Süddeutsche Zeitung - 09.10.2019

(sharon) #1

So also beginnt die Zeit der Schuldzuwei-
sungen. Lautauf britischer Seite, eher leise
auf der deutschen. Denn in erheblichem
Kontrast zur Londoner Gesprächigkeit
nach dem morgendlichen Telefonat von
Premier Boris Johnson und Kanzlerin An-
gela Merkel steht am Dienstag die Schmal-
lippigkeit in Berlin. Im Kanzleramt wird
nicht viel mehr bestätigt, als dass das Tele-
fonat tatsächlich stattgefunden hat. „Wie
üblich“ berichte man nicht aus vertrauli-
chen Gesprächen, hieß es. Gegen den offen-
kundigen Versuch der britischen Regie-
rung, Merkel persönlich die Verantwor-
tung für den nun wohl unvermeidlichen Zu-
sammenbruch der Brexit-Gespräche zuzu-
schieben, leistete weder die Kanzlerin
noch ihr Umfeld unmittelbare Gegenwehr.
Vor einem Gespräch mit dem neuen EU-
Parlamentspräsidenten David-Maria Sas-
soli, das ohnehin für den heutigen Tag ge-
plant war, bleibt Merkel jedenfalls vage.
Man werde über den Austritt Großbritanni-
ens aus der Europäischen Union reden,
sagt sie lediglich, zumal Sassoli von Berlin
ja nach London weiterreise. Die Gelegen-
heit, öffentlich ein paar mahnende Worte
zu sprechen, lässt Merkel verstreichen.


Zumindest offiziell will man im Kanzler-
amt die Hoffnung nicht aufgeben, dass es
doch noch eine Verhandlungslösung ge-
ben könnte. Doch eigentlich ist auch in Ber-
lin klar, dass die Züge längst abgefahren
sind und aufeinander zurasen, dass es jetzt
also nur noch um die Frage geht, wer für
das zu erwartende Desaster in Haftung ge-
nommen wird. „Wenn Johnson mit dem
Finger auf Merkel zeigt, dann zeigen drei
Finger auf ihn“, sagt etwa der Vize der


CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Johann
Wadephul. Der britische Premierminister
wolle nicht wahrhaben, dass die Backstop-
Regelung unumgänglich sei. Weder Irland
noch die EU könnten und wollten eine
nicht kontrollierte Außengrenze zulassen.
„Nordirland braucht daher einen Sonder-
status, wenn man das Karfreitagsabkom-
men retten will. Alles andere funktioniert
einfach nicht.“ Soll sagen: Johnson ist
schuld – und nicht, wie dessen Umfeld nun
streut, die Kanzlerin.
Seit dem ersten Tag nach dem Brexit-Re-
ferendum vor mehr als drei Jahren war die
britische Politik stets merkwürdig fixiert
auf Berlin und speziell auf Angela Merkel.
Premier David Cameron und seine Nach-
folgerin Theresa May wussten, dass diese
Bundesregierung keinen Vorteil in einem
Ausstieg der Briten aus der Union erken-
nen konnte. Sie wussten auch, wie tief ver-
wurzelt die ökonomischen und politischen
Verbindungen zwischen beiden Ländern
sind. Und ihnen war klar, dass diese Nähe
auch die deutsche Kanzlerin bewegt.
Die Fixierung der Briten auf Merkel wur-
de indes nicht erwidert. Berlin ist bei der
immer gleichen Linie geblieben: Über den
Brexit entscheiden auf EU-Seite nicht Ber-
lin oder Paris, sondern 27 Regierungen
gleichberechtigt. Würde Deutschland eine
Sonderrolle reklamieren, wäre das kontra-
produktiv. Entsprechend vorsichtig ver-
hielt sich Merkel – was in Großbritannien
die Verklärung ihrer Person nur steigerte
und zu der Wahrnehmung beitrug, dass sie
allein im Hintergrund den Prozess steuere.
Boris Johnson hat mit der Durchsteche-
rei aus einem vertraulichen Telefonat ge-
nau diesen Eindruck nun verstärkt. Es sei
das allmächtige, hinter den Kulissen die
Strippen ziehende Deutschland, das über
das britische Wohl entscheide. Damit ver-
sucht er, tief verwurzelte Ängste und Vorur-
teile zu wecken – von denen nicht wenige

glaubten, dass sie ins Reich der Klischees
hinübergewechselt seien.
Dem Kanzleramt ist es nicht verborgen
geblieben, dass der Premier vor allem Neu-
wahlen anstrebt und diesem Ziel alles un-
terordnet. Nicht wenige in Berlin fürchten
nun, dass Johnson eine Art „Dünkirchen-
Moment“ schaffen will – also den Ein-
druck einer politischen Entscheidungs-
schlacht zwischen Großbritannien und
Deutschland entstehen lassen will, in An-
lehnung an die heroische Evakuierung der
britischen Truppen aus dem von der Wehr-
macht eingeschlossenen Hafen Dünkir-
chen. Der Rückzug 1940 hatte den Briten
ermöglicht, den Krieg gegen Nazideutsch-
land fortzusetzen. Er ist in Großbritannien
noch immer Synonym für Widerstandsfä-
higkeit, Durchhaltewillen und Geschlos-
senheit. Mit dem Dünkirchen-Vergleich

werden die Emotionen bedient, die John-
son in einem Wahlkampf braucht.
Merkel hatte nach Johnsons Amtsan-
tritt im Juli zunächst auf dessen redliche
Absichten vertraut. Der Antrittsbesuch des
Briten kam spät, erst am 21. August, wurde
von beiden Seiten aber als Erfolg beschrie-
ben. Johnson kann ansteckend reden, er
wird in großer Geste seinen Plan zu einem
kontrollierten Austritt im Oktober vorge-
stellt haben. Merkel will seit jeher vor al-
lem den unkontrollierten Brexit vermei-
den und zeigte sich deshalb aufgeschlos-
sen. Die beiden sprachen danach immer
wieder miteinander, zuletzt bei den UN in
New York, und auch am Telefon.
Das vorletzte Telefonat löste bei briti-
schen, aber auch deutschen Zuhörern – Ge-
spräche werden in der Regel von Beamten
mitgehört – fast Euphorie aus. Johnson

war der EU in zwei Punkten deutlich entge-
gengekommen. Für landwirtschaftliche
Güter und Lebensmittel wurden Stan-
dards nach EU-Recht verabredet, bei den
technischen Regelungen im Warenaus-
tausch und deren zollrechtlicher Behand-
lung wollte man großzügig sein. Hauptsa-
che, der harte Brexit oder eine nochmalige
Verschiebung des Austritts unter ungewis-
sen Vorzeichen würden vermieden.
Merkel wusste, dass sie Johnson beim
verhassten Backstop, also der Notfalllö-
sung für Nordirland, entgegenkommen
müsste und dass zunächst eine Grauzone
in Fragen von Zoll und Warenkontrolle ent-
stehen würde. In Berlin spekulierte man
aber darauf, dass dann in einer Übergangs-
frist genug Raum für eine Rückkehr zur
Vernunft bliebe. Das Kalkül: Würden erst
einmal Beamte beider Seiten verhandeln
und würde Johnson als Brexit-Premier tri-
umphierend seine Wahl gewinnen, dann
würden die Briten schon einsehen, wo ihre
wichtigsten Handelspartner säßen: im EU-
Binnenmarkt.
Zuletzt war die Bundesregierung wieder
stärker auf Abstand gegangen zu Johnson,
weil die Mehrheit in der EU offenbar kei-
nen geregelten Brexit mehr für möglich
hält. Merkel ist da pragmatisch: Priorität
hat für sie die Integrität des Binnen-
markts. Vor allem die Position der irischen
Regierung hat sie eng verfolgt, auch wenn
sie Premier Leo Varadkar klargemacht hat,
dass ein harter Brexit am allerwenigsten
im Interesse Dublins sein dürfte.
Mit der Veröffentlichung des Telefonin-
halts – ob er stimmt oder nicht – dürfte
Johnson bei der Kanzlerin aber jeden Kre-
dit verspielt haben. Einen solchen Vertrau-
ensbruch verzeiht sie nicht, auch wenn sie
sich vermutlich nie dazu äußern wird. In
14 Jahren als Kanzlerin jedenfalls wurde
sie noch selten öffentlich so vorgeführt.
daniel brössler, stefan kornelius

Der Dünkirchen-Moment


Bis zuletztsetzte Angela Merkel auf eine Einigung mit dem britischen Premier. Das dürfte nach den Londoner Indiskretionen nun vorbei sein


von cathrin kahlweit,
matthias kolb
und alexander mühlauer

S


chon die Nachricht, die der konserva-
tiveSpectator, der einen guten Draht
in die Downing Street hat, mitten in
der Nacht zum Dienstag veröffentlichte,
machte stutzig. Eine gute Quelle habe auf
die harmlose Frage, wie denn die Brexit-
Verhandlungen so liefen, überraschend
ein ellenlanges Memo geschickt. Der erste
Satz lautete: „Die Verhandlungen werden
wahrscheinlich in dieser Woche enden.“
Das allein war jetzt noch kein Scoop; dass
die Gespräche mit Brüssel nicht sonderlich
gut liefen, war kein Geheimnis. Auf dem To-
ry-Parteitag in Manchester hatte Boris
Johnson noch stolz mitgeteilt, man gebe
den EU-27 zehn Tage für eine Antwort.
Nach den ersten, eher abwehrenden Reakti-
onen hieß es dann, wenn das so weiterge-
he, werde der Premierminister nicht mal
zum EU-Gipfel am 17./18. Oktober reisen.


Die Quelle, die derSpectatorpräsentier-
te und die Eingeweihte umgehend als John-
sons Chef-Berater Dominic Cummings
identifiziert haben wollen, ging aber wei-
ter ins Detail. Der irische Premier Leo Va-
radkar habe unerfüllbare Bedingungen ge-
stellt für einen Deal. Und seit die Abgeord-
neten im Unterhaus mit dem „Benn Act“,
dem Gesetz zur Vermeidung eines Aus-
tritts ohne Vertrag, die Verhandlungsbasis
der Regierung unterminiert hätten, zeige
Dublin noch weniger Kompromissbereit-
schaft. Und dann stand da, weil eine Eini-
gung mit Angela Merkel, Emmanuel Ma-
cron und dem Rest der EU unwahrschein-
lich sei, müsse man politisch voll auf Kon-
frontationskurs gehen: Um die Brexit-Par-
tei von Nigel Farage zu schlagen und die
Stimmen aller Brexit-Fans zu bekommen,
gehe die Konservative Partei mit folgender
Losung in die nächsten Wahlen: „kein Auf-
schub mehr, Brexit jetzt und sofort“.
Auch das war an sich nichts Neues. Dass
die Tories auf die nächste Wahl, im Londo-
ner Politsprech nur GE (General Election)
genannt, setzen, um ihre verlorene Mehr-
heit im Parlament wieder zu erlangen, ist
bekannt. Unklar war bisher nur, welchen
Kollateralschaden sie dafür in Kauf zu neh-
men bereit sein würden.
Der – nicht überprüfbare und von Dow-
ning-Street-Insidern nur kurz zusammen-
gefasste – Inhalt des Telefonats von Ange-
la Merkel mit Boris Johnson am Morgen
war dann der nächste Schritt in die Eskala-
tion. Offenbar nahm Johnson aus dem Ge-
spräch den Eindruck mit, Deutschland wer-
de dort auch in Zukunft nicht nachgeben,
wo die EU-27 schon zwei Jahre lang nicht
nachgegeben hatte. Als die Erregung ge-
gen Mittag auf dem Höhepunkt war, weil
sich mittlerweile in Europa herumgespro-
chen hatte, dass der Brexit-Deal endgültig
auf der Kippe steht, schickte die Regierung
ihren Sprecher in den Ring. Beim üblichen
Briefing der britischen Parlamentspresse
in einem getäfelten Zimmer mochte ein
Sprecher zwar nicht sagen, von wem die Zu-
sammenfassung des Telefonats stamme,
er bestritt aber auch nicht deren Inhalt und
die Konsequenzen, die sein Chef daraus
zog. Die Gespräche, bestätigte er, seien an
„einem kritischen Punkt“.


Es dürfte kein Zufall sein, dass Johnson
und sein Team den Krisenfall just an dem
Tag ausriefen, an dem das Unterhaus bis
einschließlich kommenden Montag erneut
in die Zwangspause geschickt wird. Diese
Prorogation wird, anders als die erste, die
vom Supreme Court aufgehoben wurde,
nicht angefochten; am kommenden Mon-
tag soll die Queen’s Speech, die Regierungs-
erklärung, stattfinden, danach sind übli-
cherweise mehrere Tage für eine Debatte
über die Regierungserklärung reserviert.
Das alles aber bedeutet: Das Parlament hat
bis zum Gipfel kaum Gelegenheit zur Ge-
genwehr, falls Johnson, wonach es derzeit
aussieht, die Gespräche endgültig für sinn-
los erklären sollte.
Die Opposition hatte sich allerdings in
den vergangenen Tagen nicht auf eine Tak-
tik im Kampf gegen einen möglichen Ge-
sprächsabbruch und die Drohung, No Deal
zu erzwingen, einigen können. Labour be-
steht darauf, dass Parteichef Jeremy Cor-
byn nach einem erfolgreichen Misstrauens-
votum gegen Johnson eine Übergangsre-

gierung führen müsse. Die Liberaldemo-
kraten sind dagegen, die von ihrer Partei
hinausgeworfenen Tories sind bislang
nicht bereit, am Sturz von Johnson mitzu-
wirken. Der Premier hat also freie Bahn.

In Brüssel ist die Überraschung größer
über den Zeitpunkt der Eskalation als über
die Tatsache an sich. „Sie brauchten eine
Vorstufe für das Drama“, sagt ein EU-Diplo-
mat. Dass sich die Bundeskanzlerin so ge-
äußert habe wie von britischer Seite darge-
stellt, hält man im Europaviertel für ausge-
schlossen: „So redet Merkel nicht, sie ist
die Meisterin der Mehrdeutigkeit.“
Dass im Falle eines drohenden Schei-
terns der Kampf um die Meinungshoheit
und die Schuldzuweisungen schnell begin-
nen würde, war EU-Diplomaten klar. Einer
sprach von „zwei Spielen, die gleichzeitig

abliefen“. Neben demdeal gamesei dies
eben dasblame game. Gewohnt offen re-
agierte EU-Ratspräsident Donald Tusk,
der Johnson auf Twitter aufforderte, „das
dumme Spiel der Schuldzuweisungen“ zu
beenden: „Es geht um die Zukunft Europas
und Großbritanniens sowie die Sicherheit
und die Interessen unserer Bürger.“
Die Knackpunkte sind gleich. Johnsons
Vorschlag erfüllt die Bedingungen des
„Backstop“ nicht und macht Zollkontrollen
in Irland erforderlich – eine Gefahr für den
Frieden in Nordirland. Ein Vetorecht des
Parlaments in Belfast ist für die EU ebenso
inakzeptabel. Für Fortschritte bräuchte es
aber neue Rechtstexte aus London. Die Ge-
rüchte, wonach Ungarn eine weitere Verlän-
gerung des Austrittstermins blockieren
könnte, werden in Brüssel ignoriert. Ähnli-
che Versuche habe es mit Polen gegeben,
doch für Viktor Orbán stehe zu viel auf dem
Spiel – bei EU-Fördergeld ebenso wie im
Umgang mit den anderen Staats- und Re-
gierungschefs. „Warum sollte er es riskie-
ren, die Einheit der EU-27 zu opfern für je-

manden, der womöglich am nächsten Tag
nicht mehr regiert?“ Kein einzelner Mit-
gliedstaat wolle für den Chaos-Brexit ver-
antwortlich sein, weshalb die EU-27 einer
weiteren Verschiebung zustimmen dürfte.
Der Krisenmodus ist aktiviert, die Lage
könne sich stündlich ändern, heißt es. Klar
ist der Zeitrahmen: Am 17. und 18. Oktober
findet der EU-Gipfel statt. Zwei Tage vor-
her treffen sich die Europaminister zur Vor-
bereitung, bis dahin hätte ein Deal in greif-
bare Nähe rücken müssen. Auf Prognosen
lässt sich kein EU-Diplomat mehr ein: „Die-
ser Gipfel ist der unvorhersehbarste, den
ich je erlebt habe“, seufzt einer, der an Dut-
zenden dieser Treffen teilgenommen hat.
Etwas Positives ist schwer zu finden in
diesen dramatischen Stunden, aber Funk-
stille herrscht noch nicht. Um 13 Uhr setzte
sich der Brexit-Gesandte David Frost mit
EU-Chefunterhändler Michel Barnier im
Gebäude der EU-Kommission an einen
Tisch. Mehr als sechs Stunden berieten ih-
re Teams. Wie es nun weitergeht, darüber
entscheidet ein anderer.

Vor einer Woche war Boris Johnson voller
Euphorie.Beim Tory-Parteitag in Man-
chester behauptete der britische Premier-
minister, dass sein Land eine Milliarde
Pfund pro Monat sparen könne, wenn es
die EU am 31. Oktober verlasse. Wie er auf
diese Zahl kam, erläuterte Johnson nicht.
Das hat er auch gar nicht nötig, denn sei-
nen Anhängern ist vor allem eines wichtig,
nämlich dass der Premier sein Verspre-
chen endlich einlöst und das Vereinigte Kö-
nigreich an Halloween aus der Europäi-
schen Union führt – egal ob mit oder ohne
Deal. So erklärt sich auch Johnsons schlich-
te Botschaft, die er nahezu täglich verbrei-
tet: „Let’s get Brexit done.“

Und dann? Nun, der Premierminister
verspricht den Bürgern eine glorreiche Zu-
kunft. Frei von den Fesseln der Brüsseler
Bürokratie werde Großbritannien in der
ganzen Welt Freihandelsabkommen schlie-
ßen. Doch für die Unternehmen, die bis-
lang ohne große Probleme zwischen Groß-
britannien und dem Rest der EU handeln
können, sieht die Lage alles andere als glor-
reich aus. Einem britischen Regierungspa-
pier zufolge kämen auf die Unternehmen
im Fall eines No-Deal-Brexits jährliche
Kosten von 15 Milliarden Pfund zu, etwa
16,7 Milliarden Euro. Die Firmen müssten
Zollpapiere ausfüllen und viel Zeit für ad-
ministrative Dinge aufwenden, warnt die
für Zoll und Steuern zuständige Regie-
rungsbehörde. Unternehmen in Großbri-
tannien und der EU stehe „ein erheblicher
neuer und anhaltender Verwaltungsauf-
wand“ bevor, heißt es in dem Papier.
Es ist das erste Mal, dass die britische
Zollbehörde eine detaillierte Kostenschät-
zung veröffentlicht. Laut den Berechnun-
gen müssen große Unternehmen sich dar-
auf einstellen, dass sie eine Lieferung im
Durchschnitt 28 Pfund (31 Euro) mehr kos-
ten wird. Um die zusätzlichen Zollformali-
täten zu erledigen, benötige ein Mitarbei-
ter durchschnittlich eine Stunde und 45 Mi-
nuten. Ein Zeitaufwand, der dank des euro-
päischen Binnenmarktes bislang nicht
nötig ist. Wie hoch die tatsächliche Mehrbe-
lastung ausfällt, hängt laut dem Papier da-
von ab, wie oft eine Firma Güter, Waren
oder Dienstleistungen ein- und ausführt.
Die Regierung in London beteuert zwar,
dass sie Unternehmen im Fall eines No-
Deal-Brexit finanziell unterstützen werde.
Doch mehr als diese vage Zusage gibt es bis-
lang nicht. Am Dienstag erklärte die Regie-
rung, dass man im Fall eines No Deal
88 Prozent der nach Großbritannien einge-
führten Güter von jeglichen Zöllen befrei-
en wolle – zumindest für ein Jahr. Neue
Ein- und Ausfuhrformulare müssten nach
Ansicht von Fachleuten aber dennoch aus-
gefüllt werden.

Wie es aussieht, dürfte die Regierung
auch bald Steuerentlastungen für Unter-
nehmen ankündigen, um die negativen
Auswirkungen eines ungeordneten Brexit
zumindest ein wenig abzufedern. Einer Un-
tersuchung des Institute for Fiscal Studies
(IFS) zufolge werden die öffentlichen Aus-
gaben im Fall eines No Deal massiv anstei-
gen. Johnson dürfte nicht umhinkommen,
die Staatsverschuldung in die Höhe zu
treiben.
Doch derartige Prognosen werden wohl
nichts daran ändern, dass Johnson seinen
Brexit-Kurs weiterverfolgt. Der Premier-
minister ist fest entschlossen, die EU um
jeden Preis zu verlassen – da kann ein No
Deal die britischen Unternehmen und Steu-
erzahler noch so viel kosten. Im Londoner
Regierungsviertel werden Warnungen aus
der Wirtschaft schon seit Langem als über-
trieben abgetan. Selbst die Prognosen der
Bank of England gelten in der Regierung
als Angstmacherei und werden nicht
wirklich ernst genommen. Daten und Fak-
ten waren Boris Johnson schon vor dem
Brexit-Referendum ziemlich egal. Seit-
dem er Premier ist, hat sich daran nichts ge-
ändert. alexander mühlauer

Voll auf Angriff


Boris Johnson setzt gegenüber Brüssel und Berlin auf Konfrontation, um vor möglichen Wahlen
besser dazustehen. Die EU aber will sich nicht so einfach zum Schuldigen stempeln lassen

„Ich komme gerade zurück vom Planeten Brexit – er ist schrecklich“: Das steht auf dem Plakat des „Brexonauten“ bei einer Protestaktion von Gegnern des britischen
EU-Austritts in Brighton. Wenn sich Premier Boris Johnson durchsetzt, dürften ihre Mahnungen ungehört verhallen. FOTO: DANIEL LEAL-OLIVAS/AFP

Blick in die Zukunft? Simulation eines
Lkw-Staus bei Dover zur Vorbereitung
des Brexit. FOTO: GLYN KIRK / AFP

2 HF3 (^) THEMA DES TAGES Mittwoch,9. Oktober 2019, Nr. 233 DEFGH
Der Brexit und die SchuldfrageBis Dienstagließ Boris Johnson die britische Öffentlichkeit glauben, er werde noch eine Einigung
mit der EU finden. Dann telefonierte er mit Angela Merkel und ließ seine Version des Gesprächs veröffentlichen. Nun läuft alles auf einen
harten Brexit hinaus. Die EU ist erzürnt, Johnson weist ihr die Verantwortung zu. Die Schlacht um die Deutungshoheit hat begonnen
Die Regierung in London tut
solche Warnungen
schon länger als übertrieben ab
Glorreich
an die Zollschranke
Britische Behörde rechnet mit
Milliardenkosten bei hartem Brexit
Das Parlament hat
im Moment kaum Mittel
zur Gegenwehr
„Dieser Gipfel ist
der unvorhersehbarste,
den ich je erlebt habe.“
Offiziell wird man im
Kanzleramtdie Hoffnung
nicht aufgeben
„Wir schaffen das“: Bei seinem Antrittsbesuch bei Kanzlerin Angela Merkel im Au-
gustzeigtesich Premier Boris Johnson noch optimistisch. FOTO: REGINA SCHMEKEN

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