36 FEUILLETON Mittwoch, 2. Oktober 2019
Leben wir in Demokratien? So heisst
es,und so ist es wohl auch.Das zeige
sich darin, dass dasVolk über sich selbst
herrsche, sagen wir gerne. Doch was wir
damit genau meinen, ist weniger klar, als
es auf den ersten Blick scheint. Dennbei
Lichte betrachtet hat das demokratische
Gleichheitspostulat einigeTücken: Es
sind auch in der Staatsform derVolks-
herrschaft stets einige wenige, die über
die vielen anderen herrschen. Und es
sind auch einige anderewenige,die das
Leben der anderen vielen zu wesent-
lichenTeilen mitfinanzieren.
DerAusdruck Oligokratiedeutet auf
einen von Anfang an so prägnanten wie
umstrittenen Grundzug modernerrepu-
blikanisch-demokratischerRegierungs-
systeme.Er bringt zumAusdruck, dass
dasKollektiv, das man dasVolk nennt,
immer schon einKompositum aus den
wenigen(hoi oligoi)und den vielen(hoi
polloi)darstellt.
Das starke Merkmal der modernen
Demokratien nach1776 und1789 zeigt
sich nun darin, dass die wenigen künftig
selbst aus den vielen «hervorgehen» sol-
len. Bertolt Brecht hat das in seinem Ge-
dicht «Paragraph eins» traurig-prägnant
formuliert: «Die Staatsgewalt geht vom
Volke aus. –Aber wo geht sie hin?»
In der alten Ständegesellschaft hat-
ten sich dieoligoiaus den Geburts-
wenigenrekrutiert, die sich ohne Um-
schweife diearistoi,wörtlich: die Besten
bzw. denAdel, nannten; zu ihnen gesell-
ten sich die wenigen aus Berufung hinzu,
die den Klerus bildeten. Beide Grup-
pen zusammen machten zur Zeit ihrer
Hochblüte maximal drei Prozentder
Gesamtpopulation aus. Als Abbé Siè-
yes1789 die Devise ausgab, der Dritte
Stand sei für sich allein eine «vollstän-
dige Nation», kam die Ahnung auf, wie
rasch die Abschaffung der wenigen
durch die vielen auf die Agenda einer
unerfahrenen Demokratie geraten kann.
Der populäreRefrain «les aristocrats à
la lanterne» deutetein seiner mordlusti-
genFröhlichkeit eine mögliche Rich-
tung der Entwicklung an.
Einer steht für 10 0000
Tatsächlich war in der dieser Ordnung
der Dinge dasAuftauchen einer Kate-
gorie von wenigen fürs Erste nicht vor-
gesehen.DierealenVerhältnisse sorg-
ten umgehend für besseresWissen: In
denrevolutionärenTurbulenzen zwi-
schen1792 und1794 trat zutage, wie
eine historisch neueForm vonWeni-
gen-Herrschaft ansRuder gelangte. Die
neuen wenigen an der Macht gingen in
derRegel aus parademokratischenWah-
len hervor, wobei sie die Gruppendyna-
mik derParteienbildung innerhalb von
nationalenVersammlungen bzw. Kon-
venten für sich ausnutzten, um über ihre
«Parteibasis» hinauszuwachsen.
Die logische Quelle der Oligokratie
warunverkennbar derpolitisierteVolks-
begriff, der durch Autoren wieRous-
seau und Sièyes inskollektive Bewusst-
sein implantiert worden war.Wenn die
politische Macht künftig nicht mehr von
Gottes Gnaden(de droit divin)ausgeübt
werdenkonnte, sondern durch ein Man-
dat jener integren Ganzheit, die von nun
an mit neuartigem Akzent «le peuple»
hiess, dann musste man über ein schlüs-
sigesVerfahren verfügen, wie derWille
des neuen Souveräns sich in den weni-
genkontrahierte,umdie Intentionen
der vielen so unverfälscht wie möglich
zu verkörpern.
Seither beruht das demokratische
System auf einer Art Mystik derReprä-
sentation. Sie nimmt dieVorstellung
einerVertretung durchVerdichtung für
sich in Anspruch. In modernen Gross-
populationen soll jeweils ein parlamen-
tarischer Abgeordneter imstande sein,
die Intentionen von 10 0000 Personen
zu «repräsentieren»; bei verfassung-
gebendenVersammlungen wächst die
Kondensation auf dasVerhältnis von
eins zu einer Million an.
Die wesentliche Problematik der
Vertretung vieler durch wenigekommt
aber erst jenseits der parlamentari-
schen Abbild-Beziehungen und deren
spezifischer Mystik zumVorschein. Es
war von Anfang an ein offenes Ge-
heimnis der«Volksherrschaft», dass es
in ihr eine Gruppe von wenigen gab,
die das postmonarchischeSystem um-
gehend zu ihren eigenen Gunsten zu
formen versuchten. Die neuenoligoi
trieben die pseudonymische Dynamik
der jungen Demokratie schon früh auf
die Spitze, indem sie von dem über-
raschendenVorrecht Gebrauch mach-
ten, sich jenseits aller förmlichen Dele-
gierung als Inkarnationen des«Volks»
zu präsentieren.
Und: 100000 Opfer
Jean-Paul Marat bot für diese Dele-
gations-Mystik das deutlichste Exem-
pel: Als unerbittlicher Agitatorrekla-
mierte er, der sich und sein Kampf-
blatt «denFreund desVolkes» nannte,
für seinePerson dasVorrecht, zugleich
das «Auge desVolkes» zu sein: In die-
ser Eigenschaft nahm erdieFähigkeit
in Anspruch, zu erkennen, wer es nicht
länger verdient habe, alsTeil desVolks-
körpers am Leben zu bleiben.
Zu Beginn seiner Mission meinte
Marat, dieRevolutionkönne mit der
Tötung von 500 Schädlingen am Ge-
meinwesen auskommen; gegen Ende
seiner blutrünstigen Selbsterregung
forderte der selbsternannteTr ibun bis
zu 10 0000 Opfer. Zugleich war Marat
nur einer von den neuen wenigen, die
sich selber alsKondensate oder In-
karnationen desVolksganzen insze-
nierten.
Es war die pseudonymische Dyna-
mik im Innersten der neuen politischen
Semantik,die es jedem Klub,jedem
Ausschuss, jeder Ortsgruppe des Deli-
riumsgestattete,sich selbst dasVolk,
die Nation, denKonsensus,die «volonté
générale» zu nennen, ohne jemals die
zurepräsentierenden Massen zu fragen,
ob sie sich in ihren selbstsendenden Ab-
geordneten wiedererkannten. Retro-
spektiven Schätzungen gemäss hätten
dieJakobiner,die mit ihremVerbal-
radikalismus denNationalkonvent vor
sich hertrieben, bei allgemeinenWahlen
imJahr1793, als derKopf desKönigs
unter der Guillotine fiel, kaum mehr
als drei Prozent der Stimmen auf sich
vereinigt.
Das Phänomen einer breiten und
glaubwürdigen Mehrheit demokrati-
schen Stils gab sein authentisches his-
torisches Debüt weder in denTurbu-
lenzen des14.Juli1789, die letztlich
eine Sache von quantitativ nicht sehr
bedeutsamen Mengen vonPariser Er-
regten blieben, noch bei derAufhebung
der Monarchie am 22. September1792,
als die Abgeordneten der «Convention
nationale» gegen die breiteVolksstim-
mung die Abschaffung der Monarchie
und die Proklamation derRepublik be-
schlossen. Sein entscheidenderAuftritt
vollzog sich bei denPariser Ereignis-
sen desJuli 1794.
Damals brachte eine Gruppe von
entschlossenen Deputierten der ge-
mässigten Linie – man nannte sie spä-
ter, im linken Lager zumeist mit ver-
ächtlicher Betonung, dieThermidoria-
ner – den Mut auf, das extrem-mino-
ritäreTerrorregimeRobespierres zu
beenden. Die Hinrichtung des «Unbe-
stechlichen» am 28.Juli 1794warver-
mutlich der letzte,möglicherweise auch
der einzige Moment in der Geschichte
Europas (von der allgemeinen Zustim-
mung zur Niederwerfung des Hitler-
Regimes im Mai1945 abgesehen), als
die wenigen und die vielen einesLan-
des sich nahezu ausnahmslos zu einer
gemeinsamen Überzeugung bekannten.
Zehntausende von Zeugen aller
Stände undParteien spendeten dem
Scharfrichter Sanson 15 Minuten lang
Beifall, als erRobespierre auf derPlace
de Révolution enthauptet hatte. Die
Wer befiehlt,
bezahlt nicht
Auch in der Volksherrschaft gebieten die einen über
die anderen. Die zwei wichtigsten Ausprägungen
der real ex istierenden Demokratie sind derzeit:
die Oligokratie und die Fiskokratie.
Sind sie zukunftstauglich?Von Peter Sloterdijk
Solange nur die Schafe mit den längeren Haaren geschoren werden,gehtesd er Mehrheit nie an den Kragen. BEAT BRECHBUEHL / FRANCA PEDRAZZETTI / KEYSTONE