2 Mittwoch/Donnerstag, 2./3. Oktober 2019, Nr. 228 DEFGH


„Wir müssen kämpfen
und arbeiten,
überall ist es dreckig.“

„Das Land war vielleicht nie
so versöhnt, wie man
dachte“, sagt die Kanzlerin

90 Jahre wurde der Traditions-
zwieback in Hagen hergestellt.
Dann ging die Produktion nach
Thüringen.FOTO: BRANDT/DPA

FOTO: DPA, COLLAGE: SZ

30 Jahre nach dem Mauerfall prallen sie noch immer aufeinander: die Schönredner, für die Ost-West-Gegensätze


keinThema mehr sind, und die Schlechtredner, die sich in die DDR zurücksehnen. Muss das so sein?


DEUTSCHE EINHEIT


Es gibt die biografischen Brüche


und realen Verluste im Osten.


Aber viele interessiert das nicht

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