Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.10.2019

(Dana P.) #1

SEITE 6·MONTAG, 7. OKTOBER 2019·NR. 232 Die Gegenwart FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


D


ie anhaltenden Proteste in
Hongkong sind nicht nur ein
Kampf Davids gegen Goliath.
Die Proteste sind in erster Li-
nie ein Kampf um politische
Freiheiten. Viele junge Menschen in Hong-
kong, die von einer großen Zahl von älte-
ren Bürgern unterstützt werden, kämpfen
gegen ihre Regierung, um die Unabhängig-
keit und relative Autonomie Hongkongs
gegenüber Peking zu bewahren. Zugleich
stellt sich die Frage, warum die Menschen
in Hongkong so anhaltend rebellisch sind.
Anders gefragt: Warum kämpfen die Bür-
ger Hongkongs trotz ihres völlig unerwar-
teten Sieges, der Rücknahme des Ausliefe-
rungsgesetzes, weiterhin gegen das Re-
gime? Warum unterstützen Bankiers, An-
wälte und Büroangestellte mittleren Al-
ters eine Bewegung, die immer wieder
auch Gewalt einsetzt, um ihre Forderun-
gen zu erfüllen? Gewiss hat die Perspekti-
ve, von einer zunehmend autoritären
Kommunistischen Partei regiert zu wer-
den, die aggressiven Demonstranten in
den ersten Reihen und die friedlichen De-
monstranten, die ihnen folgen, vereint. Al-
lerdings, und das wird häufig übersehen,
spielen soziale Fragen eine wichtige Rolle
für das Verständnis der anhaltenden Pro-
teste in Hongkong.
Die Verbitterung der Demonstranten
speist sich auch aus ihrer schwierigen wirt-
schaftlichen und sozialen Situation. Ob-
wohl Hongkong eine der reichsten Volks-
wirtschaften ist, leben Millionen Men-
schen unter prekären Bedingungen. Die
Regierung der von Großbritannien seit
dem 1. Juli 1997 unabhängigen Sonderver-
waltungszone sowie die Kommunistische
Partei Chinas haben diese Probleme zu
lange ignoriert und sehen sich nun mit ei-
ner wütenden Bevölkerung konfrontiert,
die sich einer Aussöhnung und der Rück-
kehr zur Normalität widersetzt.
Auf den ersten Blick ist Hongkong eine
ungemein wohlhabende Stadt. Es gibt
eine Fülle von Geschäften für europäische
Luxusaccessoires, und auf den Straßen
Hongkongs fahren viele Teslas und Ferra-
ris. Im Jahr 2018 betrug das Bruttonatio-
naleinkommen 50 310 amerikanische Dol-
lar, ein Anstieg von 64,5 Prozent gegen-
über dem Jahr 2010, als das Pro-Kopf-Na-
tionaleinkommen 33 620 amerikanische
Dollar betrug. Die durchschnittliche Le-
benserwartung liegt bei 84,7 Jahren
(2017) und ist damit deutlich höher als bei-
spielsweise in den Vereinigten Staaten
(78,5 Jahre). Die Regierung stellt erstklas-
sige öffentliche Verkehrssysteme zur Ver-
fügung, die deutlich besser funktionieren
als in vielen OECD-Ländern. Das Gesund-
heitswesen ist stark subventioniert. Die
meisten medizinischen Dienstleistungen
sind für die Bürger Hongkongs kostenlos.
Und doch sind die Bewohner mit ihrer
Situation notorisch unzufrieden. Im
Glücksbericht der Vereinten Nationen
2018 (United Nations Happiness Report)
belegt Hongkong Platz 76 und damit ei-
nen deutlich niedrigeren Rang als ver-
gleichbare Volkswirtschaften wie Taiwan
(Platz 25) oder Singapur (34). Das ist er-
klärungsbedürftig. Warum sind die Bür-
ger einer Stadt mit hervorragenden sozio-
ökonomischen Indikatoren relativ unzu-
frieden?
Der erste und vermutlich wichtigste
Faktor, den es zu berücksichtigen gilt, ist
das Lage auf dem Wohnungsmarkt. Die
Nachfrage nach Wohnraum war in Hong-
kong schon immer hoch. Heute sind Im-
mobilien in Hongkong aber vor allem des-
halb so teuer, weil die Grundstückspreise
extrem hoch sind. Seit mehr als einem
Jahrzehnt ist Hongkong einer der teuers-
ten Immobilienmärkte der Welt. Die Bür-
ger zahlen gewaltige Summen für winzige
Wohnungen. Die durchschnittliche Wohn-
fläche pro Person beträgt nur 15 Quadrat-
meter, etwa die Fläche eines Standard-
Schiffscontainers. Die Singapurer, deren
Staat ebenso wie Hongkong unter Flächen-
knappheit leidet, haben die doppelte Flä-
che zur Verfügung. Der Kauf einer Woh-
nung setzt extreme Entbehrungen voraus
und ist selbst dann für viele Bürger Hong-
kongs unerschwinglich.
In einer Gruppe von acht Ländern, die
alle für hohe Immobilienpreise bekannt
sind, erweist sich Hongkong als Ausnah-
mefall. In Australien, Neuseeland, Kana-
da, Singapur, Großbritannien, Irland, Ka-
nada sowie den Vereinigten Staaten ha-
ben sich die Immobilienmärkte in den ver-
gangenen zehn Jahren in ähnlicher Weise
entwickelt. Multipliziert man das jährli-
che Medianeinkommen mit einem Faktor
zwischen drei und sechs, ergibt sich der
mediane Hauspreis in jenen Ländern. Neu-
seeland fällt etwas aus dem Rahmen, weil
dort Haushalte neun Jahreseinkommen
für den Kauf eines durchschnittlichen
Hauses aufwenden müssen. Hongkong ge-
hört aber in eine ganz andere Kategorie.
Im Jahr 2010 lag das Verhältnis von Haus-
haltseinkommen und dem Preis einer
durchschnittlichen Wohnung bei zwölf
und ist inzwischen auf 21 Jahreshaushalts-
einkommen gestiegen.
Es mag etwas überraschen, aber Hong-
kong ist dabei auch ein Opfer der extrem lo-
ckeren Geldpolitik der Vereinigten Staa-
ten. Die lokale Währung, der Hongkong-
Dollar, ist seit 1983 in einem strengen Re-
gelwerk, einem „currency board“, an den
amerikanischen Dollar gebunden. Die
„Hong Kong Monetary Authority“ muss
die Geldpolitik der Federal Reserve kopie-
ren, um den Wechselkurs stabil zu halten.
Die niedrigen Zinsen, die die amerikani-
sche Notenbank vorgibt, haben in den ver-
gangenen zehn Jahren zu einer höheren
Nachfrage nach Immobilien geführt. Ange-
sichts des knappen Angebots schnellten
die Preise in die Höhe. Während der feste
Wechselkurs zum amerikanischen Dollar
gut für die Unternehmen in Hongkong war,
hatte er indirekt negative Auswirkungen
auf die Erschwinglichkeit von Wohnraum.
Allerdings ist die lockere Geldpolitik
nur einer von mehreren Faktoren. Das be-
grenzte Angebot an Wohnraum ist das Er-

gebnis einer gestiegenen Nachfrage und ei-
nes knappen Angebots. Seit 1945 hat sich
die Bevölkerung Hongkongs mehr als ver-
zwölffacht, von 600 000 auf 7,4 Millionen.
Aber die Versorgung mit Wohnraum hat
nicht Schritt gehalten, vor allem aufgrund
veralteter Regelwerke für die Bereitstel-
lung von Bauland.
Das Regelwerk für die Landnutzung in
Hongkong wurde im 19. Jahrhundert von
den britischen Kolonialherren eingeführt
und ist bislang mehr oder weniger unverän-
dert geblieben. Die Briten entschieden,
dass alle Grundstücke als Pachtgrundstü-
cke angeboten werden sollten, mit strengen
Bedingungen für jeden einzelnen Pachtver-
trag. Das System war so lukrativ, dass Pe-
king und die lokalen Eliten das System
nach der Rückgabe Hongkongs an China
vor mehr als 20 Jahren beibehalten haben.
Die hohen Einnahmen aus Grund-
stücksverkäufen – in Wahrheit handelt es
sich um die Erlaubnis, das Land zeitweilig
zu nutzen, bevor es nach 99 Jahren an die
Regierung zurückfällt – haben es den Re-
gierungen Hongkongs ermöglicht, niedri-
ge Steuern etwa auf Einkommen zu erhe-
ben. Die Pächter von Grundstücken müs-
sen einen jährlichen Pachtzins von drei
Prozent des Immobilienwertes zahlen. Al-
lerdings stützt sich die Fiskalpolitik der Re-
gierung damit auf eine Quelle, die proble-
matisch ist: Sie hängt von den Einnahmen
aus der Verpachtung von öffentlichem
Land an private Projektentwickler ab. Im
zurückliegenden Haushaltsjahr stammten
42 Prozent der Staatseinnahmen aus der
Verpachtung von Grundstücken. Im lau-
fenden Jahr ist der Anteil mit 33 Prozent
niedriger, aber immer noch sehr hoch.
Würde die Regierung das Angebot an
Grundstücken deutlich erhöhen, würden
die Preise für Bauland und in der Folge
von Wohnimmobilien höchstwahrschein-
lich sinken. Zugleich aber würden die
Staatseinnahmen zurückgehen. Und dieje-
nige Hälfte der Bevölkerung Hongkongs,
die Immobilien besitzt, wäre negativ be-
troffen und müsste einen Rückgang des
Wertes ihres Vermögens hinnehmen.
Die hohen Kosten für den Wohnungs-
bau in Hongkong sind also das Ergebnis
der Grundstücks- und Fiskalpolitik. Diese
begünstigt einige wenige Akteure und hat
damit eine Reihe negativer Auswirkun-
gen. Erstens hat sie zu sehr hohen Grund-
stückspreisen geführt, da die Regierung in
jedem Jahr nur eng begrenzte Mengen an
Land freigibt. Es überrascht nicht, dass
diese Politik die Wohnungspreise in
schwindelerregende Höhen getrieben hat.
Die Grundstückskosten machen in Hong-
kong zwischen 60 und 70 Prozent der Ge-
samtkosten einer Wohnimmobilie aus – in
anderen vergleichbaren asiatischen Staa-
ten liegen die Grundstückskosten bei 20
bis 30 Prozent. Zweitens sinken die Boden-
preise nur selten, da die Regierung jedes
Jahr dem Markt nur geringe Mengen an
Land zur Verfügung stellt. Drittens hat die
Regierung ihre Fähigkeit verloren, ein Hü-
ter der Interessen ihrer Bürger zu sein. Sie
ist selbst zum größten Akteur auf dem Im-
mobilienmarkt geworden.
Die Regierung Carrie Lams hat zu die-
sem Thema bemerkenswerte Vorschläge
gemacht. Sie schlug ein großes Wohnungs-
bauprojekt auf mehreren künstlichen In-
seln vor. Aufgeschüttet werden sollen
1700 Hektar Land, auf dem Wohnraum
für 1,1 Millionen Menschen entstehen
soll. Die Gesamtkosten werden auf 500
Milliarden Hongkong-Dollar, etwa 58 Mil-
liarden Euro, geschätzt. Das Projekt wür-
de etwa 30 Jahre bis zu seiner Fertigstel-
lung benötigen.
Natürlich können solche ebenso ehrgeizi-
gen wie langfristigen Projekte nicht zur Lö-
sung der aktuellen politischen und sozia-
len Krise beitragen. Aber durch die anhal-
tenden Proteste hat die Debatte über die
wirtschaftliche und soziale Situation der
Bürger Hongkongs an Dynamik gewon-
nen. Dazu gehört die Lage auf dem Arbeits-
markt. Viele junge, gut ausgebildete Bürger
müssen heute auf dem Arbeitsmarkt mit
Festlandchinesen konkurrieren. Im Finanz-
sektor etwa finden sich zahlreiche Ange-
stellte vom Festland, die ebenso gut qualifi-
ziert sind wie ihre Hongkonger Kollegen
und zudem nicht nur Englisch und Kanto-
nesisch, der Sprache der Hongkonger Chi-
nesen, sondern zusätzlich noch Mandarin
sprechen. Die Härte des Wettbewerbs trägt
dazu bei, dass zahlreiche junge Hongkon-
ger skeptisch in ihre Zukunft schauen.
Diese jungen Menschen, die bis weit ins
vierte Lebensjahrzehnt hinein in winzi-
gen Zimmern in den Wohnungen ihrer El-
tern wohnen müssen, fragen sich zudem,
warum sie sich keine Wohnungen leisten
können. Doch warum können sich die
meisten Bürger Hongkongs angesichts des
hohen Pro-Kopf-Bruttoinlandsproduktes
nicht einmal eine bescheidene Wohnung
kaufen?
Einer der Gründe ist die sehr ungleiche
Einkommensverteilung. Der Gini-Koeffi-
zient, der die Ungleichheit von Verteilun-
gen misst, war 2016 bezüglich der Haus-
haltseinkommen vor Steuern und Sozialab-
gaben mit 0,539 höher als in allen OECD-
Ländern. Auch nach Steuern und Transfers
lag der Gini-Index bei 0,473 und damit
deutlich höher als etwa in Singapur
(0,356), den Vereinigten Staaten (0,391)
oder Australien (0,337). Im Jahr 2016 war
das Einkommen der obersten zehn Prozent
der Bevölkerung in Hongkong 44-mal hö-
her als das Einkommen der am wenigsten
verdienenden zehn Prozent der Bevölke-
rung. Dieser Wert ist gegenüber 2006 stark
gestiegen. Damals war das Einkommen der
Gutverdienenden „nur“ 34-mal höher.
Die Zahl der Bürger, die unterhalb der
Armutsgrenze leben, ist bemerkenswert
hoch. Etwa 1,37 Millionen oder etwa 19
Prozent der Bevölkerung Hongkongs müs-
sen mit weniger als 4000 HKD (465 Euro)
im Monat auskommen. Die Armutsgrenze
wird dabei auf 50 Prozent des mittleren
monatlichen Haushaltseinkommens vor
Steuern und Transferzahlungen des Staa-
tes festgelegt. Unter Berücksichtigung der

Zahlungen der Regierung an Bedürftige
sinkt die Armutsquote auf 14,7 Prozent
oder etwa eine Million Menschen.
Diese hohe und wachsende Ungleich-
heit ist kein Zufall. Die Hauptfunktion des
Steuersystems in Hongkong besteht darin,
ein wirtschaftsfreundliches Klima zu
schaffen, während die Umverteilung der
Einkommen bislang nicht zu den Prioritä-
ten der Politik zählte.
Das radikale-wirtschaftsfreundliche
Steuersystem, das von den britischen Kolo-
nialherren eingeführt worden war und
seit der Rückgabe Hongkongs an China
vor mehr als 20 Jahren nicht nennenswert
verändert wurde, verursacht zusammen
mit der prekären Lage auf dem Wohnungs-
markt die größten sozialen Verwerfungen
in Hongkong. Einst wollten die Briten,
dass ihr Außenposten im Fernen Osten
ein Niedrigsteuergebiet sei, um den wirt-
schaftlichen Austausch mit dem Mutter-
land zu erleichtern. Sowohl die Steuern
auf Unternehmensgewinne als auch die
Einkommensteuern waren und sind nied-
rig. Der höchste Einkommensteuersatz
für natürliche Personen beträgt 17 Pro-
zent. Es gibt keine Umsatz- oder Mehr-
wertsteuer.
Bis zum heutigen Tag besteuert die Re-
gierung von Hongkong Dividendenein-
nahmen nicht. Auch hier ist die zugrunde-
liegende Idee offensichtlich. Hongkongs
Status als attraktiver Finanzplatz soll
nicht in Frage gestellt werden. Aber diese
Politik führt zu Ungerechtigkeit. Die fünf
bedeutendsten Oligarchen Hongkongs er-
hielten 2016/2017 steuerfreie Dividenden
in Höhe von 23,6 Milliarden Hongkong-
Dollar (etwa 2,8 Milliarden Euro). Es über-
rascht nicht, dass sich die Bürger Hong-
kongs fragen, warum sie Einkommensteu-
er zahlen und in Wohnungen von der Grö-

ße eines Schuhkartons leben müssen, wäh-
rend die Mega-Reichen keine Steuern auf
ihre Dividenden zahlen und ein luxuriö-
ses Leben führen.

N


atürlich ist diese Ungleichheit
ein Überbleibsel der briti-
schen Kolonialherrschaft.
Großbritannien legte keinen
Wert auf soziale Harmonie
und soziale Gerechtigkeit, sondern imple-
mentierte ein vergleichsweise radikales
kapitalistisches System, in dem ein wo-
möglich kostspieliger Sozialstaat fehl am
Platz war. Überraschenderweise hat sich
die wirtschaftliche Lage der weniger Begü-
terten in den zwei Jahrzehnten seit dem
Abzug der Briten nicht wesentlich verbes-
sert. Die Einkommen und Vermögen sind
noch ungleicher verteilt, wofür den Aus-
ländern nicht die Schuld gegeben werden
kann. Die Beziehung zwischen der obers-
ten Schicht der Gesellschaft Hongkongs
und der Kommunistischen Partei Chinas
ist so eng, dass Präsident Xi niemandem
außer sich selbst und seinen Vorgängern
die Schuld am sozialen Chaos in Hong-
kong geben kann Zu spät kamen die Ant-
worten aus Peking, und zu lange wurden
die Probleme der Mehrheit der Hongkon-
ger Bürger ignoriert. Die Verantwortung
der Kommunisten für die gegenwärtige Si-
tuation könnte einen Teil der Zurückhal-
tung erklären, die Peking in den vergange-
nen Monaten gezeigt hat, als es nur zöger-
lich gegen die Massenproteste vorging.
Es ist bemerkenswert, dass die Hongkon-
ger Regierung seit langem das prekäre Fun-
dament ihrer Einnahmen kennt, aber in
dieser Hinsicht nicht gehandelt hat. Schon
im Jahr 2000 wurde eine Task Force einge-
setzt, um Möglichkeiten zur Verbreiterung
der Steuerbasis der Sonderverwaltungszo-

ne zu untersuchen. Nach dem Abschluss
der Arbeiten wurde es aber versäumt, die
Empfehlungen der Task Force umzusetzen
und die Steuerpolitik zu ändern, etwa
durch die Einführung einer Steuer auf Divi-
denden oder eine Mehrwertsteuer. Zu-
gleich gibt es Akteure, die von der gegen-
wärtigen Konstellation profitieren: Die Im-
mobilienoligarchen von Hongkong genie-
ßen stattliche Gewinne bei begrenztem Ri-
siko. 45 Prozent aller Wohnhäuser werden
von fünf Unternehmen gebaut, die die Si-
tuation auf dem Immobilienmarkt zu ih-
rem wirtschaftlichen Vorteil nutzen.
Durch eine systematische Verknappung
von Land halten private Bauherren heute
erhebliche Mengen an ungenutzten Flä-
chen vor. Schätzungen zufolge haben diese
privaten Immobilienentwickler 9,3 Millio-
nen Quadratmeter Land erworben, das sie
längere Zeit nicht zum Bau von Wohnge-
bäuden genutzt haben. Als Folge der Pro-
teste haben Kommentatoren aus der Volks-
republik nun vorgeschlagen, dass dieses
Land von der Regierung Hongkongs be-
schlagnahmt und für den Bau von öffentli-
chen Wohnungen genutzt werden sollte.
Allerdings vermag dieser Vorschlag inmit-
ten der Unruhen nicht überzeugen, weil er
zu spät kommt.
Carrie Lams Regierung leidet heute un-
ter einem doppelten Legitimationsdefizit:
Zum einen ist die Regierung nicht frei ge-
wählt, sondern von Peking eingesetzt. Ihr
fehlt die demokratische Legitimation.
Zum anderen sind die Ergebnisse des Re-
gierungshandelns in den Augen vieler Bür-
ger alles andere als überzeugend. Vor al-
lem die Wohnsituation vieler Hongkonger,
die nominal über sehr viel Geld verfügen,
ist ausgesprochen bescheiden. Diese Notla-
ge ist von der Regierung zu verantworten.
Gerade junge Menschen sehen sich als
Verlierer der heutigen Ordnung. Viele älte-

re Hongkonger haben ihre Kindheit in Ar-
mut verbracht und sorgen sich heute vor al-
lem um die wirtschaftlichen Perspektiven
ihrer Stadt. Für die jüngeren Hongkonger
hingegen ist die heutige Situation nicht nur
wegen der Wohnsituation problematisch.
Die heute 20- bis 40-Jährigen erwartet ab
2047 ein Leben zu chinesischen Konditio-
nen: Zensur und Überwachung statt des
heutigen freiheitlichen Systems. Schon
heute lässt sich beobachten, welche Folgen
dies haben wird. In Chongqing, einer Stadt
mit 15,3 Millionen Einwohnern, setzt die
Kommunistische Partei 2,58 Millionen
Überwachungskameras ein. Auf tausend
Einwohner kommen 168 Kameras. Selbst
für ordnungsliebende Menschen ist diese
Abschaffung persönlicher Freiheit keine
Verheißung, sondern eine Bedrohung.
Die Proteste in Hongkong dauern seit
vier Monaten an, und ein Ende ist nicht in
Sicht. Die Herrschenden sind nicht in der
Lage, einen problemorientierten Dialog
mit den Demonstranten zu führen. Einige
Politiker haben gar die Beschäftigung mit
liberalem Gedankengut an weiterführen-
den Schulen für die Proteste verantwort-
lich gemacht. Tung Chee-hwa, der erste
Regierungschef nach der Rückgabe Hong-
kongs an China im Jahr 1997, hat die Lehr-
pläne als Grund für die Proteste bezeich-
net. Das ist eine Fehleinschätzung: Die
Bürger von Hongkong kritisieren die Er-
gebnisse der Regierungstätigkeit und da-
mit die Legitimität ihrer Regierung. Die
wachsende Unzufriedenheit der Bürger
wurde von den seit 1997 amtierenden Poli-
tikern nicht erkannt.

E

s ist kein Zufall, dass sich Hong-
kong in dauerhaften Unruhen
befindet. Die Unterdrückung
selbst leichter Meinungsver-
schiedenheiten durch Präsident
Xi auf dem chinesischen Festland hat zwei-
fellos die Unterstützung für die Demons-
tranten in Hongkong verstärkt. Viele Bür-
ger bezeichnen sich selbst als freiheitlich
denkende Männer und Frauen und lehnen
das faustische Abkommen der Kommunis-
tischen Partei offen ab: Wirtschaftlicher
Wohlstand als Gegenleistung für politi-
sche Unterwerfung ist für viele Hongkon-
ger kein attraktives Modell.
Die Regierung Carrie Lams erweist sich
als unfähig, auf die Proteste mit Augen-
maß zu reagieren. Das von ihr am 4. Okto-
ber ausgesprochene Vermummungsverbot
wirkte wie ein Brandbeschleuniger. Umge-
hend versammelten sich in der ganzen
Stadt Protestierende. Erstmals wurde das
gesamte U-Bahn-Netz Hongkongs stillge-
legt. Frau Lam, deren Rücktritt offenbar
von der chinesischen Führung abgelehnt
wird, hat mit dem Rückgriff auf ein Not-
standsgesetz der britischen Kolonialregie-
rung deutlich gezeigt, dass sie keine Ant-
wort auf den Zorn der Demonstranten
hat.
Für den chinesischen Präsidenten
kommt die Krise in Hongkong zu einem
ungelegenen Zeitpunkt. Xis autoritäre
Herrschaft galt lange als ungefährdet. In
diesem Jahr kämpft er dagegen gleich auf
mehreren Feldern. Neben den anhalten-
den Unruhen in Hongkong ist er mit ei-
nem amerikanischen Präsidenten konfron-
tiert, der zu einer handels- und finanzpoli-
tischen Eskalation bereit ist. Die von ho-
hen Wachstumsraten verwöhnte Wirt-
schaft zeigt Anzeichen von Schwäche. Zu-
gleich gelingt es der Regierung in Peking
nicht, die ausufernde Verschuldung unter
Kontrolle zu bekommen. Die Kommunisti-
sche Partei muss sich dabei zwischen zwei
Übeln entscheiden: Entweder konsoli-
diert sie das Finanzsystem und nimmt ein
schwächeres Wirtschaftswachstum in
Kauf, oder sie lässt eine weiter steigende
Verschuldung zu und riskiert damit eine
um so heftigere Wirtschaftskrise zu einem
späteren Zeitpunkt.
Die Unfähigkeit der Kommunisten, ein
politisches und ökonomisches Modell zu
entwickeln, das für die Menschen in Hong-
kong attraktiv ist, hat auch Auswirkungen
auf die für Präsident Xi so wichtige Wie-
dervereinigung mit Taiwan. Eine gewaltsa-
me Niederschlagung der Proteste würde
die Peking-kritischen Kräfte in Taiwan
deutlich stärken. Schon heute erscheint es
wenig plausibel, eine Wiedervereinigung
zu den Konditionen Pekings, das heißt mit
einer zentralen Stellung der Kommunisti-
schen Partei, zu erwarten. Auch in Taiwan
verfolgt man die Gefährdung der politi-
schen Freiheiten in Hongkong mit großer
Aufmerksamkeit.
Während der Erhalt der politischen
Freiheiten das offensichtlichste Anliegen
der Protestierer und leicht erklärbar ist,
sind die sozialen und wirtschaftlichen Ur-
sachen des Aufstandes komplexer. Die
Menschen in Hongkong leben in einer
sehr ungleichen Gesellschaft. Ihr tägli-
ches Leben ist entbehrungsreich, ihre Aus-
sichten sind düster. Die Regierung von
Carrie Lam versucht seit Beginn der Pro-
teste, einige Probleme zu lösen, aber das
Vertrauen in die Regierung wird kurzfris-
tig kaum hergestellt werden können.
Es ist der Regierung zwar gelungen,
Hongkong zu einem gefragten Standort
für internationale Finanzdienstleister zu
machen, aber sie hat es nicht geschafft,
die Stadt zu einem attraktiven Ort für ihre
eigenen Bürger zu entwickeln. Die
schlechte soziale Lage vieler Menschen er-
klärt, warum die gewalttätigen Randalie-
rer in hohem Maß seitens der Bürgerin-
nen und Bürger Hongkongs unterstützt
werden. Jenseits der berechtigten Sorge
vor einer schleichenden Aushöhlung der
politischen Freiheiten durch die Regie-
rung in Peking und ihre Vertreter in Hong-
kong ist es das hohe Maß an Ungleichheit,
das für anhaltende Verbitterung sorgt.
X XX

DerVerfasser ist Mitarbeiter der Stiftung Wissen-
schaft und Politik (Berlin) und lehrt derzeit als Gast-
professor am Asia Global Institute, The University
of Hong Kong.
Die Rückkehr von Hongkong. Ein Land – zwei Sys-
teme. (1997) Abbildung: IISH Stefan R. Landsber-
ger Collection, Amsterdam

Für winzige Wohnungen zahlen die Bürger gewaltige Summen.


Die wirtschaftliche Ungleichheit hat seit der Rückgabe der


Kronkolonie an China zu- und nicht abgenommen. Nun sollen


auch noch die politischen Freiheiten eingeschränkt werden.


Ein Bericht über die tieferen Ursachen der Proteste in Hongkong.


Von Professor Dr. Heribert Dieter


Ungleichheit und


soziale Spannungen

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