Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.10.2019

(Dana P.) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft MONTAG, 7. OKTOBER 2019·NR. 232·SEITE 17


Keiner hat ihm das zugetraut. Boris John-
son ist der Sunnyboy der britischen Poli-
tik, hochgebildet, nicht immer seriös, un-
geheuer beliebt und vor allem die letzte
Hoffnung der Konservativen in ihrem
Kampf gegen Nigel Farage und seine ex-
tremistische Brexit Party. Seit Johnson
am Ruder ist, schnellen die Umfragewer-
te für die Konservativen wieder in die
Höhe. So groß war der Vorsprung vor
der Labour Party schon lange nicht
mehr. Bei einer Parlamentswahl heute
läge die absolute Mehrheit der Mandate
in greifbarer Nähe.
Johnsons Attraktivität als Nachfolger
der glücklosen Theresa May war die Ver-
heißung, durch rüde Verhandlungstaktik
einen besseren als den von ihr ausgehan-
delten Deal mit der EU erreichen zu kön-
nen. So löste er unter Hinweis auf obsku-
re königliche Privilegien aus dem 16.
Jahrhundert das Parlament auf. Für ei-
nen Moment schien es, als ob ihn nur
das Eingreifen des höchsten Gerichts
und eine Revolte des Parlaments von
dem Spiel mit einem Austritt aus der EU
ohne Vertrag, dem wegen seiner wirt-
schaftlichen Folgen gefürchteten No-
Deal-Brexit, abhalten könnte. Niemand
glaubte daran, dass Johnson anders als
zum Schein mit der EU verhandelte und
ein ernsthaftes Angebot vorlegen würde.
Zu viele Brücken hatte Johnson hinter
sich abgebrannt, zu sehr schien er seinen
Unterstützern vom rechten Rand der ei-
genen Partei und von der probritischen
DUP aus Nordirland verpflichtet. Keine
der beiden Gruppen wollte Zugeständ-
nisse in der Frage von Nordirlands künf-
tigem Status machen. Nach jahrzehnte-
langen Auseinandersetzungen am Ran-
de des Bürgerkriegs war das konfessio-
nell bitter gespaltene Nordirland im Kar-
freitagsabkommen von 1998 befriedet
worden; die offene Grenze zur katholi-
schen irischen Republik war dafür eine
wichtige Voraussetzung.


Diese Grenze weiterhin offen zu hal-
ten, war der Kern von Theresa Mays Ver-
einbarung mit der EU. Dafür allerdings
musste Nordirland oder vielleicht ganz
England in einer faktischen Zollunion
mit der EU gehalten werden, auch wenn
das offiziell nicht zugegeben wurde. Ver-
steckt hatte man diese Klausel im soge-
nannten backstop, einer Notfallregelung
für den Fall, dass Verhandlungen über das
zukünftige Verhältnis des Königreichs zur
EU scheitern würden. Aufgeschreckt von
der Vorstellung, ihre Regierung oder die
EU könne diese Verhandlungen absicht-
lich zum Scheitern bringen, um den back-
stop zu aktivieren und so eine kalte Teil-
nahme des Landes am EU-Binnenmarkt
zu erzwingen, ließen Mays Gegner in der
eigenen Partei diesen Plan gleich dreimal
im britischen Unterhaus scheitern und zo-
gen Johnson zuletzt auf ihre Seite.
Nun schlägt Johnsons Plan der EU vor,
ausgerechnet in der nordirischen Frage
Kompetenzen von London an Belfast ab-
zugeben. Ob Nordirland weiter an den
EU-Binnenmarkt angebunden sein will,
soll nach seinen Vorstellungen künftig
alle vier Jahre vom dortigen Regionalpar-
lament entschieden werden. Zwar ist die-
ser Plan unvollständig und steckt der Teu-
fel im Detail. Aber er enthält eine wesent-
liche Neuerung: Zum ersten Mal seit dem
Karfreitagsabkommen, eigentlich aber
seit der Teilung der Insel 1921, soll Nord-
irland über einen zentralen Teil seines
Verhältnisses zur irischen Republik
selbst entscheiden dürfen. Die fundamen-
tale politische Bedeutung dieses Zuge-

ständnisses hat man in London nicht wei-
ter herausgestellt. Aber es öffnet die Tür
für weitreichende politische Änderungen
auf der irischen Insel, und umgekehrt für
die Inkaufnahme einer zunehmenden Di-
vergenz zwischen Nordirland und Groß-
britannien.
Mängelfrei ist der Vorschlag allerdings
nicht. Sein politischer Preis ist, dass Nord-
irland nicht in der Zollunion mit der EU
belassen wird, sondern nur seine Anbin-
dung an die EU-Produktstandards betrof-
fen ist, unter denen Waren aller Art in
der EU auf den Markt kommen dürfen.
Die Zölle selbst will London festlegen, so
dass zwischen Nordirland und dem ei-
gentlichen Großbritannien keine Zoll-
grenze entsteht.
Bissige Zungen haben sofort ange-
merkt, dass Nordirland damit gleich zwei
Grenzen bekomme, die von der nordiri-
schen DUP bislang bekämpfte unsichtba-
re Grenze zur britischen Hauptinsel und
die von der EU abgelehnte Zollgrenze
quer über die grüne Insel. Reflexartig ha-
ben die Opposition im Unterhaus, aber
auch Politiker in Dublin sowie in den
EU-Institutionen ihr Johnson-Bashing
weitergeführt. Johnsons Vorschlag sei zu
wenig und komme zu spät. Abermals do-
kumentiere er die britische Absicht, nur
zum Schein zu verhandeln und alles auf
die Karte eines harten Ausstiegs aus Eu-
ropa zu setzen.
Vielleicht ist diese Kritik aber vor-
schnell. Bei Johnsons Vorschlag geht es
nicht um eine Neuverhandlung von The-
resa Mays Austrittsabkommmen, son-

dern allein um die Zeit nach Ablauf der
Übergangsfrist und einen Ersatz für den
backstop. Die neue Regelung ist eben-
falls ein backstop, allerdings nur für
Nordirland, nicht für das Königreich als
Ganzes, und nur für den Fall, in dem ein
umfangreiches Freihandelsabkommen
mit der EU nicht zustande käme. Beide
Seiten haben ein großes Interesse daran,
diesen neuen backstop mittelfristig
durch eine umfassende Regelung zu erset-
zen – denn er behindert künftige briti-
sche Freihandelsabkommen etwa mit
den Vereinigten Staaten, weil deren
nichttarifäre Regelungen in Nordirland
nicht gelten würden, und er behindert
auch die EU, denn Nordirland wäre nicht
Teil der Zollunion.
Sollte es nicht zu einem Freihandelsab-
kommen mit der EU kommen – ein eher
unwahrscheinliches Szenario, sobald
man sich auf den neuen backstop geei-
nigt hat –, dann, allerdings nur dann,
müsste man sich in der Tat Gedanken
über die Frage machen, wie man zu einer
Verzollung im Warenverkehr zwischen
beiden Teilen der irischen Insel kommt,
ohne Grenzkontrollen zu errichten. Der
zur Schau getragene britische Optimis-
mus, hier zu einer Lösung zu gelangen,
liegt vielleicht weniger in einer naiven
Technikgläubigkeit begründet als viel-
mehr in dem pragmatischen Kalkül, dass
diese Eventualität ohnehin nicht eintre-
ten wird und es widersinnig wäre, eine
Lösung jetzt scheitern zu lassen, nur weil
vielleicht eine Lösung in Zukunft schei-
tern könnte.

Die EU sollte Johnsons Vorschlag trotz
seiner Mängel nicht vorschnell verwer-
fen. Im britischen Unterhaus scheint er
eine Mehrheit zu finden, anders als ir-
gendeine der bisher diskutierten Alterna-
tiven. Die britische Opposition ist heillos
zerstritten, Labour in den Umfragen abge-
sackt. Wollte sie Johnson stürzen und ein
neues Referendum erzwingen, hätte sie
das schon tun müssen. Davor ist sie zu-
rückgeschreckt. Nach Johnsons Vorschlag
wird sich für seinen Sturz noch weniger
eine Mehrheit finden. Daran wird auch
eine weitere Verschiebung des Austritts
aus der EU nichts ändern. Sollte es gegen
Johnsons erklärte Absicht dazu kommen,
kann er die Schuld der Opposition zu-
schieben, die ihn mit einem Parlamentsbe-
schluss dazu gezwungen habe. Ein besse-
res Argument bei seinen Unterstützern
kann es nicht geben, ein Wahlsieg wäre
ihm so gut wie sicher.
Die Alternative zu einem Deal mit
Johnson ist nicht ein besserer Deal mit
der Opposition oder ein zweites Referen-
dum. Die Zeit dafür scheint abgelaufen.
Ohne ein Arrangement der EU mit John-
son droht der harte Brexit ohne Deal.
Dann gibt es wirklich Genzkontrollen in
Irland und einen massiven Einbruch im
Handel zwischen den Briten und der EU,
mit einschneidenen Folgen auch für den
deutschen Export. Johnsons Offerte ist
nicht der backstop für Nordirland, den die
EU gern gehabt hätte. Aber er macht den
erfolgreichen Abschluss eines Freihan-
delsabkommens zwischen den Briten und
der EU deutlich wahrscheinlicher. Und er
eröffnet eine neue politische Perspektive,
die Selbstbestimmung Nordirlands über
sein wirtschaftliches Verhältnis zum Sü-
den. Das ist eine weitreichende Konzes-
sion, der man sich nicht ohne weiteres ver-
weigern sollte.
Gabriel Felbermayrist Präsident des Instituts für
Weltwirtschaft (IfW) in Kiel.
Albert RitschlIst Professor für Wirtschaftsgeschich-
te an der London School of Economics (LSE).

che.SINGAPUR, 6. Oktober. In Zeiten,
in denen der Freihandel stark unter
Druck gerät, setzt Singapur ein Zeichen:
Der südostasiatische Stadtstaat verein-
bart einen Freihandelsvertrag mit den
fünf Mitgliedsländern der Eurasischen
Wirtschaftsunion. Das Abkommen (EA-
EUSFTA) zwischen Singapur und Arme-
nien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisi-
stan und Russland deckt einen Markt von
1,9 Billionen Singapur-Dollar (1,25 Bil-
lionen Euro) mit annähernd 190 Millio-
nen Menschen ab. Das Handelsvolumen
ist mit nur 9 Milliarden Singapur-Dollar
im Warenaustausch und 2 Milliarden Sin-
gapur Dollar im Dienstleistungssektor
verschwindend gering. Die Drehscheibe
Singapur ist aber an engeren Verbindun-
gen insbesondere im Rohstoffsektor mit
den zentralasiatischen Wachstumsmärk-
ten interessiert. Ihre Staatsunternehmen
engagieren sich zudem im Bau von Son-
derwirtschaftszonen und hoffen auf Auf-
träge für „intelligente Städte“. Singapurs
Investitionen in der Region belaufen sich
auf 20 Milliarden Singapur-Dollar. Minis-
terpräsident Lee Hsien Loong wurde in
Eriwan von seiner Ehefrau Ho Ching be-
gleitet, die Chefin der reichen Staatshol-
ding Temasek ist, die rund um die Welt in-
vestiert.

STANDPUNKT

LONDON, 6. Oktober. Seit dem Mittelal-
ter hat Großbritannien riesige Wälder
verloren. Die Bäume wurden geschlagen
für Baumaterial, Brennholz, Möbel und
Schiffe oder mussten Siedlungen wei-
chen. Im Ersten Weltkrieg holzte man
große Forste ab – auch für den Flotten-
bau. Nur noch 5 Prozent des Landes war
mit Wäldern bedeckt. Vor hundert Jah-
ren, im September 1919, verabschiedete
das Parlament dann den Forestry Act,
das Forstwirtschaftsgesetz. Eine neue
staatliche Kommission kümmert sich seit-
dem um die Wiederaufforstung und nach-
haltige Waldwirtschaft. Vom Allzeittief
hat sich der Waldbestand seitdem etwa
verdoppelt.
Nun wird der Northumberland Forest,
ein Wald im Norden Englands bei
Newcastle, in den kommenden Jahren in
großem Stil wiederaufgeforstet. Eine Mil-
lion Bäume sollen von 2020 bis 2024 ge-
pflanzt werden. Der Plan, verkündet vom
Wirtschaftsministerium während des Par-
teitags der Konservativen, ist Teil eines
größeren Pakets mit insgesamt einer Mil-
liarde Pfund (1,1 Milliarden Euro) Volu-
men, mit dem die Tories dem beschlosse-
nen Ziel näherkommen wollen, dass
Großbritannien bis zum Jahr 2050 seine
Netto-Emissionen von Kohlendioxid
(CO 2 ) auf null senken soll.
Bäume speichern CO 2 im Holz. Nur
durch massive Aufforstung und andere
Methoden der Absonderung und Speiche-
rung von CO 2 kann es theoretisch gelin-
gen, die Emissionen netto auf null zu sen-
ken. Allerdings sind eine Million neue
Bäume noch nicht besonders viel ange-
sichts von etwa 3 Milliarden Bäumen im
Königreich, so die Schätzung einer Stu-
die von Forschern der Yale-Universität.
Die Umweltbehörde der Vereinten Natio-
nen hat vor einigen Jahren ein „Eine-Mil-
liarde-Bäume“-Programm zur globalen
Wiederaufforstung entworfen. Die briti-
sche Initiative ist dagegen nur ein kleiner
Baustein.


Die Konservativen auf der Insel versu-
chen sich derweil als führend in der Um-
welt- und Klimapolitik darzustellen.
„Den Klimawandel zu adressieren ist
eine Top-Priorität der Konservativen Par-
tei“, sagte Wirtschaftsministerin Andrea
Leadsom. Und Umweltministerin There-
sa Villiers betonte, die Aufforstung unter-
streiche, dass man das Land ökologisch
in einem besseren Zustand hinterlassen
wolle, als man es vorfand.
Weitere Bestandteile des Pakets sind
Subventionen für die Automobilindus-
trie, um Elektrofahrzeuge zu entwickeln,
sowie ein Verbot von Öl- und Gasheizkes-
seln schon 2020 statt wie zuvor geplant


  1. Damit sollen die CO 2 -Emissionen


der Gebäude um mehr als drei Viertel sin-
ken. Das gilt aber nur für Neubauten. Die
bestehenden Heizkessel in Häusern dür-
fen weiter verwendet werden. Zudem hat
die Regierung für die Entwicklung eines
Kernfusions-Kraftwerks eine Anschubfi-
nanzierung von 200 Millionen Pfund ge-
geben. Dieses Kraftwerk – es wäre der
erste Fusionsreaktor der Welt – solle von
2040 an praktisch unbegrenzt billige und
CO 2 -freie Nuklearenergie liefern, hat Pre-
mierminister Boris Johnson angekün-
digt. Das Vorhaben verdeutlicht, dass die
Konservativen bei der Klimapolitik vor
allem auf neue Technologien setzen.
Während Windparks und Solarenergie
ausgebaut werden, will Großbritannien

auch verstärkt Nuklearenergie nutzen.
Derzeit decken Atomkraftwerke – fünf-
zehn Reaktoren an sieben Standorten –
etwa ein Viertel des Stromverbrauchs.
Von 2025 an soll der Kernkraftreaktor
Hinkley Point C in Somerset Strom erzeu-
gen, der vom französischen staatlichen
Konzern EdF errichtet wird. Wie vor we-
nigen Tagen bekanntwurde, steigen die
Baukosten jedoch um knapp 2 bis 3 Milli-
arden Pfund auf bis zu 22,5 Milliarden
Pfund. Hinkley Point C ist der erste Kern-
reaktor-Neubau in Großbritannien seit
zwanzig Jahren.
Gleichzeitig werden gigantische Wind-
farmen im Meer gebaut. Der größte
Windpark der Welt mit insgesamt 2,4 Gi-

gawatt Kapazität, der Elektrizität für bis
zu 4 Millionen Haushalte liefern soll,
wird in den nächsten Jahren etwa 130 Ki-
lometer vor der Küste von Yorkshire in
Nordengland errichtet. 220 Meter hoch
ragen die Windräder des amerikanischen
GE-Konzerns aus dem Wasser. Hinter
dem Projekt steht das multinationale Fo-
rewind-Konsortium mit dem schotti-
schen Energieunternehmen SSE, dem
deutschem RWE-Konzern und den Unter-
nehmen Equinor und Statkraft aus Nor-
wegen. Von 2023 an soll der Windpark
Strom liefern. Allerdings sorgen sich
manche Fachleute um die Stabilität der
Übertragungsnetze – vor sechs Wochen
gab es einen großen Blackout in Teilen
Britanniens, nachdem ein Windpark
plötzlich ausgefallen war.
Die oppositionelle Labour-Partei hat
unterdessen auf ihrem Parteitag vor ei-
ner Woche noch viel radikalere Pläne zur
CO 2 -Emissionsminderung beschlossen.
Labour will die Netto-Emissionen schon
bis 2030 auf null senken, 20 Jahre früher
als das Regierungsziel. Die Partei von Je-
remy Corbyn verspricht Milliardensub-
ventionen für die Autoindustrie zur Ent-
wicklung von Elektroantrieben, teils sol-
len die Unternehmen im Gegenzug in
Staatsbesitz kommen. Autokäufer sollen
Zuschüsse und Darlehen für den Kauf
von Elektroautos bekommen. Außerdem
will Labour in bis zu 24 Millionen Häu-
sern die Gasboiler schnellstmöglich aus-
tauschen. Während links-ökologische Ak-
tivisten die Labour-Pläne unterstützten,
gab es von einigen Gewerkschaften vor-
behalte, die den Verlust von Arbeitsplät-
zen in CO 2 -intensiven Industrien fürch-
ten.
Indem sich nun Labour mit dem
2030-Ziel weit vor die Konservativen ge-
setzt hat, fürchten manche Beobachter,
dass der bisherige grundsätzliche Kon-
sens über die Klimapolitik zerbrechen
könnte, wie die „Financial Times“ jüngst
warnte. Die Erreichung des 2050-Ziels
werde etwa eine Billion Pfund kosten, be-
rechnete der frühere Finanzminister Phi-
lip Hammond. Unterschiedliche Kommis-
sionen und Ministerien schätzten Kosten
von 50 Milliarden Pfund oder 70 Milliar-
den Pfund im Jahr, das wären mindestens
2 Prozent des britischen Bruttoinlands-
produkts (BIP). Doch für das Zieldatum
2030, wie es Labour will, müssten jähr-
lich noch mal 25 Milliarden Pfund,
knapp ein Prozent des BIP, mehr ausgege-
ben werden. Irgendwann dürfte dann die
finanzielle Schmerzgrenze der Bevölke-
rung überschritten sein.

Johnsons Brexit-Plan: Das Glas ist halbvoll


Die weitreichende Konzession sollte man nicht vorschnell verwerfen / Von Gabriel Felbermayr und Albrecht Ritschl

DÜSSELDORF, 6. Oktober (dpa). Nach
einer Studie des Wirtschafts- und Sozial-
wissenschaftlichen Instituts (WSI) der ge-
werkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung
hat die Ungleichheit bei Einkommenei-
nen neuen Höchststand erreicht. Trotz der
guten Konjunktur und der günstigen Lage
auf dem Arbeitsmarkt habe sich die Sche-
re zwischen den Wohlhabenden und den
unteren Einkommensgruppen in den ver-
gangenen Jahren noch weiter geöffnet,
heißt es in dem aktuellen Verteilungsbe-
richt des WSI. Dies sei ein „Armutszeug-
nis für Deutschland“. Immer mehr Ein-
kommen konzentriere sich bei den sehr
Reichen. Die hohen Einkommensgruppen
profitierten von den sprudelnden Kapital-
und Unternehmenseinkommen. Dagegen
seien die 40 Prozent der Haushalte mit
den geringsten Einkommen weiter zurück-
gefallen – auch im Vergleich zur gesell-
schaftlichen Mitte, die von der guten Ar-
beitsmarktlage und spürbaren Lohnsteige-
rungen profitiert habe. Die Zahl der Haus-
halte, die weniger als 60 Prozent des mitt-
leren Einkommens zur Verfügung haben
und deshalb als arm gelten, sei von 2010
bis 2016 von 14,2 auf 16,7 Prozent gewach-
sen. Angetrieben werde diese durch die zu-
nehmende Spreizung der Löhne. Eine
wachsende Bevölkerungsgruppe am unte-
ren Rand habe den Anschluss an die Lohn-
steigerungen in der Mitte der Gesellschaft
verloren.

BERLIN, 6. Oktober (dpa).Die deut-
schen Exporte nach Saudi-Arabien könn-
ten in diesem Jahr erstmals seit neun Jah-
ren wieder unter die Marke von 6 Milliar-
den Euro stürzen. In den ersten sieben
Monaten sank der Wert der Ausfuhren
nach Angaben des Deutschen Industrie-
und Handelskammertags (DIHK) im Ver-
gleich zum Vorjahreszeitraum um 17 Pro-
zent auf 3,1 Milliarden Euro. „Das ist ein
Schlag ins Kontor des Geschäfts deut-
scher Unternehmen mit Saudi-Arabien“,
sagte DIHK-Außenwirtschaftschef Vol-
ker Treier.
Er führt den Einbruch aber nicht auf
die politischen Spannungen zwischen
Deutschland und Saudi-Arabien wegen
des Jemen-Kriegs und der Ermordung des
regierungskritischen Journalisten Jamal
Khashoggi zurück. „Jetzt sind die Brems-
spuren, die wir sehen, auf wirtschaftliche
Ursachen zurückzuführen“, sagte Treier.
Dazu gehörten die schwache Weltkonjunk-
tur, der damit einhergehende niedrige Öl-
preis und die regionalen Spannungen –
vor allem in der Straße von Hormus im
Persischen Golf, wo es mehrere Angriffe
auf Handelsschiffe gab.
Die deutschen Ausfuhren nach Saudi-
Arabien hatten 2015 mit 9,9 Milliarden
Euro einen Höchststand erreicht. Seit-
dem geht es kontinuierlich bergab. Im
vergangenen Jahr wurden nur noch Wa-
ren im Wert von 6,3 Milliarden Euro in
den ölreichen Wüstenstaat ausgeführt.
Im vergangenen Jahr hatte die deutsche
Wirtschaft dafür aber noch politische
Gründe mitverantwortlich gemacht.
Weil der frühere Außenminister Sigmar
Gabriel der saudischen Führung „Aben-
teurertum“ vorgeworfen hatte, zog diese
vorübergehend den Botschafter aus Ber-
lin ab und benachteiligte nach DIHK-An-
gaben auch deutsche Unternehmen bei
der Vergabe von Aufträgen.
Union und SPD hatten sich schon 2017
in ihrem Koalitionsvertrag auf einen teil-
weisen Rüstungsexport-Stopp für die „un-
mittelbar“ am Jemen-Krieg beteiligten
Staaten verständigt, zu denen Saudi-Ara-
bien zweifellos zählt. Das Königreich
führt eine Allianz arabischer Staaten an,
die im Jemen gegen die von Iran unter-
stützten Huthi-Rebellen kämpft. Saudi-
Arabien übernimmt am 1. Dezember den
Vorsitz in der Gruppe führender Wirt-
schaftsmächte. Im November 2020 findet
der G-20-Gipfel in der saudischen Haupt-
stadt Riad statt.

KÖLN, 6. Oktober (AFP). Bundesland-
wirtschaftsministerin Julia Klöckner
(CDU) hat die brasilianische Regierung
davor gewarnt, die Handelsbeziehungen
zu Europa durch Untätigkeit beim Schutz
der Wälder zu belasten. Deutschland kön-
ne nicht den eigenen Landwirten mehr
Engagement beim Klimaschutz und bei
der Aufforstung abverlangen, „aber
gleichzeitig Waren importieren, für die
im Amazonas-Gebiet große Flächen Re-
genwald niedergebrannt werden“, erklär-
te Klöckner nach einem Treffen mit ihrer
brasilianischen Kollegin Tereza Cristina
Corrêa da Costa Dias am Rande der Le-
bensmittelmesse Anuga in Köln.
„Die Brandrodung in Brasilien nimmt
zu, Entwaldungszahlen steigen“, erklärte
Klöckner. Dies sei „Anlass zu großer Sor-
ge.“ Die Ministerin erinnerte daran, dass

sich Brasilien für das geplante Freihan-
delsabkommen Mercosur zwischen La-
teinamerika und der EU zu Regeln beim
Umwelt- und Klimaschutz bekannt habe


  • unter anderem zu einer Eindämmung
    der Entwaldung.
    „Die Ratifizierung des Abkommens
    durch alle Mitgliedstaaten der EU und ins-
    besondere durch das Europäische Parla-
    ment wird wesentlich davon abhängen,
    dass erkennbar wird, dass alle Parteien
    sich im Geiste des Abkommens verhal-
    ten“, betonte Klöckner. In Deutschland
    gebe es hohe Sensibilität für die Frage, ob
    Brasilien glaubhaft deutlich macht, gege-
    bene Zusagen einzuhalten. „Wer langfris-
    tig erfolgreich auf den europäischen
    Markt exportieren möchte, muss diese ge-
    stiegenen Verbrauchererwartungen be-
    rücksichtigen“, sagte Klöckner.


SAARBRÜCKEN, 6. Oktober (dpa/
AFP). Der Pro-Kopf-Verbrauch an Pa-
pier, Pappe und Karton ist nach Anga-
ben der Bundesregierung in Deutsch-
land so hoch wie in keinem anderen In-
dustrie- und Schwellenland der G-20. Im
vergangenen Jahr waren es 241,7 Kilo-
gramm. Selbst die Vereinigten Staaten
kamen demnach mit knapp 211 Kilo-
gramm nur auf Platz zwei, schreibt die
„Saarbrücker Zeitung“ unter Berufung
auf Angaben der Bundesregierung zu ei-
ner Anfrage der Grünen. Der Schnitt in-
nerhalb der Europäischen Union liegt
bei 182,1 Kilo pro Kopf. Die Chinesen
liegen im Schnitt bei 74 Kilo. In Indien
liegt der Wert mit nur 13 Kilo sogar deut-
lich darunter.
Demnach hat sich in Deutschland ins-
besondere der Verbrauch von Papierver-


packungen deutlich erhöht. Zuletzt habe
er bei 96,3 Kilogramm pro Kopf gelegen,
1991 seien es noch knapp 70 Kilogramm
gewesen. Ursache dieser Entwicklung
sei die starke Zunahme des Online-Han-
dels, heißt es.
Die umweltpolitische Sprecherin der
Grünen-Bundestagsfraktion, Bettina
Hoffmann, sagte, der Waldbedarf für die
deutsche Papierproduktion umfasse rein
rechnerisch eine Fläche von 40 000 Fuß-
ballplätzen. Nötig sei ein gesetzlich ver-
ankertes Abfallvermeidungsziel, das
auch Papier und Pappe umfasse, forder-
te Hoffmann vom Gesetzgeber in dem
Zeitungsbericht.
Insgesamt wurden demnach in
Deutschland im Jahr 2015 rund 769 000
Tonnen Verpackungsmaterial aus Pa-
pier, Pappe oder Karton im sogenannten

Distanzhandel verbraucht. Rund 20 Jah-
re zuvor, im Jahr 1996, lag die Gesamt-
zahl noch bei nur 120 000 Tonnen.
Auch die Bundesregierung und ihre
nachgelagerten Behörden tragen erheb-
lich zu dem hohen Verbrauch bei. 2015
wurden dort den Angaben zufolge 1,
Milliarden Blatt Papier verbraucht – al-
lerdings mit abnehmender Tendenz: So
waren es im Jahr 2018 1,05 Milliarden
Blatt.
In drei anderen EU-Ländern liegt der
Pro-Kopf-Verbrauch laut Umweltminis-
terium noch höher als in Deutschland –
in Slowenien (381,1 Kilo im Jahr), Lu-
xemburg (276,1 Kilo im Jahr) und Öster-
reich (241,7 Kilo im Jahr). Diese drei
Länder sind allerdings nicht Mitglied
der G-20, weswegen Deutschland dort
der Spitzenreiter ist.

Singapur und Eurasien


schließen Freihandel


Wie die Briten CO 2 -Emissionen auf null senken wollen


Studie: Ungleichheit von


Einkommen wächst


Exporte nach


Saudi-Arabien


brechen ein


Klöckner mahnt Brandrodung an


Brasilien muss im Geiste des Mercosur-Abkommenshandeln


Die Deutschen verbrauchen das meiste Papier


Spitzenreiter im Vergleich der G-20-Länder / Grüne kritisieren fehlendes Vermeidungsziel


Die Baumaßnahmen am britischen Kernreaktor Hinkley Point C in Somerset schreiten voran. Foto Bloomberg

Die Regierung will


neue Wälder pflanzen,


Öl- und Gaskessel


abschaffen – und setzt


sogar auf Kernfusion.


Von Philip Plickert

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