10 MEINUNG &DEBATTE Mittwoch, 2. Oktober 2019
CÉDRIC GERBEHAYE / MAPS
FOTO-TABLEAU
Wem nützt Boliviens
weisses Gold? 3/
Allerheiligen ist in Bolivien nicht einfach ein
Tag, an dem man still einen Kranz auf dem
Grab eines lieben Menschen niederlegt und
verblassenden Erinnerungen nachhängt.An
Todos los Santos, heisst es, kommen dieToten
zu Besuch und möchten nach der langenReise
aus demJenseits auch ordentlich bewirtet
werden. Sowohl zu Hause als auch beim Besuch
auf demFriedhof errichtet man ihnen Altäre,
bereitet Gebäck, verzierte Brote und andere
Speisen zu, auch Bier und Singani, ein
hochprozentiger Schnaps, fliessenreichlich. Der
belgischeFotoreporter Cédric Gerbehaye
durfte die Familie Copa, die er während seiner
Recherche über den Lithiumabbau in Bolivien,
Argentinien und Chilekennengelernt hatte, am
Feiertag auf denFriedhof begleiten. Die
Grossfamilielebt invier winzigen Einzimmer-
häuschen in einer Ortschaft in der Nähe des
bolivianischen Salar de Uyuni, einer Salzwüste,
die gewaltige Lithiumreserven birgt; aber von
dem Wohlstand, den das derzeit in der Industrie
hochbegehrte Leichtmetall bringen soll, hat sie
einstweilen nichts gesehen.Wie Generationen
vor ihnen verdienen die Copas ihr Geld
hauptsächlich mit der Salzgewinnung im Salar
- das bedeutet bis zu zwölf Stunden dauernde
Arbeitstage unter stechender Sonne und bei
schneidendemWind.
Eine europäische Sicherheitsunion?
Frankreich s Nuklearwaffen können es nicht richten
Gastkommentar
von PETER SEIDEL
Als ein deutscher Kanzler im19.Jahrhundert be-
merkte, internationaleVerträge alterten so schnell
wie junge Mädchen,war dies eine zutreff endeFest-
stellung. Seitdem haben sich die Umstände nicht
nur für dieFrauen deutlich verbessert – Ende des
20., Anfang des 21.Jahrhunderts schien auch Bis-
marcks Bonmot über das Schicksal vonVerträgen
seine Gültigkeit verloren zu haben. Denn im Kal-
ten Krieg und noch lange danach hatten interna-
tionaleVerträge eine deutlich höhere Geltung als
nochim19. Jahrhundert. Im Zeitaltervon Globali-
sierung und Multipolarität scheint sich dies wieder
zu ändern. Und so stellt sich nach derKündigung
und demAuslaufen diverser Rüstungskontroll-
abkommen dieFrage nach ihrer Haltbarkeit neu.
Dies gilt auch für denAtomwaffensperrvertrag, der
im n ächstenJahr ein halbesJahrhundert alt wird.
Im Kalten Krieg und erstrecht nach seinem Ende
gab es zahlreiche Rüstungskontrollabkommen,vom
Atomteststoppvertrag über den Start-Vertrag bis
hi n zudann wirklich substanziellen Abrüstungs-
verträgen im nuklearen undkonventionellen Be-
reich wie dem INF-Vertrag oder dem VKSE-Ver-
trag. Interessanterweise genau auf dem Höhepunkt
der Abrüstung, kurz nach dem jetzt gekündigten
INF-Vertrag über die Abschaffung derKurz- und
Mittelstreckenwaffen1987 und kurz vor derAuf-
lösung des Ostblocks1989, griff eine Phase sicher-
heitspolitischer Unsicherheit in Europa Platz.Da-
mals begann kurzzeitig eine aufschlussreiche Dis-
kussionüber die Notwendigkeiteiner eigenstän-
di gen europäischen Abschreckung:1988 hiess es
dazu, die Errichtung eines europäischen Abschre-
ckungspools wäre ein wichtiges Zeichen zu einem
Zeitpunkt, da sich die damalige russischeFührung
in dem Glauben wiegenkönnte, es sei ihr gelungen,
den US-Nuklearschirm in Europa zu neutralisieren.
Der Hauptgrund,ähnlich wie heute unter Präsident
Trump:Zweifel an derFortführung dieses Schutzes.
Zur erweiterten Abschreckung untauglich
Die damalige Diskussion ist deshalb interessant,
weil sie vieles mit der heutigen Diskussion gemein
hat. Und weil viele ihrerFolgerungen undForde-
rungen plötzlich wieder auftauchen.Aufschluss dar-
über gibt ein Hearing1988 vor demPolitischen
Ausschuss des EuropäischenParlaments.Auch da-
mals plädierten westdeutsche und französische
Experten undPolitiker füreine europäischeSicher-
heitspolitik. Ziel müsseeine nuklear abgesicherte
europäische Sicherheitsunion sein, die vor allem
das strategischePotenzialFrankreichs «europäi-
siere», aber offen für Grossbritannien sei. Gegen-
überWestdeutschland müsseFrankreich lediglich
«einseitig erklären», dass es vor einemNuklearein-
satz «imRahmen der zeitlichen Möglichkeiten»
die Bundesrepublik«konsultieren» werde. Dies be-
deute für diesenatürlich «kein Mitbestimmungs-
recht». Die «alleinige Befugnis» bleibe bei der fran-
zösischenRegierung. Damals wie heute stellt sich
damitdie Frage,obein solches französisches Pro-
tektorat für die Bundesrepublik ein gleichwertiger
Ersatz für die amerikanische Hegemonie in Europa
sein könne.
DieseFrage findet eine klareAntwort: Die heu-
tige US-Hegemonie in Europa lässt sich durch
einen einzigen europäischen Staat nicht ersetzen.
Und zwar nicht nur, weil dies in der Geschichte
immer wieder fehlgeschlagen ist. Sondern vor
allem, weil die französische Nuklearmacht allein
zur erweiterten Abschreckung schlicht nicht aus-
reicht. Dafür, so dieFolgerung jedenfalls1988, sei
eine Vornestationierungkonventioneller französi-
scherTruppen in Deutschland unabdingbar.
Über eine Notwendigkeit, diese auch mit
nukleartaktischenWaffen auszustatten, wurde da-
mals genauso wenig gesagt wie heute. Dass eine
solche Notwendigkeit aber offenbar grösser wäre
als bei den US-Streitkräften, wurde schon betont,
und zwar von französischer Seite,denn:«Wederdie
Franzosen noch die Briten haben nämlich die den
USA offenstehende Option, imFall eineskonven-
tionellen Krieges ihr Expeditionskorps in Deutsch-
land zu verlieren, ohne ihr eigenes Überleben aufs
Spiel zu setzen.» Mankönnte dies denDünkirchen-
Faktorder erweiterten Abschreckung nennen.Er
wäre der Preis einer auf Deutschland erweiterten
Abschreckung für einLand wieFrankreich mit sei-
ner Minimalabschreckung, die sonst nur die eige-
nen Interessen bzw. das eigeneLand abdeckt.
Auch he ute wieder bleiben dieAbsichtserklärun-
gen der BerlinerPolitik zu einer solchen deutsch-
französischen Sicherheitsunion genausovage und
unbestimmt wie vor dreissigJahren. Ist man etwa
nur bereit,sich lediglich symbolisch,ohne Substanz,
mit einemreinen Schutzversprechen zufriedenzu-
geben? Selbst wennFrankreich dazu bereit wäre,
was bedeutete dies für das bilaterale deutsch-fran-
zösischeVerhältnis, was für die zukünftige Entwick-
lung der EU, nichtnur militärisch, sondern gerade
auch wirtschaftlich, finanziell, politisch?Welches
wäre der Mehrwert fürFrankreich, was der Preis
für Deutschland?Und:Würde di es Europa auf län-
gere Sicht eher einen oder spalten?Wäre eine sol-
che deutsch-französische Entwicklung überhaupt
europatauglich,würde sie sichalso auf dieEntwick-
lung der EU positiv auswirken?
Die Franzosen handeln sehrrealistisch,wenn sie
sich hier heute zurückhalten. Dies bedeutet aber:
Es geht für Deutschland eben nicht nur umWie-
deraufbau und Erneuerung der Bundeswehr zur
erneut stärkstenkonventionellen Armee in der
EU, um Wiedergewinnung politischer Handlungs-
fähigkeit der Bundesregierung, es ge ht auch darum,
durch eine gleichberechtigte Lösung der Zukunfts-
fragen einer etwaigen europäischen Abschreckung
Europa eine selbstbestimmte und innereuropäisch
ausgewogene Zukunft zu geben.
Gewinnerund Verlierer
Eine solche Lösung hat an Dringlichkeit gewon-
nen. Denn vorbei sind offenbar die Zeiten,die einer
Abrüstung günstig sind. Zeiten, in denen auch die
internationalePolitik langsamer verläuft oder an
Bedeutung abzunehmen scheint, wie etwa nach
dem Ende des Kalten Krieges bei der weltweiten
Erfolgsphase des ökonomischen Liberalismus.
Nicht nur innerhalb von Staaten, sondern auch
zwischen ihnen gibt es Gewinner undVerlierer. Bei
einem anarchischen internationalenSystem neh-
men so Probleme zu, die der Business-Approach
ausklammert, vor allem die so wichtigeFrage der
Sicherheit. In dieserFrage sei es aber sehr viel
schwieriger zukooperieren, da die Globalisierung
die Gewichte zwischenden Staaten verschiebe
und so letztlich genauso gut zu weniger und nicht
zu mehrKooperation führenkönne, zu mehr und
nicht zu wenigerWettbewerb zwischen den Natio-
nen, also international zu wachsenden Meinungs-
verschiedenheiten.Wie es heute scheint, haben die
Ablösung der Bipolarität und die entstehende welt-
weite Multipolarität offenbar genau dazu geführt.
Ähnlich wieder Brexit aufgrund veränder-
ter Mehrheitsverhältnisse im EuropäischenRat
würde ein militärisch und politisch asymmetrisches
deutsch-französischesFührungsduo eine zentrifu-
gale Entwicklung in der EU durch die weitere Ver-
schiebung des innereuropäischen Gleichgewichts
hin zu den südlichenLändern und den weiteren
Ausbau derTransferunion unterFührungFrank-
reichs bewirken. Denn als wenig verwundbarer
und weniger abhängiger Staat hätte es dann deut-
lich mehrVerhandlungsmacht gegenüber dem stär-
ker abhängigen Staat wie Deutschland undkönnte
ihn zu bedeutendenKonzessionen zwingen. Diese
Politik mit ihren Machtverteilungs-, Machtver-
schiebungs- und Machterhaltungsinteressen dürfte
dazu führen, dass Deutschland, nachdem es inzwi-
schen weitgehend Abstand davon genommenhat,
wirtschaftlich und finanziell eineFührungsrolle in
der EU zu spielen, dies nun auch sicherheitspoli-
tisch tut. Dies würde aber mittelfristig zum Spalt-
pilz Europas – mitFolgen für die Statik der EU.
Die Nichtumsetzung internationalerVerträge ist
kein einzigartigerVorgang in der Geschichte, vor
allem,wennsie Verpflichtungen zu weitgehender
Abrüstung enthalten: Nach demVersaillerVertrag
begann bereits die späteWeimarerRepublik Pläne
für eine deutscheWiederaufrüstung auszuarbei-
ten, um ihren Zustand internationalerWehrlosig-
keit zu verringern. Die Siegermächte hattensich
zuvor jahrelang geweigert, ihre vertragliche Selbst-
verpflichtung zurAbrüstung umzusetzen.Offenbar
ist es deutlich einfacher, nachzurüsten, als abzurüs-
ten,Vertrag hin oder her.
Zeichnet sich da eineParallele zu heute ab?
Warum hielten die einst fünf Atommächte ihre
Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung im Atom-
waffensperrvertrag nicht ein? Und warumschrei-
ten manche Staaten zurAufgabe projektierter
Nuklearprogramme oder sogar zurTotalabschaf-
fung bereits vorhandener nuklearerWaffen, wäh-
rend andere nukleare Abschreckung anstreben?
Wieso sonst werden die Ukraine,Iranund Nord-
kore a heute so unterschiedlich behandelt? Der
Grund liegt darin, dass einerein konventionelle
Abschreckung, also ohneKernwaffen, nicht funk-
tion iert, nukleare Abschreckung bis anhin schon.
Was bedeutet dies heute? Die Nato, die USA und
Grossbritannien bleiben für die Sicherheit Euro-
pas noch lange von entscheidender Bedeutung. In
welchemAusmass, in welcherForm, bleibt offen.
Symbolik reicht nichtmehr
Und Deutschland? Dreissig Jahre nach dem
Ende des Kalten Krieges bleibt die Präambel
des deutschen Grundgesetzes für das wiederver-
einigte Deutschland verpflichtend, in einem ver-
einten Europa demFrieden zu dienen, als gleich-
berechtigtes Mitglied. Dies müssteheute aber die
nukleareKomponente einschliessen. Kann denn
beispielsweise einerealistische europäische Ost-
politik eine andereBasis haben? Die Alternative
könnte sonst einesTages lauten:integrierterAtom-
beitrag für Europa oder autonomeNuklearstreit-
macht. Mitreiner Symbolik ist es jedenfalls heute
nicht mehr getan.
Peter Seidelwar politischerReferent für Sich erheits- und
Europapolitik der CDU. Er lebt als Public-Affairs-Berater
und Autor in Frankfurt am Main.
Wieso sonst werden die
Ukraine, Iran und Nordkorea
heute so unterschiedlich be-
handelt?Weil eine rein
konventionelle Abschre-
ckung nicht funktioniert.