Mittwoch, 2. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 25
Der Immobilienmarkt
spaltet Hongkongs Gesellschaft
Die Regierung hat dazu beigetragen, dass sich nur noch wenige Menschen eine Wohnung leisten können
MATTHIAS MÜLLER, PEKING
Der Hongkonger Immobilienmarkt ist
ausser Rand undBand: Die Preise stei-
gen ins Unermessliche.Vor rund einem
Jahr wurden für einen 12,5 Quadratme-
ter grossenParkplatz 760000 $ bezahlt.
Seit achtJahren trägt Hongkong den un-
rühmlichenTitel, weltweit jene Stadt zu
sein,in der es gemessen am Einkom-
men für die Bevölkerung am schwie-
rigsten ist, ein Eigenheim zu erwerben.
Daher können sich weiteTeile der Mit-
telschicht eine solche Investition kaum
noch leisten.
Grossen Anteil am Missstand hatdie HongkongerRegierung. Sie hat mit
ihren Eingriffen in denImmobilien-
markt der einstigen britischenKolonie
eine Situation geschaffen, die weltweit
ihresgleichen sucht.DieWarteschlangen
werden immer länger, wenn es darum
geht, an eine der begehrten staatlichen
und dank finanzieller Unterstützung
halbwegs erschwinglichenWohnungen
zu kommen. Und wer eine Immobilie
kaufen will, muss viel Geld haben. Der
Wohnungsmarkt gilt denn auch als das
grösste politische,soziale sowie wirt-
schaftliche Problem derFinanzmetro-
pole und spaltet die Gesellschaft immer
mehr – in den seit Monaten andauern-
den Aktionen der jungen Demonstran-
ten gegen dieRegierungschefin Carrie
Lamspiegelt sich auchihr Unmut über
die unhaltbaren Zustände.
Geringere Aufstiegschancen
Dies war nicht immer so. In derVergan-
genheit haben sich zahlreiche Hongkon-
ger Familien am Immobilienmarkt mit
den Jahren stetig verbessernkönnen.
Viele von ihnen lebten zunächst in staat-
lichenWohnungen, bevor sie in subven-
tioniertesWohneigentum umzogen. Mit
den Jahren war es ihnen dann möglich,
am freien Markt eineImmobil ie zu er-
werben. Dadurch war der sozialeAuf-
stieg vor rund vierJahrzehnten noch
leichter zu bewerkstelligen als heute,
wie Statistiken zeigen. Damals hatten
annähernd die Hälfte jener Haushalte
im Alter zwischen 20 und 65Jahren, die
in ö ffentlichenWohnungen lebten, ein
Einkommen, das über dem Median lag;
dabei handelt es sichum eine statistische
Kennziffer, die eine Liste vonWerten in
zwei gleich grosse Hälften teilt.
2016 verfügte jedoch nicht einmalmehr jeder fünfte in einer öffentlichen
Wohnung lebende Haushalt zwischen
20 und 65Jahren über ein Einkommen,
das über dem Median lag. Die Zahl der-
jenigen, die sich aus eigener Kraft eine
private Immobilie leistenkönnen, wird
mangels finanzieller Möglichkeiten
immer kleiner.Die einst bestehenden
Chancen einesAufstiegs am Hongkon-
ger Immobilienmarkt gehören praktisch
der Vergangenheitan.
Die Entwicklung treibt den an derUniversity of HongKong lehrenden
Ökonomen RichardWong um. Es exis-
tiert eineTrennung zwischen jenen, die
eine privateImmobilie besitzen, und
dem Rest, dieWong als «have-nots» be-
zeichnet. Es handelt sich um diejenigen
Hongkonger, die sichkein Eigentum
leistenkönnen und die in den vergan-
genen Jahren nicht von den kräftig ge-
stiegenen Immobilienpreisen profitiert
haben.Wohnungen sind imPortfolio der
Hongkonger der wichtigsteVermögens-
wert – wenn sie denn eine besitzen.
Die Abgehängten, die sich keineeigene Immobilie leistenkönnen, versu-
chen, in einer staatlichen und dank den
Zuschüssen halbwegs finanzierbarenWohnung unterzukommen. DieWarte-zeitwirdjedochimmerlängerundbeläuft
sich inzwischenauf mehr als fünfJahre.
ZudieserEntwicklungtragendieDemo-
grafie sowie falsch gesetzte Anreize der
Hongkonger Regierung bei. So wird die
Gesellschaft in der einstigen britischenKolonieimmerälter.LautoffiziellenSta-
tistikenhatdieZahlderHaushalte,deren
Mitglieder 65-jährig und älter sind, zwi-
schen 2013 und2017 um 83 000 zuge-nommen. 2016 lebten mehr als40% die-
ser älteren,oft aus nur ein oder zweiPer-
sonen bestehenden Haushalte in öffent-
lichenWohnungen. Deshalb muss diejüngere Generation immer länger aufeinen der begehrten Plätze warten.
ZudemlassensichimmermehrHong-
kongerEhepaarescheiden.Hatteeszwi-
schen1976 und1995 annähernd 85 000
Scheidungen gegeben, erhöhte sich die-
ser Wert zwischen1996 und 2015 um280% auf mehr als 323000.Auch diese
Ent wicklung macht sich am Markt füröffentlicheWohnungen bemerkbar. Inder Regel bleiben dieFrauen mit ihrem
Nachwuchs nach den Scheidungen inden Wohnungen. Die Männer dürfensich umgehend wieder in dieWarte-listen einschreiben. DieRegierung be-strafteinsolchesVerhaltennicht.Parallel
zu dieser Entwicklung gibt es in Hong-
kong auch immer mehrWiederverheira-
tungen.1991 belief sich deren Anteil an
den Hochzeiten auf 11,5%. EinViertel-
jahrhundert später betrug er annähernd
35%.Auch diese neuenPaare drängen
aufdenstaatlichenWohnungsmarktund
lassen sich in den Listenregistrieren.
Wohnungsbau hält nichtSchr itt
Die Statistiken zeigen, dass sich deutlich
mehr schlechter qualifizierte Hongkon-
ger scheiden lassen als solche mit einer
gutenAusbildung. Zudem trennen sichImmobilienbesitzer seltenerals Paare,die in öffentlichenWohnungen leben.Die Folgen hat auch die heranwach-sende Generation zu tragen.ImmermehrJugendlichekommen aus zerrütte-
ten Familienverhältnissen und wachsen
ineinemärmlichenUmfeldauf,weilviele
Scheidungskinder undFamilien aus der
Unterschicht in staatlichenWohnungen
leben. Eine solch prekäre Umgebung ist
für den sozialenAufstieg hinderlich,weil
es an positiven Gegenentwürfen fehlt.
Insgesamt hat sich zwischen 2006 und
2016 die Zahl der Haushaltein Hong-
kong um 280 200 erhöht. DerWoh-nungsbau hielt mit dieser Entwicklung
jedoch nicht Schritt. DieLast muss vor
allem der privateWohnungsmarkt tra-gen, weil dieRegierung abermals fal-sche Anreize gesetzt hat.Personen, die
in staatlichenWohnungen oderin sub-
ventioniertem Eigentum leben, ist esnicht gestattet,ihre Räumlichkeiten an
Nicht-Familienmitglieder unterzuver-mieten – Letzteren bleibt also nur derprivateWohnungsmarkt: Zwischen 2006
und 2016 kamen annähernd zwei Drittel
der neuen Haushalte in privaten Woh-
nungen unter.Die starke Nachfragehat jedoch den Preis in diesem Markt-
segment weiter in die Höhe getrieben.
Die privaten Immobilienentwicklerhaben in den vergangenenJahren aufden beschränktenFinanzierungsspiel-raum ihrerKundenreagiert. Die neu er-
stellten privatenWohnungen sind–im
Gegensatz zu den öffentlichen – klei-ner als bis anhin.Dadurch steigt für die
Wohnungssuchenden der Anreiz, sichum öffentlicheRäumlichkeiten zu be-werben, und dieWarteliste verlängertsich abermals.
Abhilfe in fünfzehn Jahren
Die mit wenig Empathie gesegneteRegierungschefinLam hat zumindest in
ihrenReden das Problem erkannt undwill in denkommendenJahren mehrBaufläche zurVerfügung stellen. Eineöstlich des internationalen Flughafensgelegene künstliche Insel mit einer Flä-
che von 1000 Hektaren soll einVor-zeigeprojekt werden. Dort sollen bis zu
260 000 Wohnungen entstehen, wovon70% staatlich sein werden.Das Projekt
wird die Probleme jedoch nicht kurz-fristig lindern. DieBauzeit soll fünfzehn
Jahre betragen und nach Berechnungen
der Regierung 624 Mrd. HK-$kosten,was umgerechnet 80 Mrd.Fr. entspricht.
Kritiker halten das Projekt für viel zu
teuer und für unnötig, weil drei grosse
Immobilienentwicklerbisherunbebaute
einstigelandwirtschaftlicheNutzflächen
in den NewTerritories mit einem Um-
fangvon859HektareninihremPortfolio
haben. Die Entwicklung dieses Gebiets
wäre deutlich schneller und billiger zubewerkstelligenals die Schaffungeiner
künstlichen Insel, lautet derVorwurf.
Die Regierung steht jedoch auchwegenihrerPolitikderVergabevonBau-
land in der Kritik. Die privaten Immo-
bilienentwickler müssen für die Flächen
in einemAuktionsverfahren bieten. Er-
haltensie den Zuschlag, müssen sie den
gesamten Betrag direkt bezahlen. AlsFolge wird ihr finanzieller Spielraum im
LaufeinesJahresimmergeringer,undsie
werden es sich gut überlegen,ob si e bei
weiterenAuktionsverfahren überhaupt
nochteilnehmenwollen.ImHinblickauf
den Bau dringend benötigter weitererImmobilien ist dies eine schlechte Nach-
richt. DieRegierung hat für das Zusam-
menspiel von Angebot und Nachfrageoffenbarkein Verständnis.
Weiterer Bericht,Seite 3
Der26-jährige IngenieurJohnWai leb tbei seinenEltern ,weil er sichkeine eigeneWohnung leisten kann. THOMAS PETER / REUTERS
Rom will Plastik
statt Papier
Italiens neue Regierung leitet
finanzpolitischen Kurswechsel ein
ANDRESWYSLING,ROM
Mit ihrer mittelfristigenFinanzplanung
versucht die neue Regierung Conteden Schaden auszubessern, den die alte
Regierung Conte angerichtet hat. Siesendet ein Signal an die Märkte, dassItalien wieder ein verlässlicheres Um-feld für die Wirtschaftstätigkeit bie-tet als in letzter Zeit.FinanzministerRoberto Gualtieri unterstrich bei derPräsentation seiner Zahlen, dass in Ita-
lien einKurswechsel beginnt.Allerdings
brauche es Zeit, um diesen zu vollzie-hen, setzte er hinzu.
Budgetdisziplinversprochen
In zähenVerhandlungen haben sich die
neuenRegierungspartner – neben denCinque Stelle derPartito Democratico
und weitere Parteien der linken Mitte –
darauf geeinigt, dass auf eine Erhöhung
der Mehrwertsteuer verzichtet wird.Eine solche hatte bisher praktisch alsunvermeidlich gegolten,sie würde aber
der allgemeinenWirtschaftsentwicklung
einen neuenDämpfer versetzen, nach-
dem Italien im laufendenJahr schon in
die Rezession zu rutschen drohte. Nun
hofft man ohne Steuererhöhung aufneuesWachstum. Um 0,6% soll gemäss
der frohgemuten Prognose derRegie-rung imkommendenJahr das Brutto-inlandprodukt (BIP) steigen.
DenKonfrontationskurs mit Brüs-sel will die neueRegierung beenden.Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt,
dass dieser demLand mehr Schadenals Nutzen gebracht hat. Gualtieri ver-
spricht Budgetdisziplin nach denRe-geln der Europäischen Union.Für 2020
wird ein Haushaltdefizit von 2,2% desBIP angestrebt – dabei hofft man aller-
dings schon imVoraus auf Nachsichtin Brüssel, falls das Defizit dann dochüberschiessen sollte. Die öffentlicheVerschuldung soll imkommendenJahr
zunächst um ein halbes Prozent zurück-
gehen, von 135,7 auf 135,2% des BIP;bis 2022 soll sie auf 131,4% sinken. Zur
Verminderung der Schuldenlast beitra-
gen wird, dass die inzwischen erhöhten
Zinsen auf italienischen Staatsanleihen
sich wieder zurückgebildet haben.
30 Milliarden Euro fehlen
Mit alledem steht die Regierung voreiner Haushaltlücke von etwa 30 Mrd. €.
Finanzminister Gualtieri wird im Haus-
halt für daskommendeJahr genauervorrechnen müssen, wie er diese schlies-
sen will.Einsparungen durchzuset-zen, wird schwierig, zumal beiRentenoder bei Sozialausgaben für Arbeits-lose oderFamilien. Eher in Betrachtkommt die Streichung von Förder-beiträgen für die sogenannte «grüneWirtschaft» oder die Senkung von Ab-wrackprämienauf Altautos.Am ehesten setzt dieRegierung da-
her auf die Erschliessung neuer Ein-nahmequellen.Eine Massnahme stelltsie in denVordergrund: Erneut wird der
Kampf gegen Schattenwirtschaft undSte uerhinterziehung ausgerufen, undzwar auf breiterFront. Nicht mehr inerster Liniereiche Steuerbetrüger mitGeldverstecken in schillernden Steuer-
paradiesen stehen imVisier. Vielmehrsoll zunehmend der alltägliche Geld-verkehr sokontrolliert werden, dass er
nicht mehr amFiskus vorbeifliesst.
Barzahlungen unerwünscht
Plastik statt Metall oderPapier, so heisst
di eLosungin Rom. Kleinereund grös-
sere Barzahlungen mit Münzen undBanknoten sollen künftig steuerlichbestraft, alleTransaktionen mit Kre-ditkarten hingegen begünstigt werden.Beim Einsatz von Plastikgeld winktein Preisabschlag von 2 oder 4%; abge-
rechnet wirdüber die Mehrwertsteuer.
7Mrd.€ will dieRegierung zusätzlicheinnehmen,wenn sie auf dieseWeise die
Geldflüsse zunehmend lückenlos über-
wachtund besteuert. Die Pläne dazusind noch in Arbeit, die Angaben wider-
sprüchlich,die Prognosenüber dieWir-
kung umstritten.
Die Regierung hat
für das Zusammenspiel
von Angebot und
Nachfrage offenbar
keinVe rständnis.