Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.10.2019

(Dana P.) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG, 7. OKTOBER 2019·NR. 232·SEITE 9


Das seit 1991 ausgerichtete Leipziger
Festival „Literarischer Herbst“ steht
unter neuer Leitung. Als „IG Neuan-
fang“ haben sich die Literaturvermitt-
ler Claudius Nießen, Anja Kösler, Nils
Kahlefendt und Jörn Dege zusammen-
getan und die diesjährige Ausgabe ku-
ratiert: in gestraffter Form, dafür nun
deutlich überregionaler. Vom 21. bis
zum 27. Oktober werden insgesamt 23
Veranstaltungen stattfinden, unter an-
derem mit dem Fotografen Sebastião
Salgado, der unmittelbar zuvor den
Friedenspreis des Deutschen Buchhan-
dels verliehen bekommt, mit den
Schriftstellern Rüdiger Safranski, Da-
vid Wagner, Nora Bossong und Tomas
Espedal, den Lyrikern Ulrike Draes-
ner, Daniela Danz, Anja Kampmann,
Ulrich Koch und Carl-Christian Elze
sowie den Illustratoren Rotraud Susan-
ne Berner, Nadia Budde, Ole Könn-
ecke und Leonard Erlbruch. Bei Erfolg
der neuen Konzeption will das Quar-
tett die Arbeit im Folgejahr fortsetzen,
hofft dann aber auf eine Erhöhung des
von der Stadt bereitgestellten Budgets
von bislang knapp 30 000 Euro. F.A.Z.

Nach der einundzwanzigsten Vorstel-
lungsrunde der Kandidaten liegt der Fa-
vorit uneinholbar vorne. Platz eins in
der ewigen Bestenliste der SPD-Vorsit-
zenden ist Willy Brandt nicht zu neh-
men. Von den vierundzwanzig Perso-
nen, die das Amt seit 1890 innehatten,
wurden gestern in der Duisburger Mer-
catorhalle von den sieben Frauen und
sieben Männern, die diese Reihe fortset-
zen möchten, drei namentlich genannt.
Siebenmal wurde der Vorsitzende der
Jahre 1964 bis 1987 beschworen.
Als Willy Brandt Bundeskanzler
war, betrieb er eine „globale Friedens-
politik“, die Gesine Schwan und Ralf
Stegner wieder aufnehmen wollen. Die
emeritierte Professorin für Politologie
und der Schüler des Politologen Wil-
helm Hennis treten als das Duo der un-
wahrscheinlichen Standfestigkeit an.
Alle Bewerber nehmen eine lebensge-
schichtliche Kontinuität durchgehalte-
ner Überzeugungen für sich in An-
spruch. Christina Kampmann nannte
als ihr sozialdemokratisches Urerlebnis
ihren Dienstantritt im Sozialamt, wur-
de aber von Saskia Esken überboten,
der schon im Kindergarten die soziale
Ungleichheit ins Auge fiel. Schwan und
Stegner setzen darauf, dass man ihnen
die im politischen Berufsleben jeder-
zeit zweifelhafte Konsistenz der Stand-
punkte angesichts ihres summierten
Lebensalters doppelt gutschreibt. In
Schwans Worten haben sie „ein Leben
lang gezeigt, dass wir nicht kippen“.
In einem früheren Leben verteidigte
Gesine Schwan allerdings die Nachrüs-
tungspolitik von Helmut Schmidt – und
sie führte dessen Scheitern 1983 in die-
ser Zeitung darauf zurück, dass der Par-
teivorsitzende den Kanzler mit einer
Nebenaußenpolitik unterminiert habe.
Schmidt, der Brandt nach dem Kanzler-
sturz 1974 den Parteivorsitz ließ, kann
leider nicht mehr auf eine Zigarette
dazu einvernommen werden, dass
Schwan von der Prinzipientreue sagte:
„Willy Brandt hat es uns vorgemacht.“
Schmidt wurde in den drei Stunden
nicht erwähnt, dafür Gerhard Schrö-
der, der dritte und vielleicht letzte sozi-
aldemokratische Kanzler der Bundesre-
publik und Vorsitzende von 1999 bis
2004, mehrfach, aber stets ohne Na-
mensnennung. Dass dieser Willy-sei-
bei-uns wegen der Hartz-Gesetze für
die Flucht der Wähler vor der SPD ver-
antwortlich ist, scheint ein Konsens zu
sein, dem nicht einmal Olaf Scholz wi-
derspricht – er kann sich nicht wie Gesi-
ne Schwan 1983 mit Loyalität zu einem
Abgewählten exponieren, denn die
Gnadenfrist für ein von solidarischem
Vergessen ermöglichtes Comeback
nach 36 Jahren gibt die Parteigeschich-
te wohl nicht mehr her. Als Norbert
Walter-Borjans unter lautem Jubel die
SPD der Schröder-Ära mit einem Bus
verglich, der laut Fahrplan die soziale
Gerechtigkeit hätte ansteuern sollen,
aber stattdessen in die „neoliberale
Pampa“ gelenkt worden sei, lag bei-
nahe die Assoziation der Gladbecker
Geiselnahme aus der Regierungszeit
von Johannes Rau in der Hallenluft.
Der am zweithäufigsten genannte
SPD-Vorsitzende war mit zwei Treffern
Martin Schulz. Er sei „etwas in Verges-
senheit geraten“, sagte Karl Lauter-
bach, aber mit seinen Konzepten für
eine Rückkehr zum Sozialstaat ein
Mann, „dem wir viel verdanken“. So
weit reicht der lange Arm der innerpar-
teilichen Solidarität: Niemand, aber
auch wirklich niemand (außer Schrö-
der und Sigmar Gabriel, der einmal er-
wähnt wurde, ohne Namen und mit Ver-
achtung) soll sich abgehängt fühlen.
Boris Pistorius berief sich auf den ers-
ten Vorsitzenden der Nachkriegszeit.
Kurt Schumacher habe gesagt, Politik
beginne mit dem Betrachten der Wirk-
lichkeit. Das war die Devise für ein An-
gebot, mit dem sich Pistorius und Petra
Köpping markant vom restlichen Be-
werberfeld abhoben: Ohne dass sie es
aussprachen, schlugen sie vor, den
Kampf um die AfD-Wähler aufzuneh-
men. Ihnen genügt nicht, dass die SPD
sich als „Klammer der Anständigen ge-
gen die Unanständigen“ (Saskia Esken)
anpreist. Obwohl einzelne Fragen aus
dem Duisburger Publikum mit dem Ver-
weis auf die Stimmung an den Info-
Ständen im Ruhrgebiet in dieselbe Rich-
tung wiesen, fand der Vorstoß von Pis-
torius kaum Resonanz – er wurde noch
nicht einmal zurückgewiesen.
Sein Schumacher-Zitat ist eines der
bei Politikern beliebtesten Politikerzita-
te. Beliebt gemacht hat es wohl Erwin
Teufel. Von dem jedenfalls hat es Boris
Palmer, der dieser ausgequetschten Zi-
trone jetzt sogar ein ganzes neues sau-
res Buch abgepresst hat. Ob das Zitat
überhaupt echt ist, lässt sich nicht
leicht ermitteln. Noch nie hat ein Politi-
ker hinzugesagt, auf welche Wirklich-
keit sich Schumacher wann und wo
eigentlich bezog. Das Zitat fingiert eine
realistische Welteinstellung nur, es ist
eine Formel des Populismus, den es zu
bekämpfen vorgibt. Sozialdemokrati-
sches Traditionsgut ist es nicht. Für alle
Fälle, wohl auch für den Fall, dass Jan
Böhmermann tatsächlich vor den Tü-
ren des Wahlparteitags stehen sollte,
verabschiedete sich Pistorius mit einer
astreinen Interpretation der Stimme
von Willy Brandt. PATRICK BAHNERS


E


ine spektakuläre Truppe be-
setzt den großen Saal im Muse-
um, effektvoll ausgeleuchtet.
Manche der Figuren sehen aus
wie von einem anderen Stern,
noch heute – oder schon wieder, nach un-
gefähr einem halben Jahrhundert. Denn
die weißen Puppen, Frauen und Männer,
tragen Modelle des französischen Mode-
schöpfers Pierre Cardin, vor allem aus
den sechziger und siebziger Jahren. Mehr
als achtzig seiner Kreationen und Acces-
soires umfasst die Phalanx, die erste gro-
ße Schau dieser Art in Deutschland. Es ist
eine so spannende wie erhellende Zeitrei-
se zurück in die Zukunft jener Avantgar-
de, die Cardin zum futuristischen Schnei-
der par excellence gemacht hat, neben
ihm nur noch Paco Rabanne oder André
Courrèges in Paris. Von einer Revolution
in der Mode, im Zusammenspiel mit dem
wehenden Zeitgeist, zu sprechen ist
schon korrekt.
„Space Age Fashion“ heißt das Schlag-
wort, lange bevor der Begriffspacigin die
deutsche Sprache fand. Im Jahr 1966 prä-
sentierte Cardin seine „Cosmocorps“-Kol-
lektion in Paris. Die kosmischen Körper
hüllte er in bis dahin nicht gesehene Ge-
wandungen, die ihr Vorbild in der damali-
gen Euphorie für denOuter Spacehatten.
Die Amerikaner und die Russen waren
mit dem Wettlauf ins All beschäftigt,
„Apollo 11“ wird, es ist bekannt, 1969
zum ersten Mal auf dem Mond landen.
Die eher irdischen Ableger waren die ers-
ten Science-Fiction-Serien, allen voran
der bis heute nicht enden wollende „Star
Trek“ des Raumschiffs Enterprise. In
Deutschland bannte, tatsächlich schon
1966, die „Raumpatrouille“-Serie ihre Zu-
schauer vor dem Fernseher. Und Stanley
Kubrick drehte 1968 den ewigen Kultfilm
„2001: Odyssee im Weltraum“.
Cardin erkannte den historischen Mo-
ment für einen Aufbruch in die Zukunft,
der unbedingt auch in der Mode gelten soll-
te, vor allem für die Jugend. Also staffierte
er diese Jugend mit Kostümen des Nonkon-
formismus aus, im androgynen Habitus, in
Lack und Leder, mit dramatischem Zube-
hör, schwarzen Brillen und markanten
Kappen. Manches ist knallbunt, alles figur-
betont, genauer hauteng, die selbstbewuss-
te Betonung des Sex ist kalkuliert. Schon
im Jahr 1966 hatte er – ein absolutes No-
vum der Branche, die bis dahin nur Da-
menmode kannte – mit der „Zylinderli-
nie“ eine Herrenkollektion entworfen:
„Da es den Beruf des Männermodels noch
nicht gibt“, schreibt Ingeborg Harms in ih-
rem kenntnisreich amüsanten Katalogbei-
trag, „engagiert Cardin 200 Studenten, die
seinen kragenlosen, hochgeknöpften An-
zug mit seitlich versetztem Reißverschluss
und seinen Zylinder-Cordanzug mit Röh-
renhose, schmalem Jackett und hohem
Armausschnitt paradieren.“ Die Vorstel-
lung hat einen gewissen Charme: Ein paar
Jahre vor der Revolte führen Studenten die
Phantasien eines Modeschöpfers gleich-
sam naiv spazieren, der sich von den Beat-
niks ihrer Generation angezogen fühlte
und ein bisschen den Hauch des Existentia-
lismus nachwehen ließ.
Für seine Entwürfe bekommt Cardin
auch prominente Unterstützung. So sind
es die Beatles, die 1963 am Anfang ihrer
Karriere ein veritables Fashion State-
ment abliefern und in solchen Zylinder-
Anzügen posieren, allerdings vorsichts-
halber doch mit Kragenhemd und Binder
unterm Jackett. Für die jungen Frauen –
und ausdrücklich nur für sie machte er sei-
ne Mode – war Cardins Schneiderei durch-
aus ein Fanal des Auf- und Ausbruchs.
Wer in den Sechzigern und Siebzigern die
Bedeutung von Mode als Mittel der Selbst-
darstellung – und mithin der Provokation


  • kapiert hatte, wusste, was er an Cardin
    hatte. Weniger im Blick waren vielleicht
    seine Hüte, die wie umgedrehte Blumen-
    töpfe, gegebenenfalls mit Schlitzen darin
    für die Augen, aussahen, oder wie Helme,
    womöglich mit durchsichtigen Visieren,
    auf den Köpfen saßen. Vielmehr waren es
    zum Beispiel die Stiefel, gern ellenlange
    Overknees aus glänzendem syntheti-
    schen Lack, die, vorsichtig formuliert, um-
    stritten waren bei bürgerlichen Müttern.
    Hinzu kamen die überdimensionalen
    Schmuckgehänge, manche wie Panzer
    aus Metall und Plastik um Hals und Taille,
    zu schweigen von der Kürze der Kleider.
    In Verbindung mit der aufblühenden Pop
    Art eines Andy Warhol mit ihrer offensi-
    ven Liebe zu den banalen Sachen und mit
    der aufsässigen Musik war das ein explosi-
    ves Gemisch. Natürlich war die Haute
    Couture, in der auch Cardins Anfänge la-
    gen, keineswegs zugänglich für alle und je-
    den. Aber sein unverkennbarer Stil sicker-
    te schnell in die Jugendkultur ein – was
    schlicht wesentlich daran lag, dass seine
    anscheinend so simplen Modelle sofort
    abgekupfert wurden und in preiswerten
    Kopien schnell überall zu haben waren.
    Geboren wurde Pierre Cardin 1922 als
    Pietro Costante Cardin in der Region Tre-
    viso in Italien als jüngstes von elf Kin-
    dern. Seine Familie emigrierte 1924 nach
    Frankreich, sein Aufstieg in der Pariser
    Modeszene war rasant. Er begann 1946
    im Haus von Christian Dior, 1950 begrün-
    dete er sein eigenes Label mit dem bis heu-
    te unverkennbaren, fast altmodisch ver-
    schnörkelten Logo. Früh erkannte er sei-
    ne Chance in der Selbstvermarktung, sei-
    ne Ideen unter seinem eigenen Namen un-
    ter die Leute zu bringen, ehe es eben ande-
    re unautorisiert taten. Über den Prêt-
    à-porter geht er weiter bis zu den Klei-
    dern von der Stange, wie sie in Kaufhäu-
    sern zu haben sind. Schnell erkannte er Ja-
    pan und China als Plätze für sich und sei-
    ne Firma. In den Achtzigern stellt er in Pe-
    king seine Uniformen für die Stewardes-
    sen und Piloten von „Air China“ vor. Das
    ist so geschäftstüchtig wie konsequent,
    hatte er der Welt doch schon in den Sech-


zigern den „Mao-Look“ geschenkt, der
bis heute in Cardins Stehkragenhemden
überlebt. Überhaupt weitete er sein Port-
folio sukzessive aus, bis zu allen mögli-
chen Gegenständen der Alltäglichkeit,
die unter seiner Marke laufen. Noch im-
mer ist er der alleinige Eigentümer seines
weltweiten Unternehmens, zu dem schon
seit 1981, nur zum Beispiel, das berühmte
Lokal „Maxim’s“ in Paris gehört.
Was ihm seinen Erfolg allererst be-
schert hat – seine bahnbrechende Intuiti-
on in der Mode – ist in der Schau in Düssel-

dorf zu betrachten. Cardin machte synthe-
tische Stoffe salonfähig, etwa Vinyl oder
die nach ihm benannte Chemiefaser „Car-
dine“, die er sich patentieren ließ; auf ihr
lassen sich Prägemuster thermoplastisch
formen. Daraus schuf er schräge Muster
und baute sie in Minikleider in Trapez-
form oder A-Linie ohne Nähte ein, kleine
architektonische Kunstwerke. Anders hul-
digte er den, freilich immer sehr schlan-
ken, Leibern mit seinen Bodysuits, abgelei-
tet vom klassischen Overall, der eigentlich
als Arbeitskleidung diente. Für die Frauen

erfand er geschlitzte Röckchen dazu, den
Männern band er knappe lederne Lenden-
schurze um. Wirklich praktisch in der
Handhabung konnten solche Strampelan-
züge für beide Geschlechter nicht sein,
aber sie passten ins extravagante Unisex-
Konzept. Auch das „Triadische Ballett“
lässt da grüßen, wo die Tänzerinnen und
Tänzer in ähnlichem Aufzug antraten, dar-
über mit geometrischen Formen deko-
riert. Und ähnlich wie Oskar Schlemmers
Figurinen haben die aufwendigen Abend-
kleider Cardins mitunter applizierte Fal-
tungen oder in den Stoff eingenähte Rei-
fen, so dass ihre Trägerinnen wie Skulptu-
ren daherkommen. Diese Roben bilden in
ihrer Grandiosität einen dramatischen Ge-
gensatz zur Klarheit der Schnitte bei den
Tageskleidern, selbst dort, wo diese etwa
mit effektvoll eingesetzten, asymmetri-
schen Cut-Outs an Kimonos erinnern.
Die Kuratorinnen Barbara Til und Ma-
ria Zinser haben für ihre „Fashion Futu-
rist“-Ausstellung ein Szenario entwickelt,
das Cardins innovativen Geist aufleben
lässt – und im gleichen Zug dessen ge-
schichtlicher Gebundenheit nachspürt.
Die Schau wird so zum rasanten Zeitdoku-
ment, zur Zeitmaschine in eine vergange-
ne Zukunft. Und zum Panoptikum für
einen Optimismus, der mit Kunststoffen,
die in allen Bonbonfarben quietschten,
noch unschuldig Utopien verbinden konn-
te. Pierre Cardin ist zweifellos ein Visio-
när dieser Ära. ROSE-MARIA GROPP
Pierre Cardin. Fashion Futurist.Im Kunstpalast,
Düsseldorf; bis zum 5. Januar 2020. Der informati-
ve und umfassend bebilderte Katalog, im Kerber
Verlag, kostet im Museum 39,90 Euro, im Buch-
handel 48 Euro.

dasverneinte deutschland. seine möglichkeit schön zu sein
diagnoselöffel. best of. essen im nichts
deutschland im gedicht. seine hollywoodhaut
man könne den wörtern eine große weiße leinwand geben
boppard frankfurt oder fräulein
doppelgängergassen. eine fälschung für eine andere
zwischen den zeilen ausländisches lokal
hinter jedem satz fremdsprachengrammatik
die sache liegt nicht in der natur
deutschland nicht in der vergangenheit
die erinnerung an deutschland ist deutschland nicht
deutschland hat kein haus und ein dach
das hält und hält
schöner als das haus ist nur das gerhard richter
fenster. es ist noch schöner als sein betrachter
es hängt an der wand
manchmal tropft es heraus

E


in schottisches Ehepaar hat am
Vortag die Ausgrabungsstätte ei-
nes römischen Forts in der Nachbar-
schaft besucht. Nun sitzt es morgens
beim Frühstück. Er erzählt ihr einen
seltsamen Traum – er sah sich selbst in
grauer Vorzeit als Eroberer eines Rö-
merkastells, als Teilnehmer eines
Raubzugs wüster Männer, der gegen
die verfeinerte Kultur der römischen
Besatzer gerichtet war. Das Seltsamste
aber war, sagt er, dass er in diesem
Traum während der Eroberung im
Fort eine Römerin antraf – ob seine
Frau wisse, wer das gewesen sei?
„Ich“, antwortet sie, mit kreideblei-
chem Gesicht. „Gut geraten“, antwor-
tet ihr Mann. Er habe diese Römerin je-
denfalls mit sich schleppen wollen, nur
sei deren Mann plötzlich herbeige-
stürzt, er aber habe den fast unbewaff-
neten Römer erschlagen. „Markus,
mein schöner Markus“, ruft seine Frau
erregt aus und „Oh, du Scheusal!“ So
steht es in „Durch den Vorhang“, einer
unheimlichen Geschichte des ans Ok-
kulte glaubenden Sherlock-Holmes-
Autors Arthur Conan Doyle, erschie-
nen 1911, zu einer Zeit also, als man
von den Methoden heutiger Archäolo-
gen nur träumen und die Phantasie da-
für üppige Blüten treiben konnte. Die
gigantische Müllhalde von Oxyrhyn-
chus in der ägyptischen Wüste war
schon entdeckt, doch welche Textfrag-
mente in unserer Zeit unter den avan-
cierten optischen Instrumenten auf
scheinbar leeren Papyrosfetzen zum
Vorschein kommen, war ebenso wenig
abzusehen wie die inzwischen entdeck-
ten Schriften auf den etwa im feuchten
Boden Britanniens bewahrten Holztä-
felchen aus römischer Zeit. So gibt es
auch aus dem schon lange bekannten,
aber noch längst nicht vollständig er-
grabenen Pompeji immer wieder Mel-
dungen, die unser Bild dieser Stadt und
der zeitgenössischen Kultur bedeutend
ergänzen. Vor zwei Jahren wurde vor
dem südlichen Tor der Stadt ein Grab-
monument untersucht, das offenbar be-
reits im neunzehnten Jahrhundert von
Raubgräbern geplündert und beschä-
digt worden war. Ein großer Teil der
Aufschrift aber blieb erhalten und wur-
de nun von Massimo Osanna, dem Ge-
neraldirektor des Archäologischen
Parks von Pompeji, entziffert und pu-
bliziert. Demnach war der Tote Mit-
glied einer sehr reichen Familie, die sei-
ne Volljährigkeit – und damit das
Recht, die „Toga virilis“ zu tragen, was
meist im Alter zwischen 15 und 18 fei-
erlich verliehen wurde – mit einem un-
geheuren Fest feierte: Sagenhafte 6840
Gäste wurden bewirtet, 416 Gladiato-
ren kämpften tagelang zu Ehren des
Jünglings, der später auch mit reichen
Brotspenden während einer Hungers-
not hervortrat und einmal sogar vom
Kaiser erwirkte, dass einige wegen ei-
nes Aufruhrs verbannte Pompejaner
wieder in die Heimat zurückkehren
durften. Der Vorhang geht kurz auf,
doch das Bild, das wir erhaschen, ist
unvollständig. Nicht nur, weil man
gern genauer wüsste, wie ein derart ge-
waltiges Fest ausgesehen hat, wer ein-
geladen war und wer nicht, wie sich
die Tage zwischen Völlerei und Gladia-
torenkampf dahinwälzten. Denn auch
der Name des Wohltäters, der ja vor
dem Jahr 79, als Pompeji unterging, ge-
storben sein muss, ist auf der Inschrift
nicht erhalten – handelt es sich, wie
Massimo Osanna vermutet, um den
aus anderen Quellen bekannten Pom-
pejaner Gnaeus Alleius Nigidius Mai-
us, für den unter anderem spricht, dass
sich das Grab seines Adoptivvaters
ganz in der Nähe des nun untersuchten
befindet? Und der Name des Kaisers
wird erst gar nicht genannt – könnte es
sich um Nero handeln, der nach sei-
nem gewaltsamen Tod im Jahr 68 öf-
fentlich besser nicht erwähnt wurde?
Viel Raum jedenfalls für einen neuen
Wahrtraum. spre

Durs Grünbein

romantisch klingt bei lorch der rheingau aus


Neuer Herbst


Das Leipziger Festival für
Literatur wird reformiert

Sie haben


Kurt


Aber nicht exklusiv:


Die SPD in Duisburg


Festecho


Der Weltraum ist offen


Avantgarde 1968: Kleider aus der Chemiefaser „Cardine“ mit thermoplastisch geformten Prägemustern Foto Archives Pierre Cardin

Porträt des Starschneiders: Pierre Cardin, 1966 (oben)


  • Modischer Mann, 1995: „American Football“-
    Lederjacke mit Scheibendetail an den Schultern (rechts)
    Fotos Gamma/Archives Pierre Cardin


Kosmische Körper oder Der Futurismus wird zum Kleid:


In Düsseldorf widmet der Kunstpalast dem französischen Modeschöpfer


Pierre Cardin eine umfassende Schau.

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