Neue Zürcher Zeitung - 02.10.2019

(singke) #1

Mittwoch, 2. Oktober 2019 FEUILLETON 37


nicht enden wollende Ovation drückte


zugleich die Ablehnung von Robes-


pierres dunkler Erkenntnis aus, wo-


nach die Herrschaft derTugend nichts


sei ohne den Schrecken. In ihr verbarg


sich das seit demAuftauchen der frühen


Imperien gültige Grundgesetz der sozia-


lenSynthesis, wonach dieKohärenz poli-


tischer Grosskörper stets auch durch


Effekte phobokratischer Massnahmen


bedingt wird.


Moderner Antiliberalismus


Die weitere Entwicklung des demokra-


tischen Motivsim Europa des19.Jahr-


hunderts zeugte von der zunehmen-


den Entfremdung der neuen wenigen


(alias Grossbürgertum) und den alten


und neuen vielen (herkömmlichesBau-


erntum, moderneFabrikarbeiterschaft,


kl einbürgerliche Angestelltenwelt).


DieFraktionen der nachrevolutionä-


ren «Gesellschaft» traten sich künftig


nicht mehr alsAdel undVolk gegen-


über, sondern als dieReichen und die


Armen – oder, um mitVictor Hugo zu


sprechen, als die Zufriedenen und die


Elenden.


Es war die marxistische Bewegung,

die vonderzweiten Hälfte des19.Jahr-


hunderts an die Kriegserklärung der vie-


len gegen die wenigen auf ihreFahne


schrieb,wobei die vielen unter dem


«nom de guerre» Arbeiterklasse ange-


sprochen wurden (was fürWesteuropa,


erstrecht fürRussland eineFehlbe-


zeichnung war), die wenigen unter dem


ominösenTerminus Privateigentümer


von Produktionsmitteln.


Schon seit dem frühen19.Jahrhun-

dert steht die neue «Demokratie» unter


dem chronischen, von denFrühsozia-


listen zuerst artikulierten Verdacht,


nichts anderes zu sein als dieKonspi-


rationeiner kleinen wohlhabenden Min-


derheit gegen die übergrosse Mehrheit


der Unbemittelten, ja mehr noch, eine


ausbeuterische Koalition der unpro-


duktiven wenigen gegen die produkti-


ven vielen.


Reste diesesVerdachts haben sich

bis in dieFolkloren des Antiliberalis-


mus von heute erhalten.Freilich hat


sich imLauf des letzten halbenJahr-


hunderts das Gesamtbild zunehmend


umgekehrt.Nachdem man sich nolens


volens hat vergegenwärtigen müssen, in


welch hohem Mass der moderneReich-


tum alsResultat von innovationsgetrie-


bener und kreditbasierter Unterneh-


menskultur entsteht, fällt die Arbei-


terklassenromantik in sich zusammen



  • indes dasRessentiment gegen «die


Reichen» sich als eine langlebige Grösse


erweist.


InWahrheit ist es ein Grossteil der

vielen, der von der Kreativität der weni-


gen profitiert, wenn auch um den Preis


zunehmender Ungleichheit.Infolgedes-


sen enthüllt sich die aktuelle «Demo-


kratie» mehr und mehr als einSystem,


in dem dieoligoiihrenVorteil gegen-


über denpolloiausbauen – wenn auch


auf ganz andereWeise, als die älteren


Ausbeutungstheorien es unterstellten.


Aufs Ganze gesehen sind es die vie-


len, die von den innovativen Impulsen


der wenigen in historisch beispielloser


WeiseVorteileziehen.


Vor dem Hintergrund dieser Über-


legungen dürfte evident geworden


sein, dass dasWort Demokratie ein


intensives Pseudonym für die vielfäl-


tigen oligokratischen Strukturen dar-


stellt, die zumSystem moderner poli-


tisch vermittelterDaseinsvorsorge ge-


hören, ob sie sich nun im Lobbyismus


der Grossunternehmen verkörpern, in


den sklerotischenRängen derVolks-


parteien, in den Spitzen derVerwal-


tungsbehörden oder in den Schaum-


kronen massenmedialer Prominenz.


DerTendenz nach ist auch diePosition


der akademischen Linkspopulisten oli-


gokratisch verfasst, wenn sie vorgeben,


in ihren Schriften fänden die Sprach-


losen undAusgegrenzten der Gesell-


schaft zu ihremAusdruck. InWahr-


heit drängen die akademischen weni-


gen den stillen vielen ungefragt ihre


Dienste auf – und diessogut wie nie


zu derenVorteil.


Es mag nicht überflüssig sein zu be-


tonen, dass das oligokratischeSubstrat


der Demokratien so gut wie nichts mit


dem karikaturalenTypus des Oligar-


chen zu tun hat, der seit wenigenJahr-


zehnten – als opportune Charakter-


maske desreichen Manns – zu einer


Adresse links- und rechtspopulisti-


scher, antielitistischer Hass-Erklärun-

gen deklariert wurde. Hier liegt eine

vom Mangel an Bildung bedingteVer-


wechslung von Oligarchie mit Pluto-

kratie vor, indes dieWahrnehmung der


effektiven oligokratischen Dispositio-

nen sich bis auf weiteres nur in einem


diffusen Unbehagen an den pseudony-


misierten demokratischenRealitäten

zu artikulieren vermag.


Fiskalischer Ausnahmezustand


Die Souveränitätskompetenz neuzeit-

licher Staaten gründet in ihrerFähig-

keit, dieRenitenz der Staatsangehöri-

gen, zumal der Grossen und Eigensin-

nigen unter ihnen, gegen die Zumutung


von Steuern zu domestizieren. Dieses

Kunststück psychopolitischer Alchemie


geht bis in die Anfänge neuzeitlicher

Staatsbildungen zurück.


Von Beginn der vorgeblich «absolu-


tistischen»Regime im16.Jahrhundert

an gelang es den Monarchen und ihren


Schatzmeistern, ihren Vasallen und

Untertanen dieVorstellung aufzuprä-

gen, sie seien für dieFinanzierung per-


manenterResidenzen, stehender Heere


sowiekontinuierlicherVerwaltung und


Rechtspflege tributpflichtig. Hierbei

ist zu beachten, dass die Institution des


Tr ibuts, vormals nur auf unterworfene

fremdeVölker anwendbar, nach und

nach auf die eigene Staatsbevölkerung


angewandt wurde.


Thomas vonAquin hat nicht um-

sonst schon imJahr 1274 dasParado-

xon formuliert, Steuern seien eine Art

von «legalemRaub».Wurden im Mittel-


al ter Steuern nur vonFall zuFall und

aufgrund aussergewöhnlicher Notstände


eingeworben, entwickelten sie sich zwi-


schen dem15. und dem18.Jahrhun-

dert zu einer bleibenden Einrichtung,

die von derKollektivpsyche als ebenso


verhasst wie unumgänglich wahrgenom-


menwurde.


Die moderne Empfindungsart wird

von BenjaminFranklins imJahr 1789

notiertem Diktum zusammengefasst,

wonach es in dieserWelt nur zwei Dinge


gebe,die als sicher gelten dürfen: den

Tod und die Steuern. («Nothing in this


world can be said to be certain, but death


and taxes»: in einem Brief anJean-Bap-


tiste Leroy, 1789). An dem Bonmot ist

bemerkenswert, wie das Sterben- und

das Steuernzahlenmüssen mit einem

analogen Grad anResignation aneinan-


dergereiht werden. Mag man auch ver-


suchen, dem einen wie dem anderen aus


demWeg zu gehen, zuletzt siegt doch

immer die andere Seite.


Immer fehlt das Geld


Ernst Kantorowicz hat in seiner Studie


über «Die zweiKörper desKönigs» die


geistreiche Beobachtung festgehalten,

der neuzeitliche Staat und sein Steuer-


wesen seien aus derFiktion des «per-

manenten Notstands» hervorgegan-

gen – wo Staat ist, wie wir ihn seit weni-


genJahrhundertenkennen, dort ist stets


schon das Gespenst der Krise durch

Unterfinanzierung imRaum.


Die alteuropäische monarchische

Kontinuitäts-Formel «DerKönig ist tot,


es lebe derKönig» bezog sich auf impli-


ziteWeise immer auchauf die fixeIdee,


dass der verstorbeneKönig von seinem


«Fiskus» (wörtlich: «demKorb») über-


lebt würde – einAusdruck, der fürs Erste


den Privatschatz des Monarchen, später


die Staatskasse bezeichnete. DerFiskus


standsomit füreinKontinuum-Prinzip


jenseits derTr eue-Eide, die jeweils dem


lebenden Herrscher geschworen wor-

den waren.


Mit der Zeit stieg derFiskus – noch


vor den Armeen und denParlamen-

ten – zum Zentralorgan aller moder-

nen Staatlichkeit auf. Das europäi-

sche soziale Gedächtnis sollte nicht

vergessen haben, dass dieFranzösi-

scheRevolution aus einer Notmass-

nahme des Staats gegen seine exzes-

siveVerschuldunghervorgegangen war.


Als die Generalstände am1. Mai 1789


nach jahrhundertelangerPause zu ihrer


Versammlung inParis einberufen wur-


den,gab man sich aufseiten derRegie-


rung der naiven Idee hin, die «Gesell-


schaft» im Ganzen werde irgendwie

die Defizite der schuldenmachenden

Klasse auf sich nehmen und so dem

bestehendenSystem eineFortsetzung

in die Zukunftgewähren.


DerFortgang der Ereignisse verriet,


ein machthabenderBankrotteur wie

Louis XVI durfte nicht mit der Milde

der Gläubigerrechnen. Man hat bisher


zu wenig darauf geachtet, dass dieFran-


zösischeRevolution mit einer aus dem


Ruder gelaufenen Gläubigerversamm-

lung begann. DerRevolutionsabgeord-


nete Marc-AntoineLavie brachte das

GeschehenineinerRede vor der Natio-


nalversammlung1791 auf den Punkt:

«Wir haben dieRevolution nur deshalb


gemacht, um Herren über die Steuern

zu werden.»


Damit wurde expressis verbis er-

klärt, die eigentliche Pointe der

Revolution solle darin bestehen, alle

Stände der Nation in Steuerunterta-

nen zuverwandeln. Die Sièyessche

Formel, der Dritte Stand sei in sich

schon einekomplette Nation, bedeu-

tete aus dieser Sicht nicht viel mehr

als ein durchsichtiges Ablenkungs-

manöver. InWahrheit erwies sich die

Revolution als eine Operation zur

Einsetzung eines brachialenFiskal-

regimes hinsichtlich der steuerflüchti-


gen Stände: Umgehendkonfiszierte die


neue Nation die Kirchenvermögen und


verhökerte sie nach dem Prinzip des

Zuschlags an den Meistbietenden. Man


muss Edmund Burkes «Reflections on


theRevolution inFrance», 1790, lesen,


um ein zeitgenössisches Urteil über die


Ungeheuerlichkeit desVorgangs nach-


empfinden zukönnen.


Hier legte die neue Ordnung der

Staatsfinanzen ihre Herkunft aus der

Geste derKonfiskation «entfremde-

ten»Reichtums unumwunden offen.

Überdies beugte sie auch die vor-

malige Aristokratie imRahmen des

Machbaren in den Status von Steuer-

untertanen.Tatsächlich hatten die bei-


den ersten Stände im AncienRégime

den Tatbestand der systematischen

Steuervermeidung elegant und mit

königlicherDuldung erfüllt. Nach dem


grossen Umschwung machte der fiska-


lische Egalitarismus sich umso energi-


scher geltend.


Freilich sollte das breiteVolk nicht

nur wie gewohnt weiterhin bis an die

Grenze des Erträglichen besteuert wer-


den, es wurde auch in dieFunktion von


informellen Steuerfahndern einberu-

fen. Obschon praktisch jeder Betroffene


die passiverlittene Besteuerung hasste,


fanden sich viele dazu bereit, jene zu

denunzieren, denen es bisher gelungen


war, sich demVerhassten zu entziehen.


Man hat in der aktuellenPolitologie zu


wenig bemerkt, in welchem Mass die

zeitgenössischen «Gesellschaften» nach


wie vor auf dem Motiv des fiskalischen


Ressentiments beruhen, das nach 1789

unverzüglich vor allem gegen die Be-

sitztümer des ErstenStandes entfesselt


worden war.


Souveränitätdurch Steuern


Hieraus ergibt sich, dass der noble

Terminus Demokratie von Anfang an

immer auch als ein Pseudonym für die


fiskokratischenTatsachen fungierte. Da


der moderne Staat, in Ermangelung

ausplünderbarer Nachbarvölker oder

kolonialer Peripherien, nicht mehr

imstande ist,sichaus externer Beute

zu finanzieren (nur Napoleons frühe

Feldzüge waren beutebasiert und da-

her populär), ist er auf die fiskalische


Duldsamkeit der eigenen Bevölkerung


angewiesen.


DerenTonus wird in stetigen Zyklen


von Erhöhungen und Senkungen der

Steuern getestet.In der Gesamttendenz


zeigtsich, dass kritische Mehrheiten

sich mit der wachsenden Besteuerung

der kreativen Minderheiten einverstan-


den erklären, von deren ökonomischen


Resultaten die Mehrheiten sich weitge-


hend alimentieren.


Der Historiker Hagen Schulze hat

jüngst in einemAufsatz unter demTitel


«Diekeineswegs Goldenen Zwanziger

Jahre» notiert,«dass...derjenige souve-


rän ist, der...überdie Steuereinnahmen


verfügt».Sosehr dieThese denKern der


Dinge trifft, wäre sie doch um dieFest-


stellung zu ergänzen, dass ebenso sou-

verän ist, wer über dieFeststellung von


Währungsparitäten entscheidet, insbe-

sondere nach Inflationen.


Das DeutscheReich hatte während

des ErstenWeltkriegs bei seiner eigenen


Bevölkerung durch Zwangsanleihen

Kriegsschulden in Höhe von154 Mil-

liarden Mark angehäuft. Diese Summe


war im November1923 auf denWert

von15,4 Pfennig inVorkriegswährung

geschrumpft.«Fiskalischgesehen war so


der ErsteWeltkrieg der billigste Krieg,


der je geführt wurde.» (Hagen Schulze)


Er wurde aus deutscher Sicht nicht nur


von den Gefallenen mit ihrem Leben

bezahlt, sondern auch von den betro-

genen Gläubigern des deutschenFiskus


mit ihren Ersparnissen.


Zur spezifischen Qualität des

modernen demokratisch genannten

Staatswesens gehört unzweifelhaft

die seit dem19.Jahrhundert unüber-

sehbare Intensivierung des fiskokrati-


schenFaktors.Vorangetrieben wurde

dieser nicht zuletzt durch die Ent-

wicklung des Wohlfahrtsstaats bzw.

des Sozialstaats, im Übrigen auch des


Subventionenstaats, um für denAugen-


blick denRüstungsstaat nichtbeson-

derszubetonen.


Der deutsche GelehrteAdolfWagner


hatte dieseTendenz in seinem1860 for-


mulierten«Wagnerschen Gesetz» vor-

ausgreifend auf den Begriff gebracht, als


er die Unausweichlichkeit der progres-


siven «Ausdehnung der Staatstätigkeit»


statuierte; diese werde folgerichtig be-

gleitetvon einer analogenAusdehnung


der fiskalischen Eingriffe in das Bevöl-


kerungsvermögen.


Kolossale Ausmasse


Die Ironie desWagnerschen Gesetzes


zeigte sich darin, dass sein Urheber,

den man später unter Linksradikalen

als einen der Kathedersozialisten ver-


spottete, die Heraufkunft des moder-

nen Sozialstaats eher prophetisch anti-


zipiert als empirisch wahrgenommen

hatte. ZuWagners Zeit war dieser, an


den aktuellen Verhältnissen gemes-

sen, noch so gut wie inexistent. Über-


dies hielten sich die beiden stärksten

Schlachtrösser der modernen Fiska-

lität noch hinter dem Horizont ver-

borgen: die progressive Einkommens-

steuer zum einen,die universelleKon-


sumsteuer alias Mehrwertsteuer oder

Umsatzsteuer zum anderen.


Beide wuchsen imLauf des 20.Jahr-


hunderts zuRealitäten vonkolossalen

Ausmassen heran, mit einem gewissen

Übergewicht der Letzteren.Für beide

Kategorien gilt die Beobachtung,wo-

nach einkommens- undkonsuminten-

siverelative Minderheiten die einkom-


mens- undkonsumschwachen Mehrhei-


ten mittragen, ohne dass die Mehrheiten


von den effektiven Beiträgen der nicht


selten ironisch sogenannten Leistungs-

träger sich einenrealistischenBegriff

machen müssten.


Demnach lässt sich plausibel erklä-

ren, warum diereal existierendeFisko-


kratie unterdemPseudonym der Demo-


kratie sich heute mehr denn je einer be-


quemen Prosperität erfreut:Wenn schon


die Tätigkeit desFiskus im Allgemei-

nen von einer quasinatürlichen Un-

popularität begleitet wird, gewinnt sie

doch die Zustimmung der Mehrheiten,


sobald sie sich als das geeignete Mit-

tel erweist, die Schafe mit den länge-

renHaaren zu scheren.


Peter Sloterdijkist Philosoph. Sein Werker­


scheint bei Suhrkamp, alsLetztes«Poly­


loquien» und «Neue Zeilen und Tage» (beide


2018 ). Der obenstehende Essayist die ge­


kürzteund redigierteFassung eines Vortrags,


den Sloterdijk in einer Reihe der Carl­Friedrich­


von­Siemens­Stiftungzur Kriseder Demokra­


tiegehaltenhat.Die Vorträgesindunter dem


Titel «Die Zukunftder Demokratie: Kritik und


Plädoyer» in BuchformimBeck­Verlagerschie­


nen(mit Beiträgen u. a.von Herfried Münkler


und Dan Diner).


In Wa hrheit drängen


die akademischen


wenigen den stillen


vielen ungefragt


ihre Dienste auf –


und dies so gut wie nie


zu derenVo rteil.


Da der moderne Staat


nicht mehr imstande


ist, sich aus externer


Beute zu finanzieren,


ist er auf


die fiskalische


Duldsamkeit der


eigenen Bevölkerung


angewiesen.

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