Süddeutsche Zeitung - 09.10.2019

(sharon) #1
Wer sich selbst für beson-
dersklug hält, hat dem Volks-
mund nach die Weisheit mit
Löffeln gegessen. Den Mund
besonders voll genommen
hat nun US-Präsident Trump, der auf
Twitter nicht nur der Türkei gedroht, son-
dern im selben Atemzug seine „große
und unvergleichliche Weisheit“ herausge-
stellt hat, mit der er das Handeln der tür-
kischen Regierung bewerten will. Etymo-
logisch ist die Wurzel der Weisheit, das
althochdeutsche „wīs“, im 8. Jahrhundert
belegt. Die Bedeutung indes schillert:
Neun Unterkategorien der Weisheit
kennt Grimms Wörterbuch; eindeutig ist
aber ihr Wert: Sie ist „ein hohes, bedeu-
tendes Wissen oder Sein“. Philosophisch
unterscheidet sich das Konzept der Weis-
heit von der pragmatischen Klugheit und
dem theoretischen Wissen. Weisheit ba-
siert auf Lebenserfahrung und Einsicht
in den Sinn des Daseins. Seit Platon zählt
sie zu den Kardinaltugenden und ist Kern
der philosophischen Tätigkeit. Mittler-
weile gelten aber nicht nur Philosophen
als weise, das Streben nach Weisheit ist
ein Geschäft für jedermann. So vertreibt
etwa die Londoner Firma „The School of
Life“ Weisheits-Postkartensets, die Käu-
fer zu einem „erleuchteteren Alltag“ füh-
ren sollen. In einer Welt, in der Weisheit
käuflich geworden ist, wundert es kaum,
dass der US-Präsident die größte Weis-
heit von allen zu besitzen glaubt. kjan

Es war keine Liebe auf den ersten Blick
zwischen Gordon Sondland und Donald
Trump. Sondland, der als Eigentümer
von Boutiquehotels zum Millionär gewor-
den war, setzte im Präsidentschaftswahl-
kampf sein Geld zunächst auf Jeb Bush.
Noch im Sommer 2016 sagte er die Teil-
nahme an einer Spendengala Trumps ab,
weil dessen Attacken auf die muslimi-
schen Eltern eines gefallenen US-Solda-
ten „nicht zu seinen Werten“ passten.
Nach Trumps Sieg schwanden die Beden-
ken: Sondland und seine Frau spendeten
eine Million Dollar für die Amtseinfüh-
rung und erhielten Zugang zum innersten
Kreis. Seit Juli 2018 vertritt Sondland als
Botschafter gegenüber der Europäischen
Union die Interessen der US-Regierung.
In Brüssel merkten Diplomaten
schnell, wie eng Sondlands Draht zu
Trump ist, dessen Agenda er stets gut ge-
launt, aber vehement verteidigt: China sei
eine Bedrohung, das Festhalten der Euro-
päer am Nukleardeal mit Iran ein Fehler
und die EU besessen von „Regelungswut“
und Protektionismus. Wie sein Chef nutzt
Sondland Twitter, um als @USAmbEU sei-
ne Botschaften zu verbreiten. Stolz poste-
te er Ende September ein Foto, das ihn in
der Wohnung von Trump-Tochter Ivanka
am Esstisch mit Jared Kushner, Spaniens
Außenminister Josep Borrell und Belgi-
ens Noch-Premierminister Charles Mi-
chel zeigte. Mit dem künftigen Außen-
beauftragten der EU und dem nächsten
Ratspräsidenten will Sondland die trans-
atlantischen Beziehungen verbessern.
Am „Neustart“ mit der EU liegt es aber
nicht, dass sich das politische Washington
nun brennend für Sondland interessiert.
Der 62-Jährige ist eine Schlüsselfigur im
Impeachment-Verfahren gegen Trump.

Sondland war seit Monaten in Kontakt
mit Beratern von Wolodimir Selenskij,
dem Präsidenten der Ukraine. Im Be-
schwerdebrief des Whistleblowers, der
die Affäre publik machte, wird erwähnt,
der EU-Botschafter sei am Tag nach dem
umstrittenen Telefonat zwischen Trump
und Selenskij in Kiew gewesen.
Textnachrichten, die nun veröffent-
licht wurden, zeigen, dass Sondland mit
Trumps Anwalt Rudy Giuliani und dem
Sondergesandten Kurt Volker kommuni-
zierte. Nach Auffassung der Demokraten
belegen die SMS, dass die Lieferung von
Militärhilfe und ein Treffen Selenskijs

mit Trump verknüpft werden sollten mit
der Aufnahme von Korruptionsermittlun-
gen gegen Hunter Biden, Sohn des demo-
kratischen Präsidentschaftskandidaten
Joe Biden. Sie wollen Sondland im Reprä-
sentantenhaus vernehmen, dabei soll es
vor allem um den 9. September gehen.
Der US-Interimsbotschafter in Kiew, Bill
Taylor, nannte es in einer SMS „verrückt“,
Militärhilfe zurückzuhalten, um Hilfe für
eine politische Kampagne zu erzwingen.
Sondland antwortete: „Bill, ich glaube, du
hast die Absicht von Präsident Trump
falsch verstanden.“ Der habe ein „Quid
pro quo“-Geschäft ausgeschlossen. Das
liest sich derart formell, als habe Sond-
land vorbeugen wollen für den Fall, dass
es Ermittlungen gibt. Ein Geschäft der Ge-
genleistung könnte ausreichen für eine
Amtsenthebung – Stoff für viele Fragen.
Doch das Außenministerium hat Sond-
land am Dienstag verboten auszusagen.
Dass Großspender ohne außenpoliti-
sche Erfahrung Botschafter werden, ist in
den USA üblich. Für Sondland, der schon
2012 Geld für Mitt Romney sammelte, er-
füllte sich mit der Rückkehr nach Europa
ein Traum. Seine Eltern stammen aus Ber-
lin und Danzig und flohen vor dem Holo-
caust nach Seattle, wo sie eine Wäscherei
betrieben. Ihr Sohn wurde als Kunstmä-
zen bekannt, fördert mit seiner Frau Wis-
senschaft- und Sozialprojekte, engagiert
sich in der jüdischen Gemeinde in Ore-
gon. Ein demokratischer Senator aus Ore-
gon verwandte sich für Sondland, als der
sich als künftiger EU-Botschafter im Se-
nat vorstellte. Damals war nicht abzuse-
hen, dass Sondland einer jener Republika-
ner werden würde, deren Ruf nur von ei-
nem Mann bestimmt werden wird: Do-
nald Trump. matthias kolb

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
MITGLIED DER CHEFREDAKTION, DIGITALES:
Julia Bönisch
NACHRICHTENCHEFS: Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
GESELLSCHAFT UND WOCHENENDE:Christian Mayer,
Katharina RiehlMEDIEN:Laura Hertreiter
REISE, MOBILITÄT, SONDERTHEMEN:Peter Fahrenholz
MÜNCHEN, REGION UND BAYERN:Nina Bovensiepen,
René Hofmann; Sebastian Beck, Ingrid Fuchs,
Karin Kampwerth, Stefan Simon
ARTDIRECTOR:Christian Tönsmann; Stefan Dimitrov
BILD:Jörg Buschmann
CHEFS VOM DIENST: Fabian Heckenberger, Michael König
Die für das jeweilige Ressort an erster Stelle Genannten
sind verantwortliche Redakteure im Sinne des Gesetzes über
die Presse vom 3. Oktober 1949.
ANSCHRIFT DER REDAKTION:
Hultschiner Straße 8, 81677 München, Tel. (089) 21 83-0,
Nachtruf: 21 83-77 08, Nachrichtenaufnahme: 21 83-481,
Fax 21 83-97 77, E-Mail: [email protected]
BERLIN:Nico Fried; Robert Roßmann,
Cerstin Gammelin (Wirtschaft), Französische Str. 48,
10117 Berlin, Tel. (0 30) 26 36 66-
LEIPZIG:Ulrike Nimz, Hohe Straße 39,
04107 Leipzig, Tel. (0 341) 99 39 03 79
DÜSSELDORF:Christian Wernicke, Bäckerstr. 2,
40213 Düsseldorf, Tel. (02 11) 54 05 55-
FRANKFURT:Susanne Höll, Kleiner Hirschgraben 8,
60311 Frankfurt,Tel. (0 69) 2 99 92 70
HAMBURG:Peter Burghardt, Poststr. 25,
20354 Hamburg, Tel. (0 40) 46 88 31-
KARLSRUHE: Dr.Wolfgang Janisch, Sophienstr. 99,
76135 Karlsruhe, Tel. (07 21) 84 41 28
STUTTGART:Stefan Mayr, Rotebühlplatz 33,
70178 Stuttgart, Tel. (07 11) 24 75 93/
HERAUSGEBERRAT:
Dr. Johannes Friedmann (Vorsitz);
Dr. Richard Rebmann, Dr. Thomas Schaub
GESCHÄFTSFÜHRER:Stefan Hilscher, Dr. Karl Ulrich
ANZEIGEN:Jürgen Maukner (verantwortlich),
Anzeigenaufnahme: Tel. (0 89) 21 83-10 10
ANSCHRIFT DES VERLAGES:Süddeutsche Zeitung GmbH,
Hultschiner Straße 8, 81677 München, Tel. (0 89) 21 83-
DRUCK:Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH,
Zamdorfer Straße 40, 81677 München

von cathrin kahlweit

G


roßbritannien steuert direkt auf
einen No Deal zu. Egal, ob vor oder
nach den nächsten Wahlen – der
Crash ist eine Frage der Zeit. Ein Telefo-
nat mit der Kanzlerin habe gezeigt, heißt
es aus der Downing Street, dass die EU
nicht kompromissbereit sei. Man habe al-
les gegeben, viel vorgelegt, aber es habe
nicht gereicht. Nun reiche es.
Merkel ist schuld, die Deutschen zei-
gen ihr wahres Gesicht, Berlin wollte uns
schon immer unterwerfen, der Backstop
für Irland war immer eine Falle, die EU
muss zerschlagen werden – das sind
denn auch die spontanen Reaktionen bri-
tischer Leave-Fans im Netz auf die Nach-
richt aus London, dass ein Deal mit der
EU mittlerweile „ziemlich unmöglich“
sei. Das Kalkül von Boris Johnson mag
zwar in Brüssel als durchsichtig und in
Berlin als unverschämt gelten. In Großbri-
tannien aber scheint seine Rechnung fürs
Erste aufzugehen. Die Schuldzuweisun-
gen, die Dolchstoßlegende, die Brüssel ge-
fürchtet hatte: Sie sind jetzt in der Welt.
Downing Street hat am Dienstag – wie
so oft in letzter Zeit nicht direkt, sondern
über Insider und gezielte Indiskretionen


  • die Botschaft in die Welt geschickt, dass
    Brüssel nicht nur keinen Deal will, son-
    dern auch nie einen wollte. Dass die Bom-
    be nach einem Telefonat mit Merkel platz-
    te, ist kein Zufall, sondern entspricht
    dem Kalkül von Dominic Cummings,
    dem Chefberater von Johnson. Die Aversi-
    on gegen den ehemaligen Kriegsgegner
    Deutschland und dessen Wiederaufstieg
    zur Macht via Brüssel war für viele, vor al-
    lem ältere Briten ein Grund gewesen,
    2016 für den Brexit zu stimmen.
    Auch drei Jahre und Tausende Nach-
    richten und Debatten später hört man im-
    mer noch, die EU sei das trojanische
    Pferd, durch das Berlin in London erneut
    einmarschiert sei. Bis zuletzt waren im


Königreich zudem die Hoffnungen ge-
schürt worden, Berlin werde die EU-27 zu
Kompromissen überreden, die deutsche
Wirtschaft werde Druck machen, Merkel
sei aus Furcht vor einer Rezession an ei-
nem Deal interessiert. Dass die Kanzlerin
die Einheit der 27 nie aufgeben würde,
wurde in London nicht gern erwähnt.
Stattdessen wurden hohe Erwartungen
geweckt, nun ist die Empörung umso grö-
ßer. Emmanuel Macron wäre dagegen ei-
ne schlechtere Zielscheibe für den Volks-
zorn gewesen. Er hatte sich früh sehr kri-
tisch über die Taktik der Briten geäußert.

Johnson und Cummings hatten im-
mer mit No Deal gedroht; dass der Mann,
der erst im Sommer Premier geworden
ist, zugleich betonte, ein Vertrag sei ihm
lieber, wirkte stets wie ein Lippenbe-
kenntnis. Er hat lange nichts dafür, aber
viel für die Vorbereitung eines No Deal ge-
tan. Auch der Vorschlag, den Downing
Street in Brüssel vorlegte, war erkennbar
nicht darauf angelegt, einen Deal in kur-
zer Zeit zu ermöglichen. Nordirland au-
ßerhalb der Zollunion, kein Plan, um
Grenzkontrollen zu vermeiden, ein Veto-
recht der nordirischen DUP zur Zukunft
der Insel – dieses Angebot war keine
„breite Landezone“, wie Johnson sagte.
Es ist unwahrscheinlich, dass Johnson
mit seiner No-Deal-Drohung nur einen
Kotau der EU erzwingen will. Die Psycho-
logie in Downing Street ist eine andere.
Der Premier setzt darauf, dass das Unter-
haus eine Verschiebung des Brexits er-
zwingt – und dass wütende Briten John-
son mit großer Mehrheit wieder ins Amt
wählen. Die, die gegen den Brexit argu-
mentieren, sind schon stigmatisiert, als
„Verräter“.

von cerstin gammelin

W


ie schön er ist, der verklärte
Blick auf Vergangenes. Und wie
gefährlich. Es lässt sich heute so
leicht über die ersten großen Protestde-
mos in der DDR reden. Vor 30 Jahren aber
setzte, wer daran teilnahm, womöglich
sein Leben aufs Spiel. Man muss daran er-
innern, weil nur so klar wird, wie über-
mächtig der Drang nach Freiheit damals
war. Am 9. Oktober wagten sich so viele
Menschen wie niemals zuvor in der DDR
auf die Straße, um für eine andere Politik
zu demonstrieren. Und gegen die Willkür
des Staates. Umso erstaunlicher ist es,
dass zum Jahrestag der ersten Massen-
demonstration erneut darüber gestritten
wird, ob die DDR ein Unrechtsstaat war –
oder nicht. Wie bitte?
Die Frage führt direkt zu den Hundert-
tausenden, die damals alles riskiert ha-
ben. Ihnen drohte nicht nur Gefahr von
prügelnden oder sogar schussbereiten
Polizisten und Stasi-Truppen. Sondern
auch, wegen angeblichen Rowdytums,
staatsfeindlicher Hetze oder der Beein-
trächtigung staatlicher Tätigkeit verhaf-
tet und für lange Zeit verurteilt zu werden.
Straftatbestände dienten in der DDR als
Freibriefe für willkürliche Festnahmen.
Es gibt nichts daran zu zweifeln, dass ge-
nau diese Umstände den Begriff Unrechts-
staat rechtfertigen.
Und damit nicht genug. Die DDR, ge-
nauer gesagt die Spitze der SED, hatte sich
staatliche Strukturen geschaffen, die Will-
kür und Rechtlosigkeit gezielt ermöglicht
und gefördert haben, man wollte ja die
Diktatur aufrechterhalten, die Menschen
notfalls zu ihrem sozialistischen Glück
zwingen. Sie haben dafür Bürger entwe-
der gelockt oder rücksichtslos erpresst,
andere Menschen zu überwachen und an-
zuschwärzen. Nur so konnte es überhaupt
der Stasi gelingen, die gesamte Gesell-
schaft zu durchdringen.

Es ist gefährlich, wenn sich Politiker
jetzt daranmachen, die Definition des Be-
griffs Unrechtsstaat, der auf die DDR da-
mals zutraf, an die heutigen Bedürfnisse
anzupassen. Thüringens Ministerpräsi-
dent Bodo Ramelow (Linke) und Manuela
Schwesig (SPD), Regierungschefin in
Mecklenburg-Vorpommern, werfen sich
mit heroischer Geste vor ihre ostdeut-
schen Landsleute und lehnen den Begriff
Unrechtsstaat für die DDR ab. Man kann
darüber nur staunen. Glauben sie wirk-
lich, dass sie mit dieser absurden Be-
schützergeste den Bürgern im Osten hel-
fen, ja neue Wähler gewinnen?

Es ist falsch, so zu tun, als müsste man
Ostdeutsche beschützen. Sondern höchs-
te Zeit, dass der Osten einen klaren Blick
auf die sozialistische Vergangenheit wirft.
Im Westen haben sich Generationen von
Nachkriegskindern mit der Schuld ihrer
Eltern befasst, auch dagegen rebelliert. Im
Osten hat das nie stattgefunden; dabei ist
es dringend nötig, weil das alte Dogma un-
widersprochen weiterlebt. Im Staatsbür-
gerkundeunterricht lernte man, wissen-
schaftlich herzuleiten, dass man auf der
Seite der Sieger stand. Zweifel gab es nie.
Es liegt auch an diesem Versäumnis,
dass der AfD im Osten das Unfassbare ge-
lungen ist, die friedliche Revolution teil-
weise für sich zu kapern. Wer nur gelernt
hat, in radikalen Strukturen zu denken,
der schwenkt eher von ganz links nach
ganz rechts als zur demokratischen Mitte.
Man beschmutzt also nicht die Bürger im
Osten, wenn man die DDR einen Unrechts-
staat nennt. Aber man beschmutzt den un-
geheuren Mut derjenigen, die den Un-
rechtsstaat zu Fall gebracht haben, wenn
man ihn nicht so nennt.

D


ie Pkw-Maut sollte sein Meister-
stück werden – jedenfalls aus
Sicht der CSU: Andreas Scheuer
war 2018 auch als Verkehrsminister ange-
treten, um das Prestigeprojekt der eige-
nen Partei umzusetzen. Doch im Juni die-
ses Jahres stoppte der Europäische Ge-
richtshof nach einer Klage Österreichs die
Maut auf deutschen Autobahnen. Nun
könnte die Abgabe für Scheuer sogar ge-
fährlich werden.
Bislang kann der Minister schwere Vor-
würfe der Opposition nicht widerlegen.
Die Mautbetreiber sollen ihm angeboten
haben, die Verträge erst nach dem Urteil
zu unterzeichnen. Trifft dies zu, hätte
Scheuer den Steuerzahlern Schaden zuge-


fügt. Ohne Not hätte er millionenschwere
Schadenersatzforderungen der Betreiber
riskiert. Denn die arbeiteten auf sein Ge-
heiß hin schon seit Jahresbeginn an der
Einführung der Maut, trotz der Ungewiss-
heit über das Urteil.
Andreas Scheuer will von den brisan-
ten Vorgängen nichts wissen. Doch es löst
Misstrauen aus, dass das Ministerium wei-
tere Treffen mit den Betreibern einräu-
men muss, dazu aber teils keine Doku-
mente finden kann. Bei der Abwicklung ei-
nes Milliardenprojekts ist das kaum zu
glauben. Scheuer und sein Ministerium
müssen aufklären. Sonst kann es der Mi-
nister sein, der einen hohen Preis für die
Maut zahlt. markus balser

U


nsinnig, teuer und eine der schlech-
testen Sozialleistungen Deutsch-
lands: Das ist das Bildungs- und
Teilhabepaket für Kinder und Jugendli-
che in ärmeren Haushalten. Dieses Pro-
gramm ist ein bürokratisches Monstrum.
Es kostet Millionen, aber nur wenige
Kinder profitieren davon; das hat nun
eine Untersuchung des Paritätischen
Wohlfahrtsverbands gezeigt.
Einen staatlichen Zuschuss für den
Sportverein, die Musikschule oder Nach-
hilfe in der Schule zu bekommen, klingt
erst einmal gut. Am liebsten sprach die
Erfinderin des Pakets, die damalige
Sozialministerin Ursula von der Leyen,
vom „warmen Mittagessen“, das es jetzt


für arme Schüler gebe. Tatsächlich war es
für hilfebedürftige Familien von Anfang
an viel zu kompliziert, die Leistungen zu
beantragen. Das Missverhältnis zwischen
Aufwand und Ertrag ist bizarr. Klar, der
Staat kann ohne Kontrollen kein Steuer-
geld verteilen. Aber eine Sozialleistung,
bei der für jeden Euro teilweise Verwal-
tungskosten von 20 bis 30 Cent entste-
hen, ist einfach falsch konzipiert.
Nun hat die Regierung das Angebot
nachgebessert, doch Murks lässt sich
schwerlich reformieren. Besser wäre die
Hilfe aus einer Hand in Form einer Grund-
sicherung, in der alle staatlichen Leistun-
gen für Kinder und Jugendliche zusam-
mengeführt sind. thomas öchsner

B


ürgerrechtlich betrachtet gibt es in
diesem Land eine gesunde Skepsis,
wenn Politiker härtere Gesetze an-
drohen. Aber manchmal ist es dennoch nö-
tig, die Waffen der wehrhaften Demokra-
tie zu schärfen oder zumindest nachzujus-
tieren. Nichts anderes schlägt Bundesjus-
tizministerin Christine Lambrecht jetzt
vor, wenn sie Kommunalpolitiker besser
vor Angriffen, Verleumdungen und Dro-
hungen schützen will, die nicht nur, aber
überwiegend von rechts kommen.
Nicht alle, die sich da im Netz austoben,
sind organisierte Extremisten. Wenn die
meist anonymen Hetzer erwischt werden,
entpuppen sie sich in vielen Fällen als be-
schämte Kleinbürger. Die geplante Ver-


schärfung des Verleumdungsparagrafen
könnte den Erkenntnisprozess nachhaltig
fördern, dass der Rechtsstaat nicht endet,
wo das Internet beginnt. Dann aber müss-
te die Justiz das Thema ernster nehmen.
Zu oft reagiert sie mit Ignoranz und fal-
scher Milde, das darf nicht so bleiben: Der
Mord an dem Kasseler CDU-Politiker Wal-
ter Lübcke hat gezeigt, welche Folgen Ex-
zesse des Hasses im Netz haben können.
Ebenso wichtig ist es, Betreiber von So-
cial-Media-Portalen stärker in die Pflicht
zu nehmen. Das ist kein Angriff auf die
Freiheit, wie die ihre Hände so gern in Un-
schuld waschenden Digitalkonzerne be-
haupten, sondern nötig zur Verteidigung
dieser Freiheit. joachim käppner

A


m Ende flüchtet sich der Präsi-
dent in Ironie. Wenn er in sei-
ner „großen und unvergleichli-
chen Weisheit“ zu dem Schluss
gelange, dass die Türkei etwas
tue, das die Grenzen überschreite, so twit-
terte Donald Trump, werde er „die Wirt-
schaft des Landes auslöschen“. Es war der
unbeholfene Versuch, den Schaden zu be-
grenzen, den er zuvor mit der offenkundig
nicht einmal in der Washingtoner Regie-
rung abgesprochenen Entscheidung ange-
richtet hatte, die US-Truppen aus dem
nordsyrischen Grenzgebiet abzuziehen.
Und man kann sich nicht mal sicher sein,
ob Trump das wirklich ironisch meinte.
Führende Republikaner jedenfalls lie-
ßen sich nicht beeindrucken, auch nicht
von Beschwichtigungsversuchen aus dem
Weißen Haus. Senator Lindsey Graham,
dem Präsidenten sonst treu ergeben, rief
zum parteiübergreifenden Aufstand ge-
gen dessen erratische Syrienpolitik auf.
Er bezichtigte Trump der Lüge und drohte
der Türkei mit Sanktionen und der Sus-
pendierung der Nato-Mitgliedschaft, soll-
te sie die Kurden attackieren. Mitch
McConnell, Mehrheitsführer im Senat,
flehte verzweifelt, der Präsident möge
Amerikas Führungsrolle ausfüllen.


Das Chaos in der US-Außenpolitik die-
ser Tage ist bemerkenswert, selbst nach
den Maßstäben der Trump-Regierung. So
richtig der Rauswurf von Sicherheitsbera-
ter John Bolton war, die Institutionen, die
in Washington normalerweise die außen-
und sicherheitspolitische Entscheidungs-
findung vorbereiten, sind paralysiert, und
ihr Rat dringt nicht durch. Es gibt kaum
mehr geregelte Abläufe. Stattdessen trifft
der Präsident impulsiv nach Tageslaune
Detailentscheidungen mit großer Trag-
weite, ohne dass er Kosten und Nutzen ab-
wägen würde – oder auch nur die Folgen.
Der Schaden, der dadurch entsteht, ist
real, sei es im Handelsstreit mit China
oder in den verkorksten Atomgesprächen
mit Nordkorea. Aber nirgendwo ist er so
gravierend wie in der ohnehin fragilen Re-
gion zwischen Levante, Hindukusch und
dem Golf von Aden. Trump will Amerika
aus den „lächerlichen, endlosen Kriegen“
lösen und mit dieser Weltgegend nichts
mehr zu tun haben, außer wenn die Öl-
scheichs „schöne amerikanische Waffen“
kaufen. Oder er den Deal wittert, der den
Immobilienhai als Staatsmann adelt –
Stichwort Nahost-Frieden, Taliban-Gip-
fel in Camp David oder Handshake mit
Irans Präsident Hassan Rohani.


Eine schlüssige Strategie aber, wie Ame-
rika seine Rolle reduzieren könnte, ohne
nur viel verbrannte Erde zu hinterlassen,
hatte Trump nie. Stattdessen gefährdet er
mit seinen sprunghaften und wider-
sprüchlichen Entscheidungen jene prekä-
re Stabilität, die in den vergangenen Jah-
ren unter hohen Kosten etwa im Kampf ge-
gen die Terrormiliz Islamischer Staat er-
reicht worden ist. Er kündigte das Atomab-
kommen mit Iran und verhängte Sanktio-
nen ohne eine Idee für den Umgang mit
der erwartbaren Reaktion – außer, die
Sanktionen noch weiter zu verschärfen.
Während der US-Außenminister stän-
dig Teherans destruktive Rolle in der Regi-
on geißelt, ist Trump nicht willens, Iran in
Syrien entschieden entgegenzutreten. In
Israel, wo der Präsident wie in Riad zu Be-
ginn seiner Amtszeit als Heilsbringer ge-
sehen wurde, ist man ernüchtert. Saudi-
Arabien erfuhr jüngst bitter, wie viel die
mit Milliarden von Trump erkauften ver-
meintlichen Sicherheitsgarantien wert
sind, als in Abqaiq mutmaßlich iranische
Drohnen in Ölanlagen krachten.
Auch Trumps Idee, Amerikas Politik in
der Region zu guten Teilen an Verbündete
wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabi-
schen Emirate und Israel zu delegieren,
zeitigt katastrophale Ergebnisse: Sie sind
in Jemen oder Libyen zu sehen. Libanon
taumelt dem Staatsbankrott entgegen
und der Irak womöglich einem neuen Bür-
gerkrieg. Für Syrien ist keine tragfähige
Lösung in Sicht, dafür sind die Beziehun-
gen der USA zur Türkei so schlecht wie
seit Jahrzehnten nicht. Selbst wenn
Trump der restriktivsten denkbaren Defi-
nition nationaler Interessen folgen wollte:
Vom Zerfall staatlicher oder staatsähnli-
cher Strukturen im Irak, in Syrien, Afgha-
nistan, Jemen oder Libyen profitieren al-
Qaida und der Islamische Staat, Gruppen,
die auch für die USA eine Bedrohung sind.
Die Leidtragenden sind die Zivilisten in
diesen Ländern. Mit den Folgen aber wird
auch Europa konfrontiert sein. Die Flucht-
bewegungen 2015 und der Umgang damit
haben die politischen Verhältnisse in Ber-
lin, Paris oder Rom tief greifend verän-
dert. Wenn Afghanistan den Taliban
überlassen wird, wenn die Türkei die Kur-
dengebiete in Nordsyrien okkupiert, Iran
oder der Irak in den Kollaps getrieben wer-
den, dann zwingt das wieder Hunderttau-
sende in die Flucht. Eine adäquate Ant-
wort hat Europa bisher nicht gefunden,
weder für den Umgang mit Trump noch
mit den Krisen in der erweiterten Nachbar-
schaft. Die „Sprache der Macht“ muss Eu-
ropa noch lernen, sagt der designierte EU-
Außenbeauftragte Josep Borrell zu Recht.
Es sollte sich sputen, denn Trump wird
weitermachen wie bisher – und das ist
schon die optimistische Prognose.

4 HF2 (^) MEINUNG Mittwoch,9. Oktober 2019, Nr. 233 DEFGH
NO-DEAL-BREXIT
Alles läuft nach Plan
FOTO: AFP
Der Premier setzt darauf,
dass ihn wütende Leave-Fans
wieder ins Amt wählen
DEUTSCHE GESCHICHTE
Unrecht bleibt Unrecht
PKW-MAUT
Scheuer muss aufklären
BILDUNGSPAKET
Teurer Murks
SCHUTZ GEGEN HETZE
Im Namen der Freiheit
sz-zeichnung: pepschgottscheber
USA
Chaos-Präsident
von paul-anton krüger
AKTUELLES LEXIKON
Weisheit
PROFIL
Gordon
Sondland
Trumps
umstrittener
EU-Botschafter
Es ist höchste Zeit,
dass sich die Ostdeutschen offen
ihrer Vergangenheit stellen
Trump gefährdet jene fragile
Stabilität in Nahost, die unter
hohen Kosten erreicht wurde

Free download pdf