Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

Donnerstag, 3. Oktober 2019 SPORT47


Ein Praktiku m in der besten Liga der Welt


Der Handballer Marvin Lier wechselt für drei Monate leihweise zum deutschen Spitzenklub Flensburg – der eigenartige Wechsel ist eine Chance für alle


CHRISTOF KRAPF


Noch vor einerWoche war Marvin Lier
Handballer bei PfadiWinterthur und
Student der Erziehungswissenschaf-
ten in Zürich. Es war ein Leben auf der
Schwelle zwischen Amateur- und Profi-
sport. Nun wird Lier bis EndeJahr an
den deutschen Meister Flensburg-Han-
dewitt ausgeliehen. Flensburg brauchte
Ersatz auf dem linken Flügel, da sich
ein Spieler verletzt hatte und monate-
lang ausfallen wird. In der vergangenen
Woche fragteder Bundesliga-Klub bei
Pfadi für ein Leihgeschäft an. Die Klubs
waren sich schnell einig.
Champions League und Bundesliga
statt NLA, Rhein-Neckar Löwen statt
Endingen,BarcelonastattWackerThun



  • das ist die neueRealität des Schweizer
    Nationalspielers. Lier sagt: «Zuerst habe
    ich nicht daran geglaubt, dass das wirk-
    lich passiert.»
    Für Lier, 27Jahre alt und in der ver-
    gangenen Saison der besteTorschütze
    der NLA,ging plötzlich alles schnell.
    Am Sonntagnachmittag spielte er mit
    PfadiWinterthur gegenKriens-Luzern,


am Montagmorgen um 6 Uhr 30 flog
er nach Hamburg.In Flensburgan der
Grenze zuDänemark folgten der Me-
dizincheck, dieVertragsunterschrift, ein
erstes Krafttraining. Lier wurde plötz-
lich aus dem Alltag als studierender
Handballer gerissen.Das Studium hat
er auf ein Minimumreduziert. «Zum
Glückkonnte ich mich noch von einigen
Modulenabmelden», sagt er. Er hat nun
in der Nachwuchsakademie von Flens-
burg ein Zimmer bezogen, zur Halle
sind es nur wenige Minuten zuFuss.

Mehr Härte, mehr Spiele


Lier bleibt wenigZeit, um sich an den
neuen Klub zu gewöhnen. Heute Don-
nerstag wird er erstmals für Flensburg
spielen, im Cup gegen den Bundesliga-
Leader Hannover-Burgdorf. Handball
hat im Norden von Deutschland grosse
Tr adition; Flensburg war die vergange-
nen beidenJahre Meister, gewann 20 14
die Champions League. Die Derbys
gegen den Erzrivalen THW Kiel sind
Grossereignisse in Schleswig-Holstein
mit bis zu 10 000 Zuschauern. Im neuen

Kluberwartet Lier eine viel höhere
Intensität als in der NLA.In der Bun-
desliga wird schneller, härter und auf
technisch höherem Niveau gespielt. Der
Spielplan ist dicht gedrängt: Ligaspiele
amWochenende,Champions League
und Cup während derWoche.
Tr otzdemsagt Lier: «Es bringt nichts,
wenn ich mein Spiel umstelle.» Lier
ist ein pfeilschneller Flügelspieler, er-
zielt vieleToreüber den Gegenstoss –
hohesTempo ist eine der Qualitäten von
Flensburg-Handewitt.
Lier empfindet vielFreude in diesen
Tagen, bleibt aber gelassen. DieRuhe
passt zu seinem Naturell.Auf demFeld
tritt er abgezockt auf, im Nationalteam
schiesst er diePenaltys – ein Nerven-

spiel zwischenSchützeundGoalie. Lier
vergibt selten einen Siebenmeter.
Für die Nationalmannschaft und ihr
Tr ainer ist das Engagement von Lier in
Flensburg ein Glücksfall. ImJa nuar wird
die Schweizerstmals seit 2006 an der
EM in Schweden, Norwegen und Öster-
reich teilnehmen, Lier wird imVorfeld
während dreierMonate auf höchstem
internationalen Niveau spielen. «Für
mich ist das die perfekteVorbereitung
auf die Europameisterschaft. In der
Bundesliga musst du immer wachsam
sein und wirst in jedem Spiel gefordert.
Das bringt mich als Handballer weiter»,
sagt Lier.

Nach der EM zurückzu P fadi


Der Schweizer Nationaltrainer Michael
Suterkennt Lier seit 2009 , er begleitete
ihn alsTr ainer durch dieJunioren-Aus-
wahlen. ImA-Nationalteam setzt Suter
auf Lier.«Marvin war schon alsJunior
ein unglaublich schlauer undabgezock-
ter Spieler. Diese Qualitäten hat er be-
wahrt», sagt Suter. Suter erkannte Liers
Potenzial als Flügel – früher spielte die-

ser imRückraum und am Kreis. Nach
der EM, imkommendenFebruar, ist für
Lier dieRückkehr in die NLA geplant.
PfadiWinterthurkonnte es sich erlau-
ben, denTopskorer auszuleihen. Das
liegt am Modus der NLA, die entschei-
dende Phase der Saison mit den Play-
offs startet erst imFebruar. Pfadi sollte
sich auch ohne Lier mühelos für die
Play-offs qualifizieren.
Lier hat inWinterthur einenVer-
trag bis 2021.Er macht aber deutlich:
Die drei Monate in Flensburg sind für
ihn auch eine Chance, sich zu präsen-
tieren.Einlangfristiges Engagement
beim deutschen Meister ist vorerst un-
wahrscheinlich; Flensburgist zu stark
besetzt. Im vergangenemFrühjahr hat
Lier einen Spielerberater engagiert. Er
will mittelfristig fix insAusland wech-
seln. «Die Bundesliga-Klubs haben oft
keine Kapazität, Spieler in der NLA zu
beobachten. Deshalb laufen die meis-
tenTr ansfers über Berater», sagt er.
Der Berater hat das Leihgeschäft mit
Flensburgeingefädelt.Und Lier damit
ein Schaufenster in der besten Ligader
Welt verschafft.

Marvin Lier
PD Handballspieler

Der Absturz wirkt nach

Die Glasgow Ran gers wu rden 2012 in di e vierte Liga relegiert, nun spielen sie in der Europa League gegen YB


HANSPETER KÜNZLER, LONDON


Derzeit beschäftigt schottischeFussball-
fansvor allem eineFrage:Wirdes den
GlasgowRangers gelingen, den neun-
tenTitelgewinn inFolge des Lokalriva-
len Celtic zu verhindern? DieForm-
kurve der «Gers» zeigt deutlich nach
oben. Nachdemman dieersten beiden
Saisons nach demWiederaufstieg in die
oberste Spielklasse jeweils hinter Celtic
und Aberdeen im drittenRang beendet
hatte, arbeiteten sich dieRangers letz-
tesJahr auf den zweiten Platz vor. Der
Rückstand auf Celtic betrug bloss noch
neun Punkte. ZweiJahre vorher waren
es noch 39 Punkte gewesen, neun hinter
dem zweitplatzierten Aberdeen.
Weniger optimistisch stimmt da-
gegen dasResultat der ersten Direkt-
begegnung der laufenden Saison.In
einem gehässigen Spiel auf eigenem
Platz, dem es gemäss BBC-Kommenta-
tor «anKontroversen ebenso fehlte wie
anFussballqualität», verloren dieRan-
gers Anfang September 0:2. DerRück-
stand auf den noch unbesiegten Leader
beträgt nach siebenRunden dennoch
bloss einen Punkt.MehrAufschluss über
den Zustand des schottischenFussballs
gibt dieTatsache, dass Motherwell im
drittenRang bereits fünf Punkte hinter
denRangers zurückliegt. DerAusgang
desTitelrennens ist denn auch eine Art
Glücksspiel.Gewinnen wird diejenige
Glasgower Mannschaft, die am wenigs-
ten oft einen schlechtenTag erwischt,
wenn ein normalerweise krass unter-
legener Gegner über sich hinauswächst.


Weltklasse bei den Anhängern


SiebenJahre nach der Zwangsrelegation
in die viertoberste Spielklasse sind die
GlasgowRangers ungefähr wieder da,
wo sie einmal waren. Nämlich im ewigen
Clinch vereint mit dem einzigenkon-
kurrenzfähigen Rivalen, der in Schott-
land noch geblieben ist, Celtic. Nieman-
dem ist es gelungen, auch nur annähernd
an das Niveau von zwei Klubs heranzu-
kommen, die gemessen an der Anhänger-
schaft zu den grössten derWelt gehören.
Die durchschnittliche Zuschauerzahl
von Celtic lag in der Saison 2018/19 bei
57 778, diejenige derRangers bei 49 564.
Hearts und Hibernian, die beidenVer-
eine aus Edinburgh,kommen am nächs-
ten an diese Zahlen heran: Sie ziehen je
rund 17000 Anhänger an.Das finanzielle
Gefälle ist entsprechend enorm.
Die Dominanz derVereine aus Glas-
gow begann in den erstenTagen der
Fussballgeschichte. DieWurzeln der
Rangers liegen in Govan, einem Distrikt


im Südwesten der Stadt, der vom Schiff-
bau lebte und vornehmlich von protes-
tantischenWerftarbeitern unterstützt
wurde. Celtic wurde im Osten mit dem
spezifischen Ziel gegründet, für eine
vornehmlich irische, in prekärenVe r-
hältnissen in den Slums lebende Immi-
grantengemeinschaft Ablenkung zu
schaffen.Rangers und Celtic teilen sich
seither dieFavoritenrolle.
Aber es gab auch immer wiederAus-
nahmen. Sofeierte Kilmarnock1965 sei-
nen bis heute einzigen Meistertitel, ehe
Celtic zum erstenRun von neunTiteln in
Folge ansetzte. Unter demTr ainerAlex
Ferguson war Aberdeen zwischen 1980
und1985 drei Mal erfolgreich, und auch
Dundee United errang denPokal, be-
vor dieRangers1997 ihrerseits den ers-
ten von neunTiteln in Serie erkämpften.
Mit diesem Erfolg begann auch der Ab-
sturz. Die Geschäftsführung wirtschaf-
tetekonsequent mitroten Zahlen, mit
dubiosenTr icks wurde versucht,Banken
und Steuerbehörden abzuwimmeln. Die
schottischenFussballautoritäten unter-
nahmen nichts, um die Übernahme des
Vereins durch einen Betrüger zu verhin-
dern.Bald deckten die Behörden eine

Reihe finanzieller Unregelmässigkeiten
auf, und imFebruar 2012 erfolgte der
Konkurs.Vereine und derenFans wehr-
ten sich erfolgreich gegen eine Amnestie
derreformiertenRangers, die Zwangs-
relegation wurde unausweichlich.
DieFolgen waren katastrophal. Die
verbliebenen Premier-League-Vereine
verzeichneten einen Publikumsschwund
von mindestens 25 Prozent.Das drückte
aufs Budget.Darunter litt nicht zuletzt
die Nachwuchsförderung, die ohnehin
nicht mehr auf denTalent-Pool frühe-
rer Zeiten zurückgreifen kann. Der frü-
here NationaltrainerWalter Smith führt
dies auf eine veränderte Strassenkultur
zurück: Seine Kinder hätten noch halb
so oftFussball gespielt wie er, und die
Generation danach noch weniger. Die
Rangers spielennun wieder um denTi-
tel. Aber sie tun dies auf einem deutlich
niedrigeren Niveau als noch vor zehn
Jahren. Die Stadt-Derbys sind zu einer
Spezialitätverkommen, die nur noch der
Lokalbevölkerung so richtig schmeckt.
Ein Blick insheutigeRangers-Ka-
der zeigt, wie schwierig es geworden ist,
namhafte Spieler anzulocken: Im Som-
mer wurde die definitiveVerpflichtung

des 22-jährigen MittelfeldspielersRyan
Kent,einerLeihgabevon Liverpool,
als Prestigeerfolg gefeiert. Der Spieler
war während seiner vierJa hre bei den
Reds nicht ein einziges Mal in der ers-
ten Mannschaft zum Einsatz gekom-
men. Der gefährlichste Stürmer ist der
Kolumbianer Alfredo Morelos, ein Zu-
zug aus Helsinki. Morelos sammeltrote
Karten wie andere Leute Briefmarken.
Mit vierzehnToren zweiterfolgreichster
Goalgetter war letztesJahr derAussen-
verteidiger und CaptainJamesTaver-
nier, der zuvor jahrelang in den unteren
englischen Ligen gespielt hatte.

Gerrard mit starkem Einstand


Tr ainer derRangers istseit 20 18 Steven
Gerrard.Dass es der Liverpooler Le-
gende in ihrer ersten Anstellung alsTr ai-
ner einer Profimannschaft gelungen ist,
mit diesem Kader den Anschluss an die
Überflieger von Celtic zu schaffen, zeugt
von GerrardsTalent. Die erste grosse
Herausforderungbesteht nun darin, zu
verhindern, dass Celtic dieTitel Num-
mer 9 und 10 gewinnt und somit allei-
niger Serienmeister-Rekordhalter wird.

DerStar ist derTrainer: Steven Gerrard sorgt bei den Rangers wieder für Glücksmomente. LEE SMITH/REUTERS

Salazar-Skandal


erreicht bei Nike


die Chefetage


Der CEO war über Experimente
mit Testosteron informiert

reg.· DemTr ainer-Guru Alberto Sala-
zar ist an den Leichtathletik-WM die
Akkreditierung entzogen worden, nach-
dem er wegenVerstössen gegen das
Antidoping-Reglement für vierJa hre
gesperrt wurde.Diverse WM-Teil-
nehmeraus seinem Oregon Project be-
teuern, entweder nie unter ihm trainiert
oderkeinerlei Medikamente und Nah-
rungsergänzungsmittel von ihm ent-
gegengenommen zu haben. Dennoch
weitet sich der Skandal aus.
Die «NewYorkTimes» hatte Ein-
sicht in die Akten desverantwortlichen
Schiedsgerichts und fand dort E-Mails,
die belegen, dass der Nike-CEO Mark
Parker und andereFührungskräfteder
Firma über Experimente Salazars mit
dem verbotenen HormonTestosteron
informiert waren. DerTr ainer liess seine
beiden Söhne mit einerTestosteron-
Crème einreiben und danach untersu-
chen, ob die Substanz in einer Doping-
kontrolle nachweisbar war. Laut der
«NewYorkTimes» schriebParker dazu:
«Es wird interessant sein festzustellen,
welches dieminimale Dosis ist, die einen
positivenTest generiert.»
Der Nike-Chef bestreitet dieAuthen-
tizität der Dokumente nicht.Erargu-
mentiert wie Salazar, es sei darum ge-
ga ngen,Läufer vor Sabotage zu schüt-
zen. Der SprinterJustin Gatlin hatte als
Ausrede für eine positive Probe vorge-
bracht, ein Masseur habe ihn ohne sein
Wissen mit einer solchenCrème behan-
delt. DerFall Gatlin datiert von 2006,
SalazarsTests begannen erst dreiJahre
später und zogen sich bis 2 01 1 hin.
EineRecherche von «Pro Publica» er-
gab, dass Salazars Musterschüler Galen
Rupp schon viel früherTestosteron als
Medikament verschrieben bekam.
Für den Sportartikelkonzern Nike,
der Salazars Oregon Project mit Millio-
nen alimentiert, stehen die Enthüllun-
ge n in einer langenReihe von Negativ-
meldungen. DerRadprofiLance Arm-
strong und die Leichtathleten Marion
Jones undJustin Gatlin standen im Zen-
trum von Dopingskandalen, und stets
zögerte derKonzern, ehe er sich klar
von den Überführten distanzierte. In
jüngster Zeit begehrten Sportlerinnen
wie die zwölffache Leichtathletik-Welt-
meisterin AllysonFelix auf, weil sie bei
Schwangerschaft die Existenz riskier-
ten.Felix sagte, Nike habe ihr einenVer-
trag mit 70 Prozent weniger Gehalt an-
geboten. Inzwischen hat das Unterneh-
men die Richtlinien angepasst. Bei einer
Schwangerschaft bleiben die Zahlungen
während 18 Monaten unverändert.
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