Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.10.2019

(Dana P.) #1

SEITE 12·MONTAG, 7. OKTOBER 2019·NR. 232 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Ja, die Jazzwelt ist noch in Ordnung,
wenn einige ihrer größten Künstler aus
Israel und aus Puerto Rico kommen, es
wichtige Ausbildungsstätten für das
Genre in Leipzig und Dresden gibt, die
Jazzmeile Thüringen zur landesweiten
Spielstätte mutiert und die rhythmi-
schen Grooves auch an Bachs früher
Wirkungsstätte in Arnstadt und im Kul-
turhof vom hundert Einwohner zählen-
den Zickra erklingen lässt, wenn die jun-
gen „Achava Festspiele“ in Eisenach, Er-
furt und Weimar, die den interkulturel-
len Dialog und das christlich-jüdische
Verhältnis in den Mittelpunkt stellen, ei-
nen gutdotierten Jazzpreis für transkul-
turellen Jazz vergeben und sich dort zu
Workshops mit Avishai Cohen zahllose
angehende Jazzbassisten drängen.
Die Jazzwelt ist in Ordnung, weil der
Jazz stets über den Rand seiner nicht vor-
handenen Notenblätter hinausgeschaut
hat, sich nie um irgendwelche Schlag-
bäume kümmerte, also von Natur aus
transkulturell war und noch immer als
Grundlage für alle möglichen populären
Musikformen attraktiv ist, auch wenn
diejenigen, die ihm hartnäckig verbun-
den bleiben, davon nur mühsam ihren
Lebensunterhalt bestreiten können.
Nica de Koenigswarter, die furchtlose
Muse von Thelonious Monk und Charlie
Parker, von Charles Mingus und so vie-
len anderen Jazzgenies in New York, hat
kaum übertrieben, wenn sie nüchtern
konstatierte: „Jazzmusiker haben vor al-
lem eines gemeinsam, sie sind immer ar-
beitslos.“ Will sagen: mittellos.
Insofern treffen Jazzpreise wie der
jetzt zum zweiten Mal vergebene, mit elf-
tausend Euro dotierte Achava Jazz
Award – außerordentliches künstleri-
sches Niveau vorausgesetzt – immer den
Richtigen. Und Miguel Zenón aus Puer-
to Rico, seit fast zwanzig Jahren in New
York zu Hause, ist sicherlich einer der
aufregendsten Altsaxophonisten im ak-
tuellen Jazz. Allerdings gehört er zu der
kleinen Gruppe von Jazzmusikern, die
die Ausnahme von Nicas Regel darstel-
len. 2008 bekam er das mit 43 000 Dol-
lar ausgelobte Guggenheim-Stipendium
und im selben Jahr, aber unabhängig da-
von als Fellow der MacArthur Founda-
tion den sogenannten „Genius Grant“:
damals 500 000 Dollar, verteilt auf vier
Jahre. Davon hätten Jazzmusiker auch
in New York eine Weile ganz gut leben
können.
Aber Miguel Zenón hatte Sozialeres
im Sinn. Angeregt von der damals über-
aus populären isländischen Rockgruppe
Sigur Rós und ihrem Projekt „Heima“, ei-
ner landesweiten Tour mit unangekün-
digten freien Konzerten für alle Publi-
kumsschichten durch ganz Island, starte-
te er seine „Carvana cultural“ mit Jazz-

konzerten in ländlichen Gebieten seiner
Heimat Puerto Rico. Drei Jahre dauerte
die Tour mit kostenlosen Konzerten gro-
ßer Jazzstars, mit Schulkonzerten, Kur-
sen und Workshops für Menschen, die
noch nie in ihrem Leben Jazz gehört hat-
ten. Dann hatten die Kosten dafür sein
Preisgeld verschlungen. Aber SFJazz,
eine Musikinitiative in San Francisco,
deren Mitglied Zenón war, half ihm, das
Projekt weitere fünf Jahre durchzuhal-
ten und, wie er selbst sagte, seinem
Land etwas zurückzugeben, dessen urei-
genste Musik ihn schon als Kind faszi-
niert hatte und das in ihm an der Escue-
la libre de Musica in San Juan die Grund-
lage für seine künstlerische Entwick-
lung gelegt hatte.
Das Geben und Nehmen hat sich ge-
lohnt, wie das Preisträgerkonzert mit sei-
nem langjährigen Quartett zeigte. Ze-
nón hat seine lateinamerikanischen Wur-
zeln wohl gepflegt, wie auch an seiner
neusten Aufnahme „Sonero“ zu hören
ist. Die Hommage an den großen puerto-
rikanischen Sänger Ismael „Maelo“ Rive-
ra gerät da zu einer grandiosen Mi-
schung aus karibischen Salsa-Rhythmen,
flirrenden Belcanto-Melodien und aber-
witzig virtuosen Passagen. In ihrer wag-
halsigen Offbeat-Phrasierung erinnern
sie an Charlie Parkers Bebop-Blitzschlä-
ge als Vorboten des freien Sound-Gewit-
ters à la John Coltrane. Es gibt aber auch
überirdisch schöne Frage-und-Antwort-
Figuren zwischen Zenóns lyrischem Sa-
xophonton und der gestrichenen Gegen-
stimme seines Bassisten Hans Glawi-
schnig; große Glücksmomente schlaf-
wandlerischer Jazzimprovisation.
Sie ergaben sich dann auch im zwei-
ten Teil des Konzerts beim Trio des is-
raelischen Bassisten Avishai Cohen,
ebenfalls einem jener Jazznomaden, der
sich wie Miguel Zenón in New York ei-
nem Stresstest unterzog, um sich für sei-
ne internationale Jazztauglichkeit vom
Trio über großorchestrale Einsätze bis
zu Third-Stream-Jazz-Projekten fit zu
machen.
Mittlerweile ist er einer der großen
Bassisten auf internationalen Bühnen
mit einem rhythmisch-melodischen
Drive und einer schier berstenden Aus-
druckskraft, die er offenbar nur im
Zaum halten kann, indem er sich biswei-
len ausklinkt und das Terrain seinem fili-
granen Tontechniker Elchin Shirinov
aus Aserbaidschan am Klavier und dem
Kraftpaket Noam David am Schlagzeug
überlässt. Am überzeugendsten aber
sind auch hier die eher leisen Passagen,
etwa ein unwiderstehliches Gesangssolo
über „Motherless child“, bei dem er sich
selbst mit dem Bass das feierliche Geleit
gibt. Musik für die Ewigkeit. Die Vorhän-
ge werden zugezogen, und Trauer füllt
den Raum. WOLFGANG SANDNER

MINSK,im Oktober

U


m die modernistische Architek-
tur in den Ländern des ehemali-
gen Ostblocks zu studieren, gibt
es keinen besseren Ort als
Minsk. Da die belarussische Hauptstadt
auf dem Durchmarschgebiet der großen
Kriege lag, hat sich aus ihrer fast tausend-
jährigen Geschichte kaum ein Baudenk-
mal erhalten. Auf verbrannter Erde ha-
ben sowjetische Stadtplaner hier eine so-
zialistische Mustermetropole errichtet,
deren fassadenhafte Idealität von dem
Minsker Autor Artur Klinau, der auch Ar-
chitekt und Künstler ist, in seinem Kult-
buch „Sonnenstadt der Träume“ als Büh-
nenbild des gescheiterten Sowjetprojekts
gedeutet wurde. In Weißrussland, das von
Präsident Alexandr Lukaschenka autori-
tär regiert wird, sich aber nicht in eine
Oligarchie verwandelt hat, wird das sow-
jetische Erbe mehr als anderswo gepflegt.
Hier erzielte aber auch der Fertigteil-
und Plattenbau vergleichsweise vorzeig-
bare Ergebnisse. So war es nur konse-
quent, dass die vom Goethe-Institut mit
einem internationalen Kuratorenteam or-
ganisierte Wanderausstellung „Die Stadt
von morgen“ bei ihrer Station in Minsk
den dortigen Wohnungsbau in den Fokus
nimmt. Die Schau ist noch bis zum


  1. Oktober im Palast der Künste geöff-
    net. Gegen Ende des Jahres wird sie in
    der Neuen Tretjakow-Galerie in Moskau
    zu sehen sein, bevor sie im kommenden
    Jahr nach Nowosibirsk, Kiew und Tiflis
    weiterzieht.


Den lokalen Teil der Schau hat der aus
Minsk stammende, heute in Edinburgh
lehrende Architekturhistoriker Dimitrij
Zadorin kuratiert, dessen Stadtführung
bei Studenten diverser Fachrichtungen
großen Zuspruch findet. Zadorin zeigt,
wie nach dem Verbot architektonischer
„Überflüssigkeiten“ durch Parteichef
Chruschtschow in den fünfziger Jahren
die Baukörper kahl werden, und wie nach
Chruschtschows Ukas über die industriel-
le Fertigung die Ziegel- durch Blockbau-
weise abgelöst wird. Was für Moskau die
„Chruschtschowki“ sind, jene fünfstöcki-
gen Wohnhäuser ohne Lift, die derzeit ab-
gerissen und zumeist durch Wohntürme
ersetzt werden, sind für Minsk zweistöcki-
ge spätstalinistische Arbeiterapparte-
menthäuser, die nach ihrem Architekten
Michail Osmolowski „Osmolowki“ hei-
ßen und jetzt ebenfalls verschwinden.
Da Weißrussland keine Bodenschätze
besitzt, startete die Industrialisierung hier
erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit Ma-
schinenbaubetrieben, elektro- und bau-
technischen Firmen, von denen viele in
der Sowjetunion führend wurden. Seit den
späten fünfziger Jahren wuchsen überall
im riesigen Land nahezu identische Wohn-
häuser aus standardisierten Fertigteilen
empor. Die Ausstellung zeigt, dass die Sow-
jetunion solche Typenbauten später auch
nach Kuba, Chile oder Jugoslawien expor-
tierte. Dass in der belarussischen Haupt-
stadt dabei die Normware qualitätvoll pro-
duziert und kreativ verarbeitet wurde,
nannte man das „Minsker Phänomen“.
Beispiele dafür präsentiert der lokale
Ausstellungsteil, der zu jeder Station der
Tournee gehört. Mehrfach preisgekrönt
wurde die von dem Architekten Juli Spit
1966 am Tolbuchin-Boulevard errichtete
Wohnanlage, bei der achtstöckige Appar-
tementblocks quer zur Straße angeordnet
und an der Basis durch einen gestuften
Flachbau mit Geschäften verbunden sind,
den auf der einen Seite der Glaszylinder
des Cafés „Steinerne Blume“, auf der an-
deren der neokonstruktivistische Glaskas-
ten des Kinos „Partisan“ abschließen. Bei-
de Nutzbauten wurden inzwischen frei-
lich stark verändert. Zehn Jahre später

ließ Georgi Syssojew an der Stadtausfahrt
Richtung Moskau vier lange Wohnblocks
mit rhythmisierten Balkonen auf die Stra-
ße zulaufen, die Dachgärten überwölbt
von Betonpergolen. Die Schmalwände
der in großzügigen Abständen stehenden
Bauten ließ Syssojew durch riesige Mosai-
ken zu den Themen Arbeit, Kultur, Wis-
senschaft und Verteidigung schmücken.
Solche Ensembles hätten nur entstehen
können, weil Architekten, Baufirmen und
Machthaber gewissenhaft kooperierten,
erklärt Zadorin bei der Vernissage. Bei
heutigen Investitionsbauten würden mög-
lichst hohe Türme möglichst eng plaziert,
weil Verwaltungsfunktionäre große Rück-
läufe verlangten.
Die amerikanische Architekturkritike-
rin und Mitkuratorin Anna Kats glaubt,
dass die Wohnungsbauprogramme der
früheren Sowjetunion heute auch für die
entwickelten Länder interessant würden.
Denn der soziale Zusammenhalt der west-
lichen Gesellschaften sei gefährdet, so
Kats, die im georgischen Tiflis geboren
wurde, von wo der Nationalismus der
neunziger Jahre ihre Familie vertrieb.
Kats imponiert, dass der Sowjetmodernis-
mus den Architekten umfassende gesell-
schaftliche Aufgaben zuwies wie den Bau
neuer Stadtteile für zigtausend Men-
schen. Außerdem plädiert sie dafür, stilis-
tische Milieus wie den funktionalen Bru-
talismus gegenüber architektonischen
Einzelleistungen ästhetisch aufzuwerten.
Leider achteten die Bewohner der ehe-
maligen Sowjetrepubliken ihr modernisti-
sches Bauerbe oft nicht, ergänzt der arme-
nische Künstler und Kurator Ruben Arev-
shatyan. Sie hätten das Gefühl, das unter-
gegangene Sowjetsystem habe sie von der
Weltzivilisation abgeschnitten. Das förde-
re Zynismus und den Wunsch, sowjeti-
sche Bauwerke abzuräumen. Die Privati-
sierung und der Druck von Investoren hät-
ten dann viele öffentliche Räume und Ar-
chitekturdenkmäler zerstört, klagt Arev-
shatyan. In Eriwan wurde etwa das Frei-
lichkino „Moskwa“, ein Meisterwerk der
Architekten Geworg Kotschar und Tel-
man Geworgjan aus den sechziger Jah-
ren, teilweise abgerissen. Nur dank öffent-

licher Proteste bleibt es nun doch erhal-
ten. Umso wichtiger findet Arevshetyan
die Signalwirkung, die vom Engagement
der Getty-Stiftung bei der Restauration
und Konservierung einer sowjetarmeni-
schen „Ikone“ von Geworgjan ausgeht,
dem 1968 fertiggestellten Kantinenrund-
bau des Schriftstellersanatoriums am Se-
wan-See, der wie ein verglastes Raum-
schiff über den Wassern schwebt.
Die von Vorträgen über das Bauhaus
und dessen Wissenstransfer in die Sowjet-
union flankierte Schau vergegenwärtigt,
dass der Sowjetmodernismus auf der
Höhe seiner Zeit war. Sie erinnert an die
„Rote Bauhausgruppe“ um Hannes Mey-
er und an Margarete Schütte-Lihotzky,
die Erfinderin der funktionalistischen
„Frankfurter Küche“, die in den dreißiger
Jahren Städte im Ural und in Sibirien kon-
zipierten. Der sowjetische Funktionalis-
mus während des Kalten Kriegs war auch
Ausdruck des Primats von wissenschaft-
lich-technischem Fortschritt, in den die
Parteiführung investierte. Dabei entstan-
den viele Bauten, die einem „westlich“ in-
dividualistischen Lebensstil Rechnung
trugen wie Cafés, Heiratspaläste, Kauf-
häuser, deren Konsumangebot freilich
dürftig blieb. Zugleich transportierte die-
se Architektur aber schon die Renais-
sance des vorrevolutionären nationalen
Erbes, die die Sowjetmacht einst zu Fall
bringen würde, wenn etwa die 1971 be-
gonnene Kaskade in Eriwan Embleme
des protoarmenischen Reichs Urartu zi-
tiert oder der Mosaikschmuck an Sysso-
jews Minsker Wohnblock christliche Heili-
genfiguren. Doch Belarussland, das die
riesige, muschelförmige Markthalle im
Minsker Stadtteil Komarowka von 1979
zum Denkmal erklären will, schätzt sei-
nen Sowjetmodernismus. Die Architektur-
studentin Valeria ist stolz auf den spätsow-
jetischen Koloss ihrer Hochschule, der
wie ein steinernes Flugzeug am Unabhän-
gigkeitsprospekt emporragt. Und der
weißrussische Künstler Sergej Shabochin
liebt sogar die marmorierte Plastikfolie,
mit der die Stadtväter Graffiti überkle-
ben, als einzigartige Schönheitspflaster
am Minsker Stadtkörper. KERSTIN HOLM

Sonnenstadt mit Schönheitsflecken


DasFoto stammt aus dem Jahr 1979 und
zeigt den Maschinensaal des damals größ-
ten Textilbetriebs der Leinenweberstadt
Laichingen auf der Hochfläche der mittle-
ren Schwäbischen Alb. Im Vordergrund
der Eigentümer des Betriebs beim Knüp-
fen eines zerrissenen Fadens an einem me-
chanischen Webstuhl, im seitlichen Hinter-
grund ein deutlich jüngerer Mann: der da-
mals vierzigjährige Historiker Hans Me-
dick. Das Foto findet sich in einer Göttin-
ger Habilitationsschrift, die 1996 erschien
und als Paradigma der Mikrogeschichte in
Deutschland gelten darf: „Weben und
Überleben in Laichingen 1650–1900“.
Auch das Foto selbst darf paradigmatisch
genannt werden – scheint doch der junge
Mann für das spätere Wort des italieni-
schen Historikers Giovanni Levi zu ste-
hen, dass Mikrohistoriker nicht Dörfer,
sondern in Dörfern untersuchen.
In Erlangen bei Kurt Kluxen zu den „Ur-
sprüngen der bürgerlichen Sozialtheorie“
promoviert, wandte sich Medick am Göt-
tinger Max-Planck-Institut für Geschichte
gemeinsam mit Peter Kriedte und Jürgen
Schlumbohm den Erscheinungsformen ge-
werblicher ländlicher Warenproduktion
im Europa der frühen Neuzeit zu. Indem
das Projekt die Vielfalt und Offenheit re-
gionaler Entwicklungsprozesse der „Indus-
trialisierung vor der Industrialisierung“

systematisierend nachzuweisen vermoch-
te, trug es dazu bei, die stark einlinig ge-
prägten Industrialisierungs- und Moderni-
sierungstheorien nachhaltig zu erschüt-
tern. Gleichzeitig ließ das Unternehmen
keinen Zweifel daran, dass künftige Unter-
suchungen zur Proto-Industrialisierung
vor allem eines bedurften: der Bereit-
schaft zur „historischen Feldforschung“,
um auch die kulturellen, nicht zuletzt reli-
giösen Voraussetzungen (und Folgen) pro-
to-industrieller Prozesse zu rekonstruie-
ren. Von der Alltags- und Erfahrungsge-
schichte dieser Prozesse ganz zu schwei-
gen. Medick hat immer wieder betont,
dass es vor allem diese Erkenntnis war,
die ihn zum Mikrohistoriker werden ließ,
der schließlich einen guten Teil seines For-
scherlebens dem Zusammenhang von
„Weben“ und „Überleben“ in der „entlege-
nen“ agrarischen Grenzregion des „würt-
tembergischen Sibirien“ widmete.
Entlegene Geschichte? Ja und nein – ist
es doch nach mikrohistorischem Credo
die Lokalgeschichte, die dieses Ganze erst
erkennbar werden lässt: „Lokalgeschichte
als Allgemeine Geschichte“, so der Unter-
titel der Habilitationsschrift mit eingeweb-
ter Spitze gegen Hans-Ulrich Wehlers Bie-
lefelder Schule. Der Leineweberort Lai-
chingen ist vor diesem Hintergrund zu ei-
nem „normalen Ausnahmefall“ gewor-

den, zu einem Extremfall des Möglichen,
der, um nur zwei Beispiele zu nennen,
eine protestantische Ethik ohne kapitalisti-
schen Geist hervorbrachte – und einen
durchschnittlichen Buchbesitz, der jenen
der Haushalte der unweit gelegenen Uni-
versitätsstadt Tübingen deutlich übertraf.
Obwohl das Laichingen-Buch ohne
EDV nicht denkbar gewesen wäre, lässt es
doch schon erkennen, was in den Erfurter
Jahren des Verfassers erheblich an Ge-
wicht gewinnen sollte: das Interesse an
Selbstzeugnissen. Medicks dokumentari-
sche Mikrogeschichte des Dreißigjährigen
Krieges, die 2018 bei Wallstein in Göttin-
gen erschien und schon mehrere Neuaufla-
gen erlebte, versammelt „Zeugnisse vom
Leben mit Gewalt“. Hier ist eine histori-
sche Anthropologie des Krieges entstan-
den, die nicht zuletzt vor Augen führt,
dass zur Beendigung eines Krieges sehr
viel mehr vonnöten ist als Diplomatie.
Hans Medick hat schon im Laichingen-
Buch von der Pflicht des Historikers ge-
sprochen, dem „sprachlosen Plädoyer der
Toten“ (Siegfried Kracauer) Worte, Na-
men und Gestalt zu verleihen. Es ist ihm
immer wieder gelungen, aber vielleicht in
keinem Buch so eindringlich wie in dem
über den Dreißigjährigen Krieg. Am heuti-
gen Montag wird der große Mikrohistori-
ker achtzig Jahre alt. PETER BURSCHEL

Wehler kam nur bis Tübingen


Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte: Hans Medick zum Achtzigsten


Zu Hause im Jazz


Ein lebendiger Workshop: Miguel Zenón und


Avishai Cohen beim Achava-Festival in Thüringen


68.9>; >8%>% <=2/>=>% 4=#;9 03; "8>;>%)
-8= (>=">% ,>90&#=!:#;>% "7=$:&0$:>% 7%"
(>89>= >'8;98>=>% .8; 8% "8> 1%>%"38$:5>89*
+*

.!9Q 7A .C>B(H N!(D( 7A N!,#9 4 W!> 5(>B!<<(A 6!,# <@ <(#>


M!,#F(YF 0Q<,#!>A9<,#


I-&G"G-)" S $G\G+E-\


6>G 87>9T 0Q<,#!>A9<,#
UFDT 7A* 1(>%!@ B!9 V>(*(>!,@7 7A* K!,@YF<

/>A(A9>F7(>'(!(> FB V>(!9F%H *(A -]G 3[9@D(> +E-\ 7B -& /#> !A
*(> X5FA%(Y!<,#(A 8#>!<97<[!>,#( 079Q!A%H R;>BFAA<9>FJ( ]G

=A<9(YY( '>(7A*Y!,# Q7%(*F,#9(> :Y7B(A D!99(A W!> !B 1!AA( 5@A
M!,#F(YF 7B (!A( 1?(A*( Q7%7A<9(A*(> HHL>Q9( @#A( U>(AQ(A
P:=KZ 6X"+ )"E+ E&EE EEE\ "E\" EEH
O(AAW@>9Z 0>F7(>'FYY M!,#F(YF 0Q<,#!>A9<,#G

DasPhänomen von


Minsk: Eine Wander-


ausstellung würdigt die


Architektur der


Nachkriegsmoderne


in den Ländern der


einstigen Sowjetunion.


Normierte Fertigteile, qualitätsvoll verarbeitet: Der weißrussische Architekt Juli Spit errichtete diese Wohnanlage am Tolbuchin-Boulevard in Minsk 1966. Foto GBANTD

Virtuosität ohne technische Kälte: Miguel Zenón (rechts) Foto Martin Kaufmann
Free download pdf