Neue Zürcher Zeitung - 02.10.2019

(singke) #1

Mittwoch, 2. Oktober 2019 SCHWEIZ 13


Bisher ige Parlamentarier geniessen bei Nationalratswahlen


einen deutlichen Startvorteil – das zeigt eine StudieSEITE 14


Im Kanton Zug dürfte erstmals eine Frau


den Sprung in die Bundesversammlung schaffenSEITE 15


Kernkraftwerke sollen 60 Jahre laufen


Das Bundesamt für Ener gie revidiert seine Ener gieszenarien 2050


Neu gehen dieFachleute


des Bundes davon aus, dass


die Kernkraftwerke zehnJahre


länger betrieben werdenkönnen.


Damit würde die Atomkraft


zur Brückentechnologie für die


Energiewende.Die Atomgegner


reagieren irritiert.


HELMUTSTALDER


Das Bundesamt für Energie (BfE)


geht über dieBücher. In den Energie-


perspektiven 2050 des Bundes war bis-


her unterlegt, dass dieKernkraftwerke


in der Schweiz 50Jahre lang betrieben


werden.Dies ergäbe als Enddatum 2034


für dieAtomkraft in der Schweiz, wenn


das jüngste AKW, Leibstadt, 50Jahre


Betriebszeit erreicht hat.


Derzeitrevidieren dieFachleute des


Bundes jedochdie Szenarien; sie sollen


nächstesJahr vorliegen.Fest steht be-


reits: Neu wird in den Szenarien auch


mit einer Betriebsdauer der AKW von


60 Jahren gerechnet. Diesergäbe ein


Auslaufdatum 2044.«DieRealität hat


die bisher unterlegten 50Jahre über-


holt» , sagt BfE-Sprecherin Marianne


Zünd. Einerseits gehe Mühleberg be-


reits diesesJahr nach 47 Betriebsjahren


vom Netz. Andererseits trete Beznau 1


dieserTage in sein 51.Betriebsjahr. «Wir


können das Szenario nicht mehr mit nur


50 Jahren machen. Es geht darum, die


Modellrechnung mit 60Jahren näher


entlang derRealität zu zeichnen.»


Trend zum Langzeitbetrieb


Zünd betont, dass es sich bei den 60Jah-


ren um ein Szenario handle, nicht um eine


Prognose oder eine Planung. Der Bund


wollekeine Erwartungen wecken,aber er


müsse in den Modellen Annahmen tref-


fen, die möglichstrealistischseien.


In der Schweiz dürfenKernkraft-

werke betrieben werden, solange die


Atomaufsichtsbehörde Ensi den Be-


trie b als sicher einstuft. In den USA


haben die allermeisten AKW Bewilli-


gungen für60 Jahre und streben zum


Teil eine Betriebsdauer von 80Jahren


an. InRussland, Slowenien,Tschechien


und der Ukraine wurdenLaufzeiten


ebenfalls verlängert,und auch inFrank-


reich und Schweden wird in etlichen


Werken derLangzeitbetrieb geprüft. In


der Schweiz kündigte die Axpo an, dass


sie Beznau nach millionenteuren Nach-


rüstungen, intensiven Untersuchungen


des Reaktorrings im Block1und der


Freigabe durch das Ensi bis 60Jahre

betreiben wolle.


ZehnJahre längereLaufzeiten wür-


den theoretisch bedeuten,dass mehr Zeit


bestünde für die Umsetzung der Ener-


giestrategie, sagt Zünd vom BfE.Gemäss


den ursprünglichen Szenarien soll die


Wasserkraft bis 2050 um 25 Prozent aus-


gebaut werden.Ob dies innert nützlicher


Frist gelingt,ist ungewiss.Bei Windkraft


und Geothermie ist derAufbau auf dem


bisherigen Pfad kaumrealistisch. Einzig


die Photovoltaik ist gut unterwegs und


die Zielerreichungrealistisch.


Weniger Strom aus demAusland


Zum insgesamt schleppend vorankom-


mendenAusbau der Erneuerbaren tritt


ein weiterer Umstand, der dem verlän-


gertenWeiterbetrieb der AKW in den

SzenarienAufwind gibt.«Wir müssen

uns auch fragen, was ist, wenn die um-


liegendenLänder ausKernenergie und


Kohle ausst eigen und in Europa weniger


Produktionskapazität und damit weni-

ge r Strom für den Import der Schweiz


im Winter zurVerfügung steht», sagt

Zünd. DerBau von Gaskraftwerken,

wie er in den Szenarien erwähnt ge-

wesen sei,komme wohl nicht mehr in-


frage. Einerseits wegen der CO
2

-Proble-


matik, andererseits brauchte es jeman-


den, der in Gaskraft investieren würde,


derenWirtschaftlichkeit aber nicht ge-

geben sei. Entsprechend seien mehr un-


bekannteFaktoren im Spiel. Die län-

gereLaufzeit der AKW nähme Druck

weg für denAufbau der erneuerbaren

Energien. «Aber eine Garantie, dass

die AKW auch wirklich länger zurVer-


fügung stehen, haben wir nicht», sagt

Zünd.Siekönntenauch früher ausfallen,


wenn sie nicht mehr sicher seien oder

wenn die Betreiber sie aus wirtschaft-

lichen Gründen abstellten.


DieAxpoals Betreiberin von Beznau


sieht sich durch das Szenario mit 60Jah-


ren Laufzeit bestätigt. «Das BfE folgt

lediglich denRealitäten.Aufgrund stän-


diger Nachrüstungen und Modernisie-

rungen kann manKernkraftwerke heute


60 Jahre laufen lassen», sagt Axpo-Spre-


cher Tobias Kistner. «Heute sehen wir,


dass dieAusbauziele bei denErneuer-


baren mehr Zeit brauchen als geplant.»


Die Kernkraftwerke 60Jahre zu betrei-


ben,trage in dieser Übergangsphase zur


Stärkungder Versorgungssicherheitbei.


Betreiben will die Axpo ihre AKW,

solange sie sicher und wirtschaftlich

sind. Für Beznau seien die wesentlichen


Investitionen bereits getätigt. «Bei stei-


genden Marktpreisen verdienendie

Kernkraftwerke also Geld, das wir in

anderen Bereichen investierenkönnen.»


Mit entsprechendenRahmenbedingun-


gen werde die Axpo gerne inWind- und


Solarenergie in der Schweiz investieren.


Gefährdet werde dieRentabilität der

AKW aber durch Verteuerungen wie

die Senkung derRenditeannahmen bei


den Fonds für Stilllegung und Entsor-

gung, die die Branche als willkürlich und


schädlich erachtet.


Stilllegungsbeiträge strecken


Die bisher angenommene Betriebs-

dauer von 50Jahren ist auch eine

Grundlage für die Berechnungen der

Fondsbeiträge. In dieser Zeit müssen

die Betreiber die mutmasslichenKos-

ten einzahlen. Die neueDauer von 60

Jahren wirft dieFrage auf, ob auch bei


der Speisung derFonds dieFrist ge-

dehnt und die jährlichen Beiträgeredu-


ziert werdenkönnten.«Darüber ist noch


nie diskutiert worden, das steht aufkei-


ner Agenda und wäre auch ein grosses


Politikum», betont Zünd. Bei der Still-


legung und Entsorgunggehe es darum,


das Geldrasch in denFonds sicherzu-

stellen. «Eine Dehnung der Beitragsfrist


würd e diesem Ziel zuwiderlaufen.»


Auf dieFrage, ob die Axpo dies an-


strebe, sagt Sprecher Kistner, für Beznau


seien die nötigen Beiträge bereits fast


vollständig geleistet. DerWaadtländer


SP-Nationalrat und AtomkritikerRoger


Nordmann hingegen gibt sich überzeugt


davon, die AKW-Betreiber arbeiteten


darauf hin, ihre Fondsbeiträge zu kürzen.


Die atomkritische Schweizerische


Energiestiftung (SES) hält die Idee für


falsch, dieKernkraft als Brückentech-


nologie zu propagieren. Alternde AKW


taugten wenig für den Klimaschutz und


produzierten weiterhin gefährlichen


Müll.Es müsste viel Geld investiert wer-


den , um sie sicher weiterzubetreiben –


Geld, das besser für die Energiewende


eingesetzt würde. DieseTechnologien


seien erprobt und günstig.


«Wir sind nicht der Meinung, dass die


AKW 60Jahre laufen sollten», sagt Felix


Nipkow von der SES. «Aber im Sinn von


Planspielen ist es richtig, den Horizont


offen zu halten, denn die Energieszena-


rien präjudizieren ja nichts.» Es wäre je-


doch angemessener,man würde in den


Szenarien differenzierteLaufzeiten je


nachWerk unterstellen. Denn es sei ein


Unterschied, ob man von Beznau spre-


che oder von Gösgen oderLeibsta dt.


Realistischer sei ohnehin, dass sich der


Weiterbetrieb der AKW mit demAuf-


bau der Erneuerbaren bald nicht mehr


lohne und sie deshalb früher abgestellt


würden. «Man wird erkennen,dass es die


60 Jahre gar nicht braucht», sagt Nipkow.


DerReaktorBeznau1geht bereits in sein 51.Betriebsjahr. CHRISTIAN BEUTLER / NZZ


«Mit der Zeit steigt die Gefahr für Unfälle»


Der SP -Energiepolitiker Roger Nordmann kritisiert die längere Betriebsdauer für AKW


Herr Nordmann, Atomkraft könnte in


der Schweiz länger eineRolle spielen


als erwartet: Das Bundesamt für Energie


sieht für Atomkraftwerke neu auch ein


Szenario mit 60- statt 50-jährigen Lauf-


zeiten vor.Was halten Sie davon?


Formell gibt es im Gesetzkein Datum


für den Atomausstieg, der Bundesrat hat


immer von einer maximalen Betriebs-


dauer von 50Jahren gesprochen.Eine län-


gere Laufzeit würde aber gleich mehrere


Risiken bergen. Mit zunehmendemAlter


wird eine Maschine unzuverlässig – das


gilt fürAtomkraftwerke genauso wie bei-


spielsweise für eine Lokomotive. Mit der


Zeit steigt die Gefahr für Unfälle.Aber


nicht nur das:Auch dieVersorgungs-


sicherheit ist irgendwann nichtmehrge-


währleistet.Fällt ein ganzes Atomkraft-


werk aus, ist der Einbruchgravierender


als bei einer dezentralen Stromerzeugung.


Andererseits bliebe für die Umstellung


auf erneuerbare Energien mehr Zeit.

Die Atomkraft als Brückenenergie zu

nutzen, scheint doch sinnvoll.


So verschiebtman das Problemnur.In

bestehende Atomkraftwerke zu inves-

tieren, ist nicht zielführend und zudem

teurer, als erneuerbare Energien aus-

zubauen.

Bei einem zu schnellen Atomausstieg

besteht die Gefahr einerVe rsorgungs-

lücke.Womöglich müsste man Strom

aus demAusland importieren.


Sie habenrecht: Wenn man nicht in die


Förderung erneuerbarer Energien inves-


tiert und darauf hofft,dass der Markt das


Problemregelt, besteht diese Gefahr tat-


sächlich.Das Ziel soll natürlich sein, den


Strombedarf imJahresschnitt durch in-


ländische Produktion zu decken. Dieser


wird in denkommendenJahren wegen


der Dekarbonisierung von Gebäuden


undVerkehr wieder zunehmen. Eine wei-


tere Herausforderung sind die starken


Schwankungen in der Energienutzung


zwischen Sommer undWinter. In der kal-


ten Jahreszeit wird mehr Strom benötigt,


etwa für den Betrieb vonWärmepumpen


oder Elektroboilern.


Was müsste man denn Ihrer Ansicht

nach tun?


Das weitaus grösstePotenzial sehe

ich in der Solarenergie. In meinem

neuen Buch «Sonne für den Klima-

schutz» habe ich einen Solarplan für

die Schweiz unter besonderer Be-

rücksichtigung derWinterproblema-

tik skizziert. Ich bin überzeugt, dass

man 80 Prozent derVersorgungslücke,

die durch denWegfall der Atomener-

gi e und durch den steigenden Strom-

bedarf entsteht, mit Solarstrom ab-

deckenkönnte. Heute ist dieWasser-

kraft die wichtigste Stromquelle der

Schweiz.Da die geeigneten Gewässer

jedoch bereits genutzt werden, ist eine

grosse Steigerung nichtrealistisch. Die

Photovoltaik ihrerseits ist nur für 3,

Prozent des jetzigen Bedarfs verant-

wortlich. Ihr Anteil wächst jährlich um

ein halbes Prozent, das liesse sich aber

einfach beschleunigen.

Die Betreiber von Atomkraftwerken

müssen jährlichBeträge in den Still-

legungs- und den Entsorgungsfonds

zahlen. Diese wurden nach einer 50-jäh-


rigen Laufzeit berechnet.Wirdsich mit


den neuen Energieperspektiven etwas

daran ändern?


Die ganzen Spekulationen dienen mei-


nes Erachtens einemeinzigen Zweck:

Die AKW-Betreiber wollen ihre Bei-

träge in dieFonds kürzen.Dafür leisten


die Energiekonzerne schon seit gerau-


mer Zeit Lobbyarbeit. Setzen sie sich

durch, erhöht sich das Risiko, dass am


Ende die Steuerzahler dieRechnung

für die Entsorgung des nuklearen Ab-


falls bekommen.


Interview: LindaKoponen


Roger Nordmann


Energiepolitiker


und Waadtländer


SP-Nationalrat


NZZ


In der Schweiz


dürfen Kernkraftwerke


betrieben werden,


solange die Atom-


aufsichtsbehörde


Ensi den Betrieb


als sicher einstuft.

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