Neue Zürcher Zeitung - 02.10.2019

(singke) #1

12 MEINUNG & DEBATTE Mittwoch, 2. Oktober 2019


Der Kindergarten


ist besser als sein Ruf


Kindergarten und Unterstufe haben sich stark angenähert – bald dürften auch die Lehrkräfte


dieser Stufen denselben Lohn erhalte n. Anstatt den «Ch indsgi» noch mehr zu verschulen, soll te


die Schule nun aber verstärkt vom Kindergarten lernen.Von Lena Schenkel


Gingen Sie, werte Leserin,werter Leser, noch in die


«Gvätterlischuel» oder schon in den «Chindsgi»?


Ab gesehen von einer ungefähren Generationen-


zuschreibungdes Sprechenden offenbaren diese


Mundartausdrücke für den Kindergarten auch des-


sen gesellschaftlichen Stellenwert. «Erwachsene,


die sich spielend zu Kindern herablassen»,erläutert


das Schweizerische Idiotikon denAusdruck «gvät-


terle». Das ZürichdeutscheWörterbuch ergänzt:


«etwas ohne Ernst betreiben». Beim verniedlichen-


den «Chindsgi» schwingt ebenfalls wenigAchtung


vor dieser Institution mit. Nichtviel besserergeht


es den dort tätigenFrauen – die Unterrichtenden


sind zu 98 Prozent weiblich –, die in denKöpfen


vieler ein bisschenBauklötze stapeln,Papierstrei-


fen kleistern oder mitFingerpuppen eine nette Ge-


schichte erzählen.


Dabei sind diese Aktivitäten alles andere als tri-


viale Beschäftigungstherapie.Vor allem das freie


Spiel ist in diesem Alter essenziell für vielfältige


Lernprozesse. BeimBauklötzestapeln trainieren


Kinder ihre motorischenFähigkeiten und ihrräum-


liches Denken. Sie lernen, sich selbständig zu be-


schäftigen, oder stärken im Spiel mit anderen ihre


sozialenKompetenzen. Die Schule, genauer die


Unterstufe, könnte vielvon diesen im Kindergar-


ten praktizierten spielerischen und individualisier-


ten Lernformen profitieren.


Bildungspolitisch ist derWert des Kindergartens


längst anerkannt, und es ist wissenschaftlich erwie-


sen,wie wichtig die ersten Lebensjahre für die kind-


liche und schulische Entwicklung sind. Besuchten


Zürcher Kleinkinder diese«Vorschule» lange frei-


willig, ist sie seit 2008 obligatorisch. Seither ist der


Kindergarten in dieVolksschule eingegliedert und


markiert den Eintritt in die Bildungslaufbahn. Die


traditionelle Kindergarten-Trias «Betreuung, Erzie-


hung, Bildung» – die bereits in der Bezeichnung der


ersten,1830 in Zürich eröffneten Schweizer«Klein-


kinderschule» mitschwingt – hat sich allerdings zu-


nehmend hin zur Bildung verlagert. Dieeinstigen


«Gvätterlitanten» und Kindergärtnerinnen fördern


die Kinder professionell, erlernen ihren Beruf an


einer Hochschule und heissen heute offiziell Lehr-


personen für den Kindergarten.


Vo llwertigerTeil der Schule


Durch diese Integration ist der Kindergarten for-


mell näheran di ePrimarschule gerückt. Seit zehn


Jahrenkönnen sich angehende Lehrerinnen und


Lehrer in Zürich gleichzeitig für die Kindergarten-


und die Unterstufe ausbilden.Eine Grundstufe, wie


sie Schulgemei nden in Bern, Luzern, Glarus oder


Appenzell fakultativ führen dürfen, lehnte Zürich


2012 ab. Seit denVersuchen mit dieser hat der Kin-


dergarten in Zürich die Scheu vor der Schule aber


etwas verloren;so wurde etwa das Schreib- undRe-


chenverbot aufgehoben.


Im interkantonal harmonisierten Lehrplan 21 er-


lebt die Grundstufe seit letztem Schuljahr insofern


ein Revival, als die beiden Kindergarten- und die


ersten beiden Primarschuljahre zusammen den ers-


ten von drei Lernzyklen bilden.Im Zyklus 1 sind be-


stimmte gemeinsameKompetenzen definiert, wel-


che die Kinder dort lernensollen. So sollen sie an


dessen Ende zum Beispiel imFach Deutsch Buch-


staben undLaute verbindenkönnen oder imFach-


bereich Mathematik Begriffe wie grösser/kleiner


oder am meisten / am wenigsten verwenden.


Auf demPapier ist der Kindergarten also ein


vollwertigerTeil der Schule, und die Kindergärtne-


rinnen sind vollwertige Mitglieder der jeweiligen


Schulteams. Ganz anders präsentiert sich das Bild,


das eine kürzlich von der Zürcher Bildungsdirektion


veröffentlichte Situationsanalyse der Stufe zeichnet.


Die wissenschaftliche Untersuchung von zwanzig


Kindergärten, kombiniert mit einer Umfrage unter


allen Kindergärtnerinnen, zeigt: Der Kindergarten


ist in der ZürcherVolksschule bis heute einFremd-


körper geblieben, sowohl systemisch als auch päd-


agogisch und oftauchräumlich. Die Lehr- undFach-


personen auf Kindergartenstufe sind auch bei glei-


cher Ausbildung schlechterentlöhnt als ihre Kolle-


gen der Unterstufe und arbeiten nicht systematisch


mit diesen zusammen.


Dass die Bildungsdirektion nun Kindergärtnerin-


nen mitkombinierterAusbildung eine Lohnklasse


höher einstufen und damit Primarlehrern gleichstel-


len will, ist ein wichtiger erster Schritt. Angesichts


des Lehrermangels auf dieser Stufe ist es dringend


notwendig, den Beruf attraktiver zu machen – hof-


fentlich zunehmend auch für Männer. Unschön ist


freilich, dass zwei Drittel der Kindergärtnerinnen


vorerst leer ausgehen würden, weil sie überkeine


kombinierte oder garkeine Hochschulausbildung


verfügen. Betroffen sind vor allem ältere und er-


fahrene Lehrkräfte, die ihreAusbildungen noch an


Lehrerseminaren absolvierten. Dabei sollten ge-


rade sie möglichst lange im Beruf gehalten werden.


Bleibt zu hoffen, dass die geplante Nachqualifizie-


rung für sie so schlank ausfallen wird wie angedacht.


Unbestritten ist,dass die Anforderungen an

ihren Beruf hoch und in den letztenJahren noch


ges tiegen sind. Im Kindergarten treffen erstmals


alle Kinder eines Quartiers aufeinander und bil-


den eine sehr durchmischte Lerngruppe. Gemein-


sam ist den Kindern bloss ihr Alter, nicht ihr Ent-


wicklungsstand.Kommt hinzu: Sie werden auf-


grund des Schülerwachstums immer mehr, wegen


Unschön an der


lohnmässigen Gleichstellung


mit Primarlehrern ist, dass


zwei Drittel der Kinder-


gärtnerinnen vorerst leer


ausgehen werden, weil sie


über keine kombinierte


oder gar keine Hochschul-


ausbildung verfügen.


des harmonisierten Schuleintritts immer jünger

und wegen der Inklu sion immer heterogener.

Leichter wird dieAufgabe der Kindergärtnerin-

nen dadurch nicht, alle gleichermassen fit für die

Primarschule zu machen.

Jammern auf hohem Niveau


Doch sind auch die Anforderungen an die Pri-

marlehrer, mit denen sich die Kindergärtnerin-

nen stets vergleichen, gestiegen; ebenso an viele

andere Berufe, vom Pflegefachmann bis zurPoli-

zistin. Lohntechnisch jammern Kindergärtne-

rinnen auf hohem Niveau: In ihrer gegenwärti-

gen Lohnklasse sind auch Architektinnen, Ge-

richtsschreiber oder Psychologinnen eingereiht,

und mit einem Einstiegsgehalt von mindestens

76 000 Franken dürfen in der Privatwirtschaft

längst nicht alleBachelor-Absolventenrechnen.

Ganz zu schweigen von den deutlich schlechter

bezahlten Betreuerinnen imFrühbereich, die es

mit ähnlich heterogenen Kindergruppen und her-

ausforderndenArbeitsbedingungen zu tun haben.


Ausserdem sollten manche Kindergärtne-

rinnen vielleicht ihre Erwartungshaltung über-

denken.In Österreich gehen die Kinder mit zwei-

einhalb, in Deutschland mit dreiJahren in den

Kindergarten. Anstatt re signativ zu beklagen,

was die Kinder beim Kindergarteneintritt mit

vier alles noch nichtkönnen,könnten sie es ihren

konstruktiv handelndenKolleginnen gleichtun

und Spiel- und Lernumgebungen sowie Didak-

tik den veränderten Bedingungen anpassen.Das-

selbe gilt freilich für Primarlehrerinnen und Pri-

marlehrer, die sich bewusst sein müssen,dass die

Kinder heute beim Schuleintrittjünger und mit-

unter unreifer sind.

Entsprechend wichtig wäre es, dass sich Kin-

dergärtnerinnen mit Primarlehrern – und ge-

nauso übrigens mit Kleinkindbetreuerinnen oder

anderenFachkräften imFrühbereich – austau-

schen.Dadurch verbesserte sich das gegenseitige

Verständnis für die Anforderungen der jeweili-

gen Stufen.Das wiederumerl eichterte den Kin-

dern und ihren Eltern den Kindergarten- und

den Primarschuleintritt.Laut dem neuen Moni-

toring-Bericht findet eine solcheKooperation

noch zu wenig oder zu informell statt. Die Bil-

dungsdirektion plant deshalb folgerichtig ein

entsprechendes Schnittstellenprojekt.

Trotz diesen notwendigen Annäherungen


sollte der Bildungsaspekt im Kindergarten nicht


übermarchen. Die bereits bei der Grundstufen-


diskussion geäusserte Befürchtung,dass sich die


Leistungslogik der Schule auf den Kindergarten


überträgt, erweist sich mit Blick auf dieKompe-


tenzorientierung desLehrplans 21 als nicht g anz


unbegründet.Von der Betreuungs- und Erzie-


hungsaufgabe des Kindergartens ist dort nämlich


keine Rede. Dabei solltenPädagogik und Didaktik


des Kindergartensgenauso in dieVolksschule ein-


fliessen wie bisher umgekehrt.Vereinfacht gesagt:


Statt den Kindergarten weiter zu verschulen,sollte


die Schule spielerischer und kindgerechter werden.


Dies gilt es besonders bei der geplantenVer-


schmelzung derAus- undWeiterbildungen der


beiden Stufen zu beachten. Der Kanton will näm-


lich nicht nur diekombinierteAusbildung stär-


ken, sondern auch diereine Kindergartenausbil-


dung abschaffen.Das ergibt im Hinblick auf die


gemäss Lehrplan zu vermittelndenKompetenzen


Sinn, die sich die Stufen des ersten Zyklus teilen.


Es dürfte auch den Lehrermangel abschwächen,da


die Unterrichtenden flexibelauf beiden Stufen ein-


gesetzt werdenkönnen.


Doch es birgt die Gefahr einer weiterenAkade-


misierung des Berufs, da der prüfungsfreie Zugang


zur Kindergartenausbildung mit einemFach- oder


Diplommittelschulabschluss künftig nicht mehr


geplant ist. Obwohl der Kanton damit Bestrebun-


gen auf Bundesebene nachkommen möchte, wird


das in Zürich noch zureden geben. Zumindest die


höherenAusbildungskosten betreff end würde die


Grundstufe quasi durch die Hintertür eingeführt.


Umso wichtiger istes, dass Politikerinnen und


Kindergartenlehrpersonen auf die Chancen der


nächsten Integrationsetappe fokussieren und


auf mehrWertschätzung für diese Eingangsstufe


pochen. Schliesslich sollte auch die Gesellschaft


anerkennen,dass es nicht per se schlecht sein muss,


etwas spielerisch und ohne Ernst zu tun. Dann darf


der Kindergarten im positiven Sinn ein idyllischer


Tollgarten bleiben, an den sich künftige Schüler-


generationen hoffentlich nichtals «Zyklus 1» er-


innern werden.

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