Süddeutsche Zeitung - 02.10.2019

(avery) #1
FOTO: DPA

Es gibt auf diesem Planeten einen unbe-
kannten Planeten. Eine Dimension, in die
bislang weniger Menschen vorgedrungen
sind als ins All: die Tiefsee. Dort unten auf
dem Grund der Ozeane, in scheinbar abso-
luter Finsternis und unendlicher Einsam-
keit, fühlt sich Antje Boetius, 52, zu Hau-
se. Sie sagt: „Kann es etwas Schöneres ge-
ben, als den Kopf unter Wasser zu stecken
und in fremde Welten abzutauchen?“
Auf ihren Expeditionen in die Tiefsee
stecken Boetius und ihr Kopf selbstver-
ständlich nicht nur unter Wasser, son-
dern auch in einem U-Boot. Manchmal, er-
zählt die Meeresbiologin, glitzerten dann
im Kegel des Scheinwerferlichts fantasti-
sche Wesen, „die zum Teil wie Aliens aus-
sehen“, Fische, Quallen und Bakterien,
die mit Lichtsignalen kommunizierten.
Manchmal sind es aber auch einfach nur
Plastiktüten. Selbst dort, wo der Mensch
noch nie war, gilt: Sein Müll ist schon da.
Man möchte meinen, dass eine Frau,
die das alles mit eigenen Augen gesehen
hat, im relativ gut ausgeforschten Trei-
ben an der Erdoberfläche eigentlich
nichts mehr schockieren kann. Dieser Ta-
ge machte Antje Boetius aber am Schreib-
tisch sitzend eine Entdeckung, die ihr „ei-
nen Schreck in die Glieder fahren ließ“,
wie sie erzählt. Sie war gerade dabei, sich
auf ihren Termin am Mittwoch im Schloss
Bellevue vorzubereiten. Dort soll ihr von
Bundespräsident Frank-Walter Steinmei-
er das Bundesverdienstkreuz überreicht
werden. Gerade weil sich Boetius so sehr
über diese Auszeichnung freut, wollte sie
nicht ganz unvorbereitet hingehen. Sie las
sich in die Geschichte der deutschen Ver-
dienstordensvergabe ein und stellte da-
bei fest: „Wir Hanseaten nehmen solche
Orden eigentlich gar nicht an!“

Der Hanseat als soziokulturelles Phäno-
men ist bekanntlich ein ähnlich faszinie-
rendes Geschöpf wie so manche Daseins-
form der Tiefsee. Traditionsbewusste
Hanseaten nehmen „keine Auszeichnun-
gen fremder Herren“ an, deshalb lehnten
unter anderem Helmut Schmidt und Jan
Philipp Reemtsma das Bundesverdienst-
kreuz ab. Antje Boetius leitet das Alfred-
Wegener-Institut für Polar- und Meeres-
forschung in Bremerhaven und ist Profes-
sorin an der Universität der Hansestadt
Bremen. Doch ihr ist noch rechtzeitig ein-
gefallen, wie sie aus diesem Zwiespalt her-
auskommt: Sie sei in Frankfurt am Main

geboren und deshalb „nur eine zugereiste
Hanseatin“. Sie sagt: „Wir Frankfurter
kennen da nix, wir nehmen den Orden.“
Boetius hat schon als Kind vom Meer
geträumt. Ihr Opa, ein Seefahrer, überleb-
te angeblich drei Schiffsuntergänge. Sie
selbst las Bücher über Schatzsucher, lieb-
te Piratenfilme und die Dokus des Tiefsee-
tauchers Jacques-Yves Cousteau. Sie
schwor sich: „So etwas in der Art will ich
mal beruflich machen.“ Aus dem Wunsch
wurden bislang 49 Forschungsexpeditio-
nen. Der Karrieredurchbruch als interna-
tional anerkannte Meeresbiologin gelang
ihr im Jahr 2000 mit dem Nachweis der
Existenz von methanfressenden Einzel-
lern im Meeresschlamm.
Boetius ist unzählige Male für ihre Wis-
senschaft ausgezeichnet worden, am Mitt-
woch wird sie für ihre Haltung geehrt. Sie
hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihre For-
schungsergebnisse aus der Tiefsee und
dem Schmelzwasser der Polarregionen
für ein breites Publikum zu übersetzen,
damit auch Laien verstehen: „So wie bis-
lang können wir nicht weiterleben.“ Zu-
letzt war sie weniger in U-Booten als in
Talkshows, Vortragssälen und Schulen un-
terwegs – und oft auch dort, wo sich der
Bundespräsident gerade aufhielt. Zwei
Mal hat sie Steinmeier in den vergange-
nen zwölf Monaten auf Auslandsreisen be-
gleitet, nach Finnland und nach Island.
Sie sagt, sie sei erstaunt, wie viel Zeit sich
der Bundespräsident und seine Frau ge-
nommen hätten, ihr zuzuhören. Man liegt
wohl nicht ganz falsch, wenn man die
Wandlung des einstigen SPD-Kanzlerkan-
didaten und Kohlekumpels Frank-Walter
Steinmeier zum Klima-Präsidenten auch
den Einflüsterungen von Antje Boetius zu-
schreibt. boris herrmann

Ö


sterreichs Wähler haben die FPÖ
abgestraft, und die FPÖ hat die Be-
strafung weitergereicht an ihren
früheren Vorsitzenden Heinz-Christian
Strache. Nach Ibiza-Skandal und Spesen-
Affäre ist er als Schuldiger für das Wahl-
debakel vom Sonntag benannt worden.
Deshalb hat Strache nun seinen Rückzug
verkündet und ist zugleich noch von der
Partei suspendiert worden. Das klingt
nach klaren Schnitten. Doch beendet ist
die Sache damit längst noch nicht – nicht
für Strache und auch nicht für die FPÖ.
Denn gegen Strache laufen weiterhin
staatsanwaltschaftliche Ermittlungen.
Aufzuklären sind dubiose Vereinskon-
struktionen rund um die Freiheitlichen,
ein Postenschacher bei der Casinos Aus-
tria AG und schließlich die FPÖ-interne
Spesenaffäre, in der er im Verdacht der
Untreue steht. Da könnte also noch eini-
ges auf ihn zukommen, was die Muße des
Vorruhestands trübt.
Aber auch für die Freiheitlichen reicht
es nicht, nun frohgemut, befreit und stur
nach vorn zu schauen. Nötig wäre viel-
mehr ein strenger Blick zurück und eine
Aufarbeitung der Affären, die nicht nur
auf ein persönliches Versagen, sondern
auf ein Versagen des Systems hindeuten.
Glaubwürdig ist es daher nicht, wenn der
nun lauthals propagierte Neuanfang in
den Händen zweier Männer liegt, die seit
2005 eng an Straches Seite gestanden
haben: Norbert Hofer als Vize im Partei-
vorsitz und Herbert Kickl als Generalse-
kretär. Beide sagen nun gern, dass sie
noch nie auf Ibiza waren. Die FPÖ sollte
sich fragen, ob das schon genügt als Quali-
fikation. peter münch


D


ie Impeachment-Untersuchung
gegen Donald Trump ist erst ei-
ne Woche alt, aber der US-Präsi-
dent klingt schon schriller denn je. Auf
Twitter sprach er von einem baldigen
„Bürgerkrieg“ und davon, den Whistle-
blower zu bestrafen, der die Ukraine-Af-
färe ans Licht gebracht hatte. Er rief auf,
einen Abgeordneten der Demokraten
wegen Verrats zu verhaften. Hysterie im
Weißen Haus. Trump glaubt wohl: Je
lauter er wird, desto stiller werden die
Vorwürfe gegen ihn.
Wahrscheinlich sieht der Präsident
tatsächlich kein Problem in dem Telefo-
nat, mit dem er Druck auf die Ukraine
ausübte, ihm schädliches Material über
den demokratischen Präsidentschafts-
kandidaten Joe Biden zu liefern. Denn
dieser Druck steht, wie Medienberichte
zeigen, in einem größeren Zusammen-
hang. Schon seit Monaten versucht die
Trump-Regierung, die abgeschlossene
Russland-Untersuchung in Zweifel zu
ziehen und damit – endlich! – die angeb-
liche Verschwörung desdeep state, des
„tiefen Staats“, gegen den Präsidenten
zu enttarnen. Als Handlanger hat
Trump Justizminister William Barr ein-
gespannt, der dafür um die Welt fliegt.
Illegal ist dessen Untersuchung wohl
nicht, die US-Regierung kann Ermitt-
lungen anstellen, wozu sie will. Doch in-
dem Trump und seine Verbündeten den
Fokus auf die Wahl 2016 legen, verne-
beln sie den Blick auf Trumps Fehlver-
halten im Hinblick auf die Wahl 2020 –
und auf Trumps Versuch, eine ausländi-
sche Regierung für seine Wahlkampa-
gne zu missbrauchen. alan cassidy

von stefan kornelius

S


eitdem Staats- und Parteichef Xi
Jinping die restlichen Spitzenkader
der KP Chinas zurückgedrängt hat
und alleine auf dem Gipfel der Macht resi-
diert, ist politische Astrologie in Peking
wieder in Mode gekommen. Wie einst die
Kremlogie in Sowjetzeiten, kann in China
nun meist nur noch die Zhongnanhai-
Kunde, also die Fährtenleserei im inner-
sten Regierungsbezirk, Aufschluss geben
über Denkspiele und Machtstrukturen.
Da ist es von feiner Ironie, dass ausgerech-
net der 70. Gründungstag der Volksrepu-
blik einen ungetrübten Blick auf die ex-
plosiven Zustände in Staat und Führung
Chinas ermöglicht.
Welch krasser Gegensatz also zwi-
schen der blank polierten Kulisse in Pe-
king, dem bis aufs letzte Staubkorn gesäu-
berten Paradeweg der Truppen und
Schauwagen auf der einen Seite – und
den Gewaltbildern aus Hongkong auf der
anderen Seite. In Peking demonstriert
die Führung ihr kraftstrotzendes Selbst-
bewusstsein, sie errichtet die Fassade
eines Hochglanzchinas, sie beschwört,
ach was, sie beschreit Einheit, Geschlos-
senheit und Unbeirrbarkeit. Und in Hong-
kong wird geschossen.
Die Eskalation in der Sonderverwal-
tungszone überlagert all die Botschaften,
die der Apparat in Peking seit Jahren für
diesen Tag vorgesehen hatte. Die Demons-
tranten zerstören die Jubiläumsfeier und
verursachen einen Gesichtsverlust, wie
ihn kein chinesischer Führer erleiden
darf. Es gehört nicht viel Fantasie zu der
Prognose, dass man nun in Hongkong mit
dem Schlimmsten rechnen muss.
Peking hat mit der Truppen- und Waf-
fenparade einen Stärkeanspruch doku-
mentiert, der 2000 Kilometer weiter süd-
lich in seiner Absurdität vorgeführt wur-
de. Was ist die großspurige Rede von Ein-

heit und Überlegenheit wert, wenn die in-
nere Zerrissenheit an diesem Tag so ein-
deutig in die Welt hinausdemonstriert
wird? China ist Opfer der eigenen Propa-
ganda geworden: Das Land wollte innere
Größe und Geschlossenheit zeigen, jetzt
wird es diesen Anspruch womöglich mit
Gewalt durchsetzen. Die Truppen jeden-
falls stehen bereit. Von innerer Größe
wird dann nichts mehr übrig sein.

Die neuen ballistischen Raketen, die
Überschalldrohnen und autonomen
U-Boote zeugen von militärischer Macht
und sollen Respekt einflößen. Tatsäch-
lich aber weiß auch Parteichef Xi, dass
die eigentliche Bedrohung seiner Macht
nicht von außen kommt. „Keine Macht
kann den Status quo unseres großartigen
Vaterlandes erschüttern, keine Macht
kann den Fortschritt des chinesischen
Volkes und der chinesischen Nation auf-
halten“, rief Xi in Peking. Er forderte da-
mit vor allem Gefolgschaft im Inneren, in
Hongkong und in den Provinzen. Xi will
bedingungslosen Gehorsam – und impli-
zit machte der Parteichef klar, dass er die-
sen Anspruch mit allen Mitteln durchzu-
setzen bereit ist.
Von der Überlegenheit Chinas bliebe
dann freilich wenig übrig. Die Jubiläums-
feiern zeigen, wie schal und leblos dieses
Land in Wahrheit ist, wie inszeniert, ge-
glättet und diktiert der Jubel ausfällt.
Hongkong ist zwar nicht das Festland,
und Hunderte Millionen Chinesen sind
stolz auf ihre Leistung. Aber dennoch
zeigt der bedingungslose Hunger nach
Freiheit in der Sonderverwaltungszone,
dass China entscheidende Kapitel fehlen
zu einer echten Erfolgsgeschichte.

von edeltraud rattenhuber

I


m hohen Alter im Pflegeheim zu lan-
den, macht Menschen Angst – große
Angst. Das Heim wird gar oft mehr ge-
fürchtet als der Tod. Zu viele schreckliche
Geschichten sind im Umlauf. Zum Bei-
spiel von Nachtschichten in Zeiten des Per-
sonalmangels. Ein Pfleger – und 25 alte,
kranke Heimbewohner. Manche sind
dement und verwirrt, andere wandeln
schlaflos durch die Gänge, haben die Ori-
entierung verloren, schreien. Was tun?
Die Menschen im Bett festbinden, zu ih-
rem eigenen Schutz? Sie mit Medikamen-
ten ruhigstellen? Anders ist ein solcher
Nachtdienst allein oft nicht zu bewältigen.
Und da liegt man dann als alter Mensch,
kein Trost, nirgends, und auch keine Hoff-
nung, dass der Morgen Besserung bringt.
Unter solchen Umständen seine letzten
Wochen und Monate zu verbringen, hilf-
los und schwach, vielleicht ohne Angehöri-
ge, die im Zweifelsfall die Stimme erhe-
ben – davor graut den Menschen. Ein neu-
er Pflege-TÜV, und wenn er noch so gut
gemeint ist, wird daran nichts ändern. Im
Idealfall stellt er Transparenz und Ver-
gleichbarkeit her. Wo wird wie oft fixiert,
welches Heim verabreicht überdurch-
schnittlich oft Beruhigungsmittel, wo ist
die Wundversorgung nicht optimal? Die
Krankenkassen können anhand dieser
Kriterien Pflegeheimbetreibern Auflagen
machen, das ist richtig. So kann der Pflege-
TÜV natürlich zur Verbesserung der Pfle-
ge beitragen. Aber dass er überdurch-
schnittlich vielen Angehörigen bei ihrer
Entscheidung für oder gegen ein Heim hel-
fen wird, ist zu bezweifeln. Dafür sind die
Kriterien zu kompliziert. Das bemängeln
auch Patientenschützer.
Tatsächlich gelingt es den wenigsten
Menschen, sich rechtzeitig auf die Suche
nach dem besten Pflegeheim für die Mut-
ter oder den Vater zu machen. Im Gegen-

teil. Auch nur anzudeuten, dass man sich
langsam Gedanken über eine Heimunter-
bringung machen müsse, ist in vielen Fa-
milien ein Tabu. Alte Menschen wollen
selbstbestimmt in ihrer Wohnung leben,
solange es irgendwie geht. Ein Sturz oder
eine schwere Krankheit machen dem
meist jäh ein Ende. Und dann ist es oft zu
spät für eine abgewogene Entscheidung.
Ein schneller Vergleich über eine Gesamt-
note aber, wie früher üblich, ist beim neu-
en Pflege-TÜV nicht mehr vorgesehen.
Sich nach reiflicher Überlegung für ein
Pflegeheim entscheiden zu können, ist al-
lerdings ohnehin ein Privileg, das sich
kaum jemand leisten kann. Wichtig ist
den meisten: Wie nahe liegt das Heim am
eigenen Wohnort? Ist schnell ein Platz ver-
fügbar? Und: Ist er auch bezahlbar?

Womit man beim Geld wäre. In der Pfle-
ge läuft sehr vieles sehr falsch. 4000 Euro
für einen Pflegeplatz, obwohl aus Zeitman-
gel nicht einmal so existenzielle Dinge si-
chergestellt werden wie etwa, dass eine al-
te Frau genug trinkt? Kommt oft vor. Sank-
tionen für den Pflegeheimbetreiber? Gibt
es nicht. Ganz im Gegenteil: Ständige Kos-
tensteigerungen und Personalwechsel ver-
ärgern die Angehörigen. Doch diese ha-
ben meist keine Wahl. Auf der anderen Sei-
te stehen ausgebrannte Pfleger. Ihr Beruf
ist stressig, unbefriedigend und nicht gut
bezahlt. 80 000 Pflegekräfte fehlen in
Deutschland. Jüngst flog der Gesundheits-
minister bis nach Mexiko, um dem abzu-
helfen und Kräfte anzuwerben. Eine löbli-
che Initiative. Doch auch bei Aktionen wie
dieser drängt sich der Eindruck auf, dass
ein echter Plan zur Pflege-Verbesserung
weiter auf sich warten lassen wird.

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
MITGLIED DER CHEFREDAKTION, DIGITALES:
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AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
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INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
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V

or einem Jahr ging der saudi-
arabische Publizist Jamal Kha-
shoggi in das Konsulat seines
Landes in Istanbul – und ver-
ließ es lebend nicht wieder. Ein
saudisches Mordkommando, von dem die
Führung in Riad nichts gewusst haben
will, tötete den Kolumnisten. Sein Leich-
nam wurde bis heute nicht gefunden. Es
gibt noch viele, viele Fragen, aber die sau-
dische Führung verweigert Antworten.
Jamal Khashoggi hatte Antworten. So
viele, dass es ihn wohl das Leben kostete.
In seinem letzten Artikel für dieWashing-
ton Postschrieb er, Araber seien entweder
uninformiert oder falsch informiert. Er
hatte recht. Menschen in der arabischen
Welt müssen die Welt durch Freund-
Feind-Schablonen betrachten, die der
Staat ihnen vors Gesicht hält. Wer in Riad
oder Dubai den Fernseher oder das Radio
anschaltet, der glaubt zu wissen: Hinter
allem Übel stecken Iran, Katar und die
Muslimbrüder. Und wer in Doha oder Te-
heran lebt, der kann nur die reichen Golf-
nachbarn und ihre Verbündeten als Urhe-
ber aller Probleme sehen.
Längst tobt in der Regi-
on ein Krieg um Wahrhei-
ten. Seit der Katarkrise
2017 wird er brutaler ge-
führt als je zuvor. Wer die
Regierung in Riad oder
Abu Dhabi offen kritisiert,
gilt als Verräter oder aus-
ländischer Agent. Und bei-
den wünscht man alles,
auch den Tod. Staatsnahe
Journalisten erinnern an
Gladiatoren, ihr Studio ist
das Kolosseum, dort füh-
ren sie Oppositionelle vor,
umjubelt vom treuen
Volk. Wer nicht mitjubelt,
macht sich verdächtig,
Das Vergehen: Vaterlands-
verrat.
Wer Informationen in
der arabischen Welt ver-
stehen will, muss ein Ge-
flecht aus politischen In-
teressen und Allianzen
entwirren. Khashoggi
wollte den Zuschauern und Lesern, den
einfachen Arabern, helfen, er wollte einen
öffentlichen Raum schaffen, den es in der
arabischen Welt nicht gibt. Er wollte ge-
meinsam mit anderen Intellektuellen
Menschen informieren, in ihrer Mutter-
sprache. Doch damit forderte er ein gan-
zes System heraus, das auf Propaganda,
Eindimensionalität und Willkür fußt.
Denn es ist die Unmündigkeit der Bürger,
die den Regimen ihre Existenzgrundlage
gibt – und die Bürger zu einem Leben in
Unwissenheit verdammt. Als Kenner des
saudischen Königshauses und der arabi-
schen Welt wusste Khashoggi, was Auto-
kraten am meisten fürchten, und was das
Volk am meisten braucht: Meinungsfrei-
heit und Offenheit.
Kaum ein Wort ist im Arabischen so ne-
gativ besetzt wie Neugier. Neugierig zu
sein bedeutet, sich Probleme zu erschlie-
ßen. Aber: Wer wissenshungrig ist, stößt
schnell an Grenzen, die man besser sofort
akzeptiert. Diktaturen und autokratische
Staatsmodelle haben diese geistige Verar-
mung über Jahrzehnte herbeigeführt,
denn Wissen ist Macht. Und der Westen
trägt diese Systeme bis heute mit.
Nach der Ermordung Khashoggis fand
im Westen kaum Beachtung, dass der
Mann sterben musste, weil er seine Mei-
nung sagte. Weil er Kritik übte. Am saudi-


schen Jemenkrieg, an der Allmacht des
Kronprinzen.
Für den Westen wird der Fall Khashog-
gi gerade als innersaudische Angelegen-
heit abgeheftet, bei der auch mal Haupt-
verdächtige verschwinden können. Bis
heute lautet die offizielle Version des Kö-
nigshauses, ein Verhör sei aus dem Ruder
gelaufen. Doch der Mord, so zeigen die Er-
mittlungen der UN-Sonderberichterstat-
terin Agnès Callamard, war von langer
Hand geplant – und es gibt stichhaltige Be-
weise dafür, dass der Staat Saudi-Arabien
dafür die Verantwortung trägt, insbeson-
dere Kronprinz Mohammed bin Salman.
Trotzdem ist das saudische Königreich
längst dabei, in die internationale Gemein-
schaft zurückzukehren. Vor allem die USA
unter Donald Trump garantieren, dass
der Kronprinz die Affäre bisher unbescha-
det überstanden hat. Auch die Untätigkeit
der Europäer trägt dazu bei.
Der moralische Abgrund, der sich in
dem bestialischen Mord zeigt, schreit
nach umfassender Vergeltung und Isolati-
on des Kronprinzen. Der weitreichende
Einfluss des Königreichs
in der Region, die Bedeu-
tung Riads für die Balance
des Verhältnisses zu Iran
und die innere Unantast-
barkeit des Herrscherap-
parats verlangen indes
nach mehr Nüchternheit.
Selten sind Maßstäbe der
Gesinnung und Verant-
wortung so unbarmherzig
miteinander kollidiert.
Genau wie vor dem Ara-
bischen Frühling setzen
westliche Staaten im Um-
gang mit Autokraten auf
Stabilität statt auf Sanktio-
nen. Zwar hat die Bundes-
regierung den Rüstungs-
exportstopp gegen Saudi-
Arabien verlängert – doch
das reicht nicht aus. Die
arabische Zivilgesell-
schaft schreit nach Hilfe.
Sie muss gestärkt werden.
Es genügt nicht mehr, In-
haftierungen von Opposi-
tionellen, Aktivisten und Journalisten am
Rande ein bisschen zu kritisieren und
dann zum Tagesgeschäft überzugehen.
Vielmehr müssen Menschenrechtsverlet-
zungen sanktioniert werden. Politische
und wirtschaftliche Konsequenzen müs-
sen spürbar sein.
Der Mord an Khashoggi rührt an die
Grundsätze der Menschenrechte, darun-
ter das Recht auf Leben und das Recht auf
freie Meinungsäußerung. Die Leichtig-
keit, mit der Saudi-Arabien über diese
Grundsätze hinweggeht, düpiert nicht
nur die Völkergemeinschaft, sondern
wirkt sich unmittelbar auf die Menschen
in der Region aus, die Kritik an Autoritä-
ten üben und damit ihr Leben aufs Spiel
setzen. Sie hören eine zynische Botschaft:
Danke für euren Mut, danke, dass ihr euch
für das einsetzt, wofür wir im Westen
eigentlich stehen, aber wir können euch
leider nicht schützen.
In seinem letzten Artikel kam Khashog-
gi auch auf die Haltung des Westens zu
sprechen: Wenn autokratische Systeme
Journalisten und Oppositionelle verfolg-
ten, dann reagiere die internationale
Gemeinschaft nicht mehr entschlossen.
Vielleicht, so Khashoggi, werde das Vorge-
hen noch verurteilt. Und dann folge
schnell Stille. Das klingt so, als hätte er
sein eigenes Schicksal vorhergesagt.

Lange Warterei in endlos er-
scheinenden Schlangen vor
den Behördenschaltern. Da-
mit soll zumindest für Auto-
besitzer Schluss sein. Seit
dem 1. Oktober entfällt der Gang zur örtli-
chen Zulassungsstelle, um einen Wagen
an- oder umzumelden. „Klicken und los-
fahren“, nennt das Verkehrsminister An-
dreas Scheuer (CSU). Großes Digitalisie-
rungspotenzial ist jedenfalls vorhanden:
Etwa 20 Millionen Zulassungsvorgänge
gibt es jedes Jahr in Deutschland. „Inter-
netbasierte Kfz-Zulassung“ heißt das
neue Verfahren, das jetzt bundesweit frei-
geschaltet wurde. Allerdings: So simpel,
wie dieser neue Zulassungsprozess erst
einmal klingt, ist er nicht. Damit man
sein Auto per Mausklick zulassen kann,
braucht man zwingend einen Personal-
ausweis mit aktivierter Onlinefunktion.
Dazu kommen ein Kartenlesegerät oder
die staatliche Ausweis-App auf dem
Smartphone. Nach Identifizierung, Regis-
trierung und PIN-Eingabe werden die ein-
gegebenen Daten vom System automa-
tisch gecheckt, dann zahlt man. Per Post
kommen dann der Zulassungsbescheid,
die Zulassungsbescheinigungen sowie
die Plaketten für die Kennzeichen. Eine
Zeitersparnis hat der Autofahrer also nur
bedingt, denn bis die Post mit Brief und
Prüfsiegeln ankommt, können zwei bis
drei Tage vergehen. Dafür entfällt die
Wartezeit in den Behördenräumen. cku

4 MEINUNG HF3 Mittwoch/Donnerstag, 2./3. Oktober 2019, Nr. 228 DEFGH


FPÖ

Ende offen


DONALD TRUMP

Vernebelt


CHINA

Parade der Ohnmacht


Am Staatsgründungstag
verliert China sein Gesicht.
Das kann böse Folgen haben

PFLEGE-TÜV

Kein Trost, nirgends


Gesundheitsfarbenlehre sz-zeichnung: pepschgottscheber

FALL KHASHOGGI


Düpierte Welt


von dunja ramadan


AKTUELLES LEXIKON


Zulassungsstelle


PROFIL


Antje


Boetius


Meeresbiologin
und politische
Ratgeberin

Ein echter Plan zur
Verbesserung der Pflege
lässt auf sich warten

Die Menschen in
Nahost hören eine
zynische Botschaft:
Danke für euren
Mut, danke, dass ihr
euch für das
einsetzt, wofür wir
im Westen eigentlich
stehen, aber wir
können euch
leider nicht schützen
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